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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Die Entwicklung des Neoliberalismus aus der Perspektive Deutschlands – Die Nachkriegszeit
Datum: 10. August 2019 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Ideologiekritik, Markt und Staat, Neoliberalismus und Monetarismus, Strategien der Meinungsmache, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Heute ist der Neoliberalismus ein Projekt der radikalen Umwälzung der menschlichen Ordnung unter rein ökonomischen Kriterien, das sich zwangsläufig auf staatliche Maßnahmen stützen muss. Marco Wenzel zeichnet für die NachDenkSeiten in einem ausführlichen Fünfteiler nach, wie der Neoliberalismus seinen Siegeszug antreten und in Deutschland Fuß fassen konnte.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Der Zweite Weltkrieg
Wie alle Kriege hatte auch der Zweite Weltkrieg wirtschaftliche Ursachen. In den USA hatte ein ungezügelter Finanzkapitalismus durch Spekulationen an der Börse zum Schwarzen Freitag und zum Zusammenbruch der Wirtschaft geführt. Diese Welle schwappte auf Europa zurück. Besonders Deutschland war infolge der Reparationszahlungen, die der Versailler Vertrag dem Land auferlegt hatte, schwer davon betroffen. Als nun die USA auch noch die Rückzahlung ihrer Kredite verlangte, traf es die deutsche Wirtschaft ins Mark.
Die Reaktion der Politik beiderseits des Atlantiks auf die Krise waren harte Sparmaßnahmen und Kürzungen der Sozialleistungen, unterm Strich alles Maßnahmen, die die Krise noch verschärften. Die Wirtschaft brach gänzlich zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg ins Unerträgliche, Hunger und Verzweiflung breiteten sich aus. In den Vereinigten Staaten konnte Roosevelt als neu gewählter Präsident aber ab 1933 die USA durch seine Politik des New Deal aus der Krise führen. Die Staatsausgaben und die Löhne wurden erhöht, Arbeitsbeschaffungsprogramme wurden aufgelegt, erste Ansätze eines Sozialstaates wurden geschaffen und um weiteren Spekulationen das Wasser abzugraben, wurde das Trennbankensystem eingeführt.
In Deutschland dagegen setzten die sich immer rascher abwechselnden und ratlosen Regierungen der Weimarer Republik weiterhin auf Sparmaßnahmen und bildeten damit den Nährboden für den braunen Sumpf, der den Menschen rasche Genesung versprach und ihnen anfangs auch brachte. Allerdings nur für seine arischen Anhänger, alle anderen blieben auf der Strecke. Zudem trug die Großindustrie eine erhebliche Mitverantwortung am Aufstieg und an der Machtübernahme Hitlers, was nach dem Krieg nicht gerade zu ihrem guten Ruf beitragen sollte. Und so kam es zur Katastrophe.
Kriegsende
Ohne D-Day und die Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 wäre Europa nach Kriegsende wahrscheinlich sozialistisch geworden. Denn Hitlerdeutschland war zum Zeitpunkt der Landung der Alliierten bereits militärisch besiegt und die rote Armee rückte unaufhaltsam nach Westen vor. Die Kapitulation Deutschlands war nur noch eine Frage der Zeit, ob mit oder ohne zweite Front. Das wussten auch die USA und die Entscheidung zum aktiven Eigreifen in Europa dürfte von der Angst hergerührt haben, zu spät zu kommen und der Sowjetunion allein das Feld überlassen zu müssen.
In der Tat hatten die USA schon Jahre vor 1945 Kontakte zu Widerstandsgruppen innerhalb als auch außerhalb Deutschlands. Sie bevorzugten dabei die konservativen, bürgerlich-liberalen Kreise. Denn es ging um die Frage, wie ein Europa nach Hitler aussehen sollte. Für die USA war dabei stets klar: Das System sollte erhalten bleiben, nur ohne die Nazis. Und auch Deutschland sollte dabei wieder eine Rolle spielen. So lange die Alliierten unter Führung der USA aber nicht auf dem Festland verankert waren, durfte Hitler auf keinen Fall gestürzt werden. Es musste erst sichergestellt sein, dass nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches prowestliche, prokapitalistische Kräfte an die Macht kommen würden (vgl. Artikel von Werner Rügemer).
Denn sonst bestand, so befürchteten die Alliierten, die akute Gefahr, dass Europa „rot“ werden könnte. Das „Ende der Geschichte“, das die Bourgeoisie nach dem Zusammenfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes im Jahre 1990 frühzeitig bejubelten, wäre dann schon 1943-44 gekommen. Nur unter anderem Vorzeichen.
Aber auch das muss hier gesagt werden: Ein „rotes“ Europa war auch nicht im Interesse der sowjetischen Stalinbürokratie, die die Macht in der Sowjetunion unter kommunistischem Vorzeichen usurpiert hatte und die dann befürchten musste, ihre Macht wieder an die Arbeiterklasse abgeben zu müssen. Auch sie sabotierte jeden Widerstand gegen Hitler, sobald er von links kam. Es ist kaum ein Zufall, dass Stalin die Kommunistische Internationale, die 1919 auf Initiative Lenins gegründet worden war und die sich als Ziel die proletarische Weltrevolution auf die Fahnen geschrieben hatte, gerade 1943 von Stalin überraschend und ohne Begründung aufgelöst wurde. Warum, ist heute klar: die proletarische Weltrevolution stand nicht mehr auf der Agenda der Sowjetbürokratie. Der eigene Machterhalt und die damit verbundenen Privilegien waren wichtiger geworden als die Interessen des internationalen Proletariats. Weder auf die Unterstützung der USA noch auf die der Sowjetunion konnten die linken Widerstandskämpfer während des Krieges demnach zählen.
Welches System?
Es ist zweifellos dem Eingreifen der Amerikaner und der Präsenz ihrer Truppen in Deutschland zu verdanken, dass nach Kriegsende die Entscheidung, welches Gesellschaftssystem in Westdeutschland entstehen sollte, zugunsten einer Marktwirtschaft fiel. Diejenigen jedoch, die über Sozialismus oder Kapitalismus im Nachkriegsdeutschland nach dem verlorenen Krieg entscheiden sollten, waren nicht die Deutschen selbst. Die USA hatten Interesse daran, dass Europa als Handelspartner wieder auf die Beine kam und Deutschland sollte laut ihrer Planung, trotz seiner Schuld am 2. Weltkrieg, wieder fester Bestandteil dieses Europa werden. Denn wem hätte ein geknechtetes Deutschland genützt, ein Land, das in Europa keine wirtschaftliche Rolle mehr spielen würde?
Nein, weder sozialistisch durfte Westdeutschland werden, noch durfte es nur eine unbedeutende Agrarnation im Herzen Europas werden, so das Kalkül der Amerikaner. Wozu zu exorbitante Reparationsforderungen führen, das hatte der Versailler Vertrag ja zur Genüge offengelegt. Eine Volkswirtschaft kann nur Reparationszahlungen leisten, wenn es auch Außenhandelsüberschüsse erzielt. Denn von wo soll das Geld für Reparationen denn sonst herkommen, wenn nicht aus der Wirtschaft? Man musste aus amerikanischer Sicht auch Deutschland, Krieg hin oder her, wieder auf die Beine helfen und es auf die Seite des kapitalistischen Westens ziehen. Und auch als Frontstaat gegen den Ostblock war Deutschland unersetzlich. So entstand, nicht ganz so uneigennützig wie es meist den Anschein hat, der Marshallplan, ein Plan zur wirtschaftlichen Wiederbelebung von ganz Europa und damit nicht zuletzt auch ein Plan zur Eindämmung des Einflusses der Sowjetunion.
Aber die Deutschen hatten die verheerenden Auswirkungen des ungezügelten Kapitalismus seit der Weimarer Republik und der Nazizeit noch in frischer Erinnerung. Wenn Kapitalismus zum Faschismus mit all seinen Verbrechen führen konnte, sollte man dann den Kapitalismus nicht lieber ganz beseitigen? Der Kommunismus könnte die Menschheit vor einer Wiederholung der Katastrophe bewahren. Wäre jetzt nicht ein günstiger Zeitpunkt für den einen sozialistischen Neuanfang gekommen, jetzt, wo sowieso so viel in Trümmern lag und man alles eh neu aufbauen musste? Wenn schon Wiederaufbau, dann doch gleich richtig. Zumindest aber musste man dem Kapitalismus strenge Regeln auferlegen, damit es nie mehr so weit kommen konnte. Nie mehr Faschismus, nie mehr sollte die Menschheit nochmals dieses Leid erfahren. So entwickelte sich unter dem Einfluss und auf Druck der Amerikaner das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Kapitalismus ja, aber so, dass alle davon profitieren würden. Ein Kapitalismus ohne Exzesse sollte es werden.
Im zweiten Weltkrieg waren die größten Widerstandskämpfer meist die Kommunisten und die Sozialisten gewesen. Sie genossen nach Ende des Krieges große Anerkennung in der Bevölkerung. Ihre Parteien gingen aus dem Krieg gestärkt hervor und formierten sich jetzt neu. Jetzt, unmittelbar nach Kriegsende, nach einem Krieg, den letztendlich das Kapital angezettelt hatte, waren ihre Anhänger der Sowjetunion durchaus zugetan und mussten bei der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus erst einmal davon überzeugt werden, dass der Kapitalismus auch der arbeitenden Klasse Wohlstand bringen konnte, wollte man sie denn bei der Stange halten. Ihre bisherigen Erfahrungen mit dem kapitalistischen System, zuletzt in seiner faschistischen Ausprägung, wo die reaktionärste Fraktion des Kapitals an die Macht gekommen war, waren nicht gerade die besten gewesen.
Allerdings konnte, bei Lichte besehen, auch die stalinistisch geprägte Sowjetunion bei den breiten Massen kaum als Vorbild für eine gerechtere Gesellschaft herhalten. Stalin, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, hatte selber kaum weniger Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Kerbholz als der Leibhaftige, Adolf Hitler, selber. Die besten Genossen der Partei Lenins hatte Josef Dschugaschwili „Stalin“, der „Führer des Weltproletariats“, in den frühen dreißiger Jahren im Zuge der Moskauer Prozesse in einer Mordorgie als Verräter und Spione hinrichten lassen und zwar allein deshalb, weil sie an kommunistischen Idealen festhielten, ihn kritisiert hatten und damit seinen Machtanspruch gefährdeten. Von den Mitgliedern des ZK zu Lenins Zeiten lebten 1937 nur noch Stalin sowie Trotzki in der Verbannung in Mexiko. Alle anderen waren ermordet worden oder hatten Selbstmord begangen.
Stalin hatte aus reinem Machtkalkül noch 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, einen Pakt mit Hitler geschlossen, er hatte 1943 die Komintern auflösen lassen, gerade zu dem Zeitpunkt, wo sie am bitternötigsten gewesen wäre, er hatte in Deutschland in den späten 1920er Jahren eine Volksfront gegen Hitler verhindert und die Kommunisten gegen die Sozialdemokraten, die gerade jetzt, wo die SA marschierte, als „Sozialfaschisten“ und als Hauptfeinde des Sozialismus deklariert wurden, aufgehetzt und war damit mitverantwortlich für die Machtübernahme der Nazis 1933. Er hatte in den späten 1930er Jahren die internationalen Brigaden in Spanien verraten und die kommunistischen Parteien weltweit, angeschlossen an die Komintern, waren nur noch Befehlsempfänger der KPdSU. Internationale Arbeitersolidarität in der Praxis sieht anders aus, aber von internationaler Arbeitersolidarität hielt Stalin auch nicht viel. Vom Taktieren und Machtkalkül dagegen schon.
(Zum spanischen Bürgerkrieg siehe u.a: George Orwell: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg. ISBN: 9783257229196 sowie Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie, ISBN: 978-3-518-36895-4)
1945 gab es in der Sowjetunion Sowjets, Arbeiterräte, nur auf dem Papier. Die Partei regierte uneingeschränkt mit diktatorischen Mitteln und Oppositionelle wurden weiterhin entweder umgebracht oder nach Sibirien verbannt. Die Weltrevolution hatte die Sowjetbürokratie längst zugunsten der „Theorie des Sozialismus in einem Land“, mit der Sowjetunion als Vaterland des Sozialismus, aufgegeben. Die Weltrevolution hätte die stalinistische Bürokratie nicht nur überfordert, sie wäre ihrer Herrschaft sogar, weil unkontrollierbar, gefährlich geworden. Jetzt, nachdem die sowjetische Wirtschaft und die Rote Armee nach dem Krieg geschwächt waren, hätte Stalin ein sozialistisches Europa niemals kontrollieren können.
Im Gegenteil, er musste befürchten, dass seine Herrschaft und die Herrschaft der KPdSU dem ungestümen Verlangen nach direkter, sozialistischer, Sowjetdemokratie zum Opfer fallen würde und dass das „Vaterland des Sozialismus“ bei Ausbreitung des wahren kommunistischen Ideals bald nur noch eine untergeordnete Rolle in einer sozialistischen Welt spielen würde und andere, entwickeltere Länder die Führungsrolle in einer sozialistischen Welt übernommen hätten. Die Erhaltung des Status Quo lag im Interesse der Sowjetbürokratie, nicht die weltweite Ausbreitung des Sozialismus. Stalin verhandelte lieber, wie bereits vorher mit Hitler, mit den Westmächten über die Aufteilung der Beute, als die Arbeiterklasse zur Machtergreifung zu ermuntern und damit neue Fakten zu schaffen.
Der Wiederaufbau
Bereits Ende 1946 schlossen sich die britische und die amerikanische Zone zur sogenannten Bizone zusammen und gründeten 1947 den Wirtschaftsrat für das vereinigte Wirtschaftsgebiet. Nach der Währungsreform 1948 wurde die DM als neue Währung in der gesamten Trizone, also einschließlich der französischen Zone, eingeführt. Damit war der zukünftige Weg Deutschlands als ein in ein kapitalistisches und ein sozialistisches zweigeteiltes Deutschland in großen Zügen festgelegt. Im September 1949 wählte der Bundestag Konrad Adenauer (CDU) zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. 1949 wurden die beiden Staaten BRD und DDR gegründet.
Westdeutschland sollte damit im westlichen Verbund bleiben. Die Entscheidung dafür war von den Westalliierten gefällt worden, was allerdings auch dem Willen der meisten Westdeutschen entsprach. Kaum 5 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich die beiden Blöcke verfestigt und im zweigeteilten Deutschland standen sich nun zwei verschiedene Gesellschaftssysteme gegenüber. Der nun einsetzende Wirtschaftsaufschwung hat die Zustimmung der Bevölkerung Westdeutschlands zum neuen Staatssystem zweifellos gefördert. Zu bemerken sei noch, dass mit Österreich und Italien auch die beiden anderen Mitglieder der ehemaligen faschistischen „Achse Berlin-Rom“ im Westbündnis verblieben.
Zum Wiederaufbau des Landes und der Wirtschaft wurden alle Hände gebraucht. Der Krieg hatte viele Tote gefordert, meist junge Männer, deren Arbeitskraft jetzt fehlte. Die Wirtschaft erholte sich langsam wieder und die Arbeitslosigkeit sank stetig. Zehn Jahre nach dem Krieg war wieder Vollbeschäftigung erreicht, Entlassungen gab es kaum, die Betriebe waren froh, wenn sie überhaupt ihren Bedarf an Arbeitskräften decken konnten. Die Volkswirtschaften in ganz Europa erlebten einen fast ununterbrochenen Boom, mit jährlichen Wachstumsraten um die 5%, der von 1950 bis zum Jahre 1973 reichte und der die Wirtschaft zunehmend industrialisierte. Das stärkte die Gewerkschaften, die Arbeiter wurden wieder selbstbewusst und die Löhne stiegen regelmäßig. Mit den (Real)-Löhnen stieg auch die Produktivität, die Produktion und die Nachfrage. Die Betriebe konnten steigende Löhne zahlen und zahlten sie auch bereitwillig. Ein Konflikt mit der Arbeiterschaft hätte die gute Geschäftslage allzu sehr in Gefahr gebracht. Die Finanzmärkte waren damals ja noch reguliert, die Zuwächse kamen aus der Realwirtschaft. Das „Shareholder-Value-Prinzip“ gab es damals noch kaum, es zählte das Prinzip der Gewinnbeteiligung in den Betrieben. Der Druck der Finanzmärkte auf die produzierenden Betriebe entstand erst nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems.
In den Haushalten stieg die Nachfrage nach Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehern und Autos, alles Produkte, die die Arbeiterschaft sich jetzt leisten konnte und die zudem einen relativ hohen Produktionsaufwand erforderten. Die im Krieg zerstörte Infrastruktur wurde wiederaufgebaut und es wurden zudem überall neue Wohnungen gebraucht und auch gebaut, oft staatlich subventioniert. Überall entstanden so neue Arbeitsplätze.
In Deutschland entstand so der Rheinische Kapitalismus, der sich in einem auch international günstigen Wirtschaftsumfeld gut entwickeln konnte. Er war aufgebaut auf ein korporatistisches System zwischen Unternehmern, Staat, Gewerkschaften und Banken und fußte auf einer blühenden Nationalwirtschaft mit ständigen Wachstumsraten, die sowohl hohe Gewinne für die Unternehmen als auch steigende Löhne für die Arbeiterschaft ermöglichte. Zu diesem System gehörte unweigerlich auch die Tarifpartnerschaft.
1951 wurde die Montanunion gegründet. Mitglieder darin waren, neben Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten. Das Montanmitbestimmungsgesetz, das die Zusammensetzung der Aufsichtsräte und die Rechte ihrer Mitglieder regelte, räumte den Arbeitnehmervertretern paritätische Mitbestimmungsrechte ein. Arbeitnehmer und Arbeitgeber waren in den Aufsichtsräten in gleicher Anzahl vertreten und bei Kampfabstimmungen entschied ein zusätzliches neutrales Mitglied. Allerdings blieb das Montanmitbestimmungsgesetz auch einzigartig in Deutschland. Das Betriebsverfassungsgesetz, das 1952 in Kraft trat, sah die paritätische Mitbestimmung nicht mehr vor, die Kräfteverhältnisse hatten sich bereits verschoben. Lohnzuwächse waren der Arbeiterschaft und ihren Vertretern wichtiger geworden als Mitbestimmung, materielle Forderungen überwogen jetzt politische.
Zum Wirtschaftswunder gehörte auch die Westintegration (West)-Deutschlands, die einen ausgedehnten Handel mit dem Ausland ermöglichte. Die OEEC, später OECD genannt, war aus dem Marshallplan entstanden mit dem Ziel, den wirtschaftlichen Aufbau in ganz Europa zu koordinieren. Nach der Montanunion folgte 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit sechs Staaten, deren Gründungsmitglied die BRD bereits war, um Zollschranken abzubauen und freien Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr zu ermöglichen. Aus der EWG ist die EU entstanden.
1961 wurde die Berliner Mauer gebaut. Damit wurde auch der Zufluss von Arbeitskräften aus der DDR nach der neuen Bundesrepublik unterbunden. Die Teilung Deutschlands war damit für die folgenden 28 Jahre besiegelt, die Mauer war das Symbol dafür.
Die Neoliberalen
Gewissenlose liberale intellektuelle Marktradikale um den Österreicher Hayek und seinen Ziehvater Mises herum, deren Rezepte zur Lösung der Wirtschaftskrise bereits in der Weimarer Republik in die Katastrophe geführt hatten, krochen jetzt wieder aus ihren Löchern hervor und begannen, sich erneut zu formieren. Sie wollten ihre radikalen Wirtschaftstheorien als Weltanschauung durchsetzen. Freilich entsprachen ihre Ideen den Profitinteressen des Großkapitals, freilich behindern hohe Löhne und Sozialleistungen die Kapitalvermehrung und die Konzentration von Kapital in immer weniger, dafür aber umso größeren Konzernen. Aber sie sichern auch den sozialen Frieden. Die potenzielle Klientel für die neoliberalen Ideen bestand also durchaus schon damals beim Unternehmertum.
Aber so lange die Wirtschaft brummte und die Renditen stimmten, waren die Unternehmen an potenziellen Konflikten mit der Arbeiterklasse und damit auch an den Thesen der Liberalen nicht sonderlich interessiert. Auch waren die Großkonzerne damals noch stärker an die einzelnen Nationalstaaten und vor allem auch an die Realwirtschaft gebunden, zumal der Finanzmarkt auf Grund der Erfahrungen aus der Vorkriegszeit damals noch streng reguliert war. Wirtschaftlicher Erfolg musste sich auch in steigendem Wohlstand für die Bevölkerung niederschlagen. Der real existierende Sozialismus im Ostblock zeigte ja, dass eine Gesellschaft auch ohne Kapitalismus und Privatbesitz an den Produktionsmitteln bestehen konnte. Wollte der Kapitalismus, vor allem in Europa, überleben, so musste er beweisen, dass er es besser konnte und zu mehr Wohlstand führen würde als sozialistische Planwirtschaft. Keinesfalls durfte es den Arbeitern in der „Systemauseinandersetzung“ in der BRD im Vergleich zur DDR schlechter gehen.
Die Mont Pelerin Society
Obwohl die Empfehlungen von Hayek & Konsorten in der Nachkriegszeit nicht durchsetzbar waren, wollten sie nicht untätig auf ihre Chance warten. Um ihre liberalen Thesen trotz aller gegenwärtigen Schwierigkeiten als Weltanschauung durchzusetzen, rief der Österreicher Friedrich August von Hayek 1947 die liberalen Hardliner der Welt zu einer Beratung am Mont Pèlerin in der Schweiz zusammen. Mit von der Partie war von Anfang an der Amerikaner Milton Friedman, der später halb Lateinamerika mit seinen unseligen Theorien ins Unglück stürzen sollte. Sie gründeten die Mont Pèlerin Society (nachfolgend MPS) mit dem Ziel, sich untereinander zu vernetzen, um die Welt von ihren wirtschaftsliberalen Ideen zu überzeugen.
So trafen sie ihre Vorbereitungen für eine „bessere“ Zeit und begannen mit dem Aufbau von interdisziplinären Netzwerken aus Ökonomie, Politik, Philosophie usw. Auch die Medien als meinungsbildende Kräfte wurden in das System eingebaut. Das konnten sie gut, darin hatten sie Erfahrung. Und sie hatten gute Verbindungen zu den Eliten in aller Welt. „Die MPS ist das Gravitationszentrum für die Zirkulation neoliberaler Ideen und die Zentrale des „Agenda-Setting“. In ihr laufen die intellektuellen, organisatorischen und finanziellen Fäden zusammen. Die große Innovation der Think-Tank-Bewegung um die MPS ist, dass über sie sich der Neoliberalismus weltweit vernetzen kann…“ (Sebastian Müller, Der Anbruch des Neoliberalismus, 2017, ISBN 978-3-8537-416-4) Die MPS und ihre Gründung hat auch Stephan Schulmeister eingehend beschrieben. (Stephan Schulmeister 2018: Der Weg zur Prosperität, ISBN 978-3-7110-0148-1, S. 75 ff.)
Charakterlose Ideologen entwickeln abstruse Ideen
Der Markt regelt alles zum Wohl der ganzen Gesellschaft, aber nur, wenn man ihn dabei nicht stört, so die Thesen von Hayek und seinen Spießgesellen. Der Mensch sei intellektuell nicht in der Lage, die Wirtschaft zu planen und Wohlstand für Alle zu schaffen. Dafür sei die Welt zu komplex. Ohne Beschränkungen und fremde Einflüsse würde ein freier Markt von sich aus für Wohlstand sorgen. Der Staat müsse sich dafür nur aus allen wirtschaftlichen Aktivitäten heraushalten, seine Staatsbetriebe dem Privatkapital überlassen, seine Sozialprogramme einstellen und sich darauf beschränken, ausschließlich die Rahmenbedingungen und die Infrastruktur für die Entfaltung eines freien Marktes bereitzustellen. Das ermögliche dann einen freien Wettbewerb und das Verhältnis von Angebot und Nachfrage brächte dann, wie ein Naturgesetz, auf dem freien Markt den „richtigen Preis“ für alles hervor. Und der ist dann quasi gottgegeben.
Die vereinbarten Kapitalkontrollen von Bretton Woods im Jahre 1944 waren ihnen als Eingriff in die freie Marktwirtschaft ein besonderer Dorn im Auge (davon mehr weiter unten). Für ihre idealistische Sichtweise der Selbstregulierung der freien Märkte zweckentfremdeten die Neoliberalen nicht zuletzt auch den Begriff der „unsichtbaren Hand des Marktes“, der ursprünglich von Adam Smith stammt, der diesen Begriff aber in einem völlig anderen Kontext gebraucht hatte. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ soll nach der neoliberalen Lehre die Geschicke des Marktes auf wunderbare, ja göttliche Art und Weise hinter den Kulissen regulieren, und zwar viel besser als alle menschlichen Berechnungen es je könnten.
So wie Gottes Weisheit für die Menschen unermesslich und seine Wege unergründlich sind, so ist es im neoliberalen Lehrgebäude die Preisfindung des Marktes und hier stößt das neoliberale Lehrgebäude an die Grenzen zur Theologie. An der unsichtbaren Hand der Neoliberalen klebt, genau wie an der christlichen Lehre, viel Blut. Und genauso wie die römisch-katholische Kirche, trotz aller Lippenbekenntnisse, stets auf der Seite der Herrschenden gestanden hat, so steht auch die MPS fest an der Seite des Kapitals. Wenn die Armen leiden mussten, so war es Gottes Wille bei den Pfaffen, bei den Neoliberalen ist es der Wille des Marktes. Gegen beides kann man sich so wenig wehren wie gegen Sturm und Hagel.
Zu welch abstrusen Behauptungen die Mitglieder der MPs anhand solcher Postulate kamen, sei an dieser Stelle an drei Beispielen gezeigt:
Der Markt regelt alles. Der Leser merkt schon, auf welch „hohem“ wissenschaftlichen Niveau sich solche Theorien bewegen. Von Ethik ganz zu schweigen. Aber Ethik hat in der neoliberalen Wirtschafts-„Wissenschaft“ auch nichts verloren. „Wo der Markt mit unsichtbarer Hand lenkt und Nutzenfunktionen die Entscheidungen übernehmen, kann man die Moral einsparen“, bemerkt Stephan Schulmeister treffend.
Die nach dem Krieg in Deutschland praktizierte soziale Marktwirtschaft funktionierte gut. In den 60er Jahren standen die Zeichen auf Aussöhnung zwischen Arbeit und Kapital. Die Arbeiterschaft war ja durchaus auch an den Früchten des Aufschwungs in der Nachkriegswirtschaft beteiligt. So schien Europa, und Deutschland mittendrin, einer sonnigen, wirtschaftlich gesicherten Zukunft entgegenzugehen. Das Elend des Krieges begann in Vergessenheit zu geraten. Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der BRD, regierte bis zum Jahre 1963 und überließ die Wirtschaftspolitik weitestgehend seinem Finanzminister Erhard. Der ging als Vater des Wirtschaftswunders in die Geschichte ein. Aber der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands war weniger Erhard als den besonderen Nachkriegsumständen zu verdanken.
Titelbild: American Institute for Economic Research
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