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Titel: Brasilien – Die verhinderte Vendetta gegen Lula da Silva, die Geisel einer kriminellen Justiz-Vereinigung
Datum: 9. August 2019 um 11:51 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Am vergangenen Mittwoch, dem 7. August, wurde der seit 500 Tagen an der Regionalverwaltung der brasilianischen Bundespolizei im südbrasilianischen Curitiba inhaftierte Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva mit einer Hiobsbotschaft geweckt: Er werde in ein Zuchthaus für gewöhnliche Verbrecher in Tremembé, 150 km von der 12-Millionen-Metropole São Paulo entfernt, verlegt. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Die Entscheidung fußte auf einem Antrag der Bundespolizei, der von Bundesrichterin Carolina Lebbos in Curitiba aufgegriffen, bewilligt und an Richter Paulo Eduardo de Almeida Sorci vom Landesgericht São Paulo weitergeleitet wurde. Der Antrag der Bundespolizei ist nicht neu, doch Richterin Lebbos‘ auf Dringlichkeit hinwirkende Anordnung stimmte Medien und Justiz hellhörig.
Zum einen, weil nach der Nominierung Sergio Moros zum Justizminister Lebbos auf den Posten seiner Stellvertreterin aufstieg, und zum anderen, weil Landesrichter Sorci seine Nominierung ebenfalls Moro verdankt. Bei der angeordneten Überstellung Lulas handelten also zwei seiner engsten Vertrauten und es wirkte suspekt angesichts des seit knapp zwei Monaten andauernden Mega-Leaks mit der Image-Beschädigung des seit Januar 2019 amtierenden Chefs der Bolsonaro-Justiz und Scharfrichter Lulas.
Seit April 2018 belegt Lula keine eigentliche Zelle, sondern ein provisorisches 3 mal 5 Meter großes Schlafzimmer für transitreisende Polizisten, ausgestattet mit Bett, Schreibtisch, Fernsehapparat, einschließlich Badezimmer mit elektrischer Dusche. Der Raum befindet sich im vierten Stock der Regionalverwaltung und ist von anderen Zellen komplett isoliert. Realiter fristet Lula dort seit 16 Monaten eine Isolierhaft, die nur durch Besuche von Anwälten, Familienangehörigen und, bürokratisch aufwendig, zugelassene Gäste, zumeist Persönlichkeiten aus dem Ausland – wie SPD-Politiker Martin Schulz – unterbrochen wird.
Wenige hundert Meter vom Gefängnis entfernt errichteten allerdings schon am 7. April 2018 – dem Datum von Lulas Einlieferung – hunderte Anhänger der Arbeiterpartei (PT) und Aktivisten sozialer Bewegungen ein Protest-Zeltlager und eine Mahnwache, die den inhaftierten Ex-Präsidenten bei Sonnenaufgang mit „Guten Morgen, Lula!“ und bei Sonnenuntergang mit „Guten Abend, Lula!“-Sprechchören begrüßen, Besucher des Präsidenten empfangen und nachträglich interviewen.
Somit förderte das Zeltlager die Entstehung der rund um die Welt verbreiteten „Lula Livre – Frei Lula!“-Solidaritätskomitees und sein geräuschvolles Treiben rund um die Uhr brachte so manche konservativ gestimmte Anrainer auf die Palme und wirkt nach wie vor auf die wenige Meter entfernte Verwaltung der Bundespolizei als unbeliebter Störfaktor. Doch sämtliche Versuche, das Zeltlager mit juristischen Tricks zu verbieten, scheiterten bisher. Bis der dafür gar nicht mehr zuständige, ehemalige Richter Moro und seine Stellvertreterin Lebbos sich etwas einfallen ließen.
Lulas Ermordung einkalkuliert? Die Schikane vor dem halbfreien Vollzug
Die Verlegungs-Entscheidung erreichte den Altpräsidenten vier Wochen vor Erreichung eines Sechstels seiner Haftstrafe ab dem Zeitpunkt der Festnahme, womit er nach brasilianischem Recht den Wechsel in den halboffenen Vollzug beantragen und ab 7. September 2019 das Gefängnis tagsüber verlassen dürfte. Allerdings wurde er zuletzt in einem anderen Fall ebenfalls zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt. Wird das Urteil in der zweiten Instanz bestätigt, werden beide Strafen addiert und Lula bleibt hinter Gittern. Lulas Anwälte gaben eine scharfe Erklärung ab, in der sie auf ihren Antrag zur Aussetzung der Verlegung hinwiesen und stattdessen die mehrmals beim Obersten Gerichtshof (STF) mit Habeas Corpus begründete sofortige Freilassung forderten. Ihr jüngster Habeas-Corpus-Antrag wurde allerdings am vergangenen 25. Juni abgelehnt.
Lulas Partei, die PT, erklärte ebenfalls mit scharfen Worten an die Adresse Moros und der Staatsanwaltschaft, der ehemalige Präsident sei einwandfrei unschuldig, mit einer gerichtlichen Farce verurteilt worden und hätte gar nicht in Curitiba vor Gericht gestellt werden dürfen, da Moro selbst zugegeben habe, dass die Anklage gegen Lula nichts mit den Korruptionsermittlungen gegen den Petrobras-Konzern zu tun hatte, ergo auch nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen durfte, jedoch von Moro sozusagen aus politischen Gründen an sich gerissen, genauer: gesetzwidrig usurpiert wurde.
Bar überzeugender Beweismittel wurde der Altpräsident am 24. Januar 2018 von Moro zu 9 Jahren Haft und nachträglich im Revisionsverfahren vom TRF-4-Bundesgericht in Porto Alegre wegen angeblichen Besitzes eines Penthouses zu 12 Jahren und einem Monat Gefängnis verurteilt. Mit Beschluss des Obersten Appellationsgerichts STJ vom April dieses Jahres wurde die Verurteilung aufrechterhalten, die Strafe jedoch auf 8 Jahre, 10 Monate und 20 Tage Haft herabgesetzt, von denen Lula am kommenden 7. September ein Sechstel abgesessen und somit Anrecht auf partiellen freien Vollzug hätte.
In einem Land, in dessen Gefängnissen Insassen-Aufstände mit Dutzenden von Toten seit Jahren auf der Tagesordnung stehen, stieß die angedrohte Verlegung Lulas nach Tremembé – zumal in eine Zelle mit mehreren, sogenannten „gewöhnlichen“ Verbrechern, darunter Totschlägern und Mördern – selbstverständlich auf breite Empörung der Öffentlichkeit, schien der Entschluss doch einen Anschlag auf das ehemalige Staatsoberhaupt in Kauf zu nehmen, wenn nicht gar auf zynische, kriminelle Weise zu fördern.
Der Rachefeldzug der Rechtsradikalen in der Justiz
Warum sollte der frühere Präsident also jetzt verlegt werden?
„Nun, das Ding ist so offensichtlich, dass es kindisch wirkt. Weil (die Einsatzgruppe) Lava Jato (Autowaschanlage) von den von ihr begangenen Gesetzesbrüchen in die Enge getrieben wird. Und ohne Beweise verurteilt, ist Lula Sergio Moros größte Trophäe. Was sollte die Verlegung bezwecken? Erstens, die Bolsonaro-Anhängertruppe in den sozialen Netzwerken mobilisieren. Lula ist immer noch der Name, der ihre bestrafungssüchtige Libido am meisten reizt. Sprechen Sie den Namen Lula aus und jede Form von Hass scheint beschworen“, kommentierte Brasiliens populärer Radio- und Zeitungs-Kolumnist Reinaldo Azevedo, ein ehemaliger Verbündeter, jedoch zum Erzfeind Moros mutierter, liberaler Journalist, der mit The Intercept das gigantische Leak über die kriminellen Machenschaften der politischen Justiz teilt.
Doch der Coup gegen Lula hatte eine zweite Adresse zum Ziel: den Obersten Gerichtshof (STF). Seine Loyalität sollte getestet werden. Der Hohe Richter Edson Fachin wirkte als Berichterstatter des PT-Antrags zur Vermeidung der Verlegung. Also wollte Lava Jato wissen, ob „Fachin immer noch einer von uns” ist, wie es in einer geleakten Äußerung von Lulas Hauptankläger Deltan Dallagnol nach einem Treffen mit dem Richter hieß, der sich nach den Intercept-Enthüllungen von seinen Kontakten zu den Rechtsradikalen um Moro und Dallagnol mit einer kämpferischen Erklärung „zum Schutz des Rechtsstaats“ absetzte.
Die Konfrontation zwischen politisierter Staatsanwaltschaft und dem STF schwelt bereits seit 2018, als der Hohe Richter Gilmar Mendes – ein einstiger Gegner Lulas – die Praktiken Moros und der von ihm de facto manipulierten Staatsanwaltschaft auf die Tagesordnung des Plenums setzte. Im Januar 2019 erreichte die Auseinandersetzung ihren Höhepunkt, als Mendes die Einsatzgruppe Lava Jato der Staatsanwaltschaft als „Keim einer geplanten Diktatur“ und einen „Haufen von Crétins“ beschimpfte.
Als Revanche bemühte sich die Einsatzgruppe der Staatsanwaltschaft in Curitiba, Daten und Informationen über Richter Gilmar Mendes zu sammeln, mit dem Ziel seiner Verdächtigung und gar seiner Amtsenthebung. Unter Führung von Lulas Hauptankläger Deltan Dallagnol durchwühlten Staatsanwälte und Assistenten Aktenberge von Entscheidungen und Urteilen des Richters, um ihn zu „überführen“. Sie gingen aber noch weiter. Sie planten, Ermittler in der Schweiz von angeblichen Korruptionshandlungen Mendes‘ zu überzeugen, um in den Besitz vermuteter Beweismittel der schweizerischen Justiz, also „Munition“ gegen den Richter, zu gelangen.
Das ganze Vorgehen extrapolierte nicht nur die engen verfassungsmäßigen Befugnisse der Staatsanwaltschaft, sondern war gesetzeswidrig und mit kriminellen Absichten angesetzt. Die Strategie gegen Richter Mendes wurde über Monate hinweg in Gesprächen der Staatsanwälte auf der Text-Übermittlungs-Plattform Telegram diskutiert und von einer anonymen Quelle The Intercept Brasil zugespielt, der die geleakte Verschwörung vor wenigen Tagen zusammen mit der spanischen Tageszeitung El País veröffentlichte.
Am vergangenen 7. August fand nun das High Noon statt: Mit 10 gegen eine einzige Stimme lehnte der Oberste Gerichtshof Lulas Verlegung ab. Das demokratische Brasilien atmete zwar auf, doch der Endkampf ist noch nicht ausgestanden: die Entlassung und Anklage Moros und Dallagnols.
Titlebild: Helissa Grundemann/shutterstock.com
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