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Titel: Ein deutscher Insider berichtet : Überleben in Russland – über Leben in Russland
Datum: 2. August 2019 um 8:38 Uhr
Rubrik: Interviews, Länderberichte, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Berichte aus Russland sind zumeist widersprüchlich, abhängig davon, welches Medium berichtet. In den großen Medien kann man regelmäßig vom andauernden wirtschaftlichen Niedergang – nicht zuletzt durch die Sanktionen – lesen, in manch alternativem Medium erscheint es als heile Welt. Es gibt vermutlich viele unterschiedliche Wahrheiten über dieses Land, das jedoch viele Medien-Mitarbeiter, die darüber schreiben, kaum kennen, und schon gar nicht aus längerem und fundiertem eigenem Erleben. Der Autor und Journalist Thomas Röper („Anti-Spiegel“) war seit 1991 jedes Jahr mehrfach in Russland unterwegs. Seit 1998 arbeitet und lebt er im Land. Mit ihm sprach in St. Petersburg Andrea Drescher.
Wie kamen Sie nach Russland?
Das ist eine lange Geschichte, die 1991 auch damit begann, dass ich Ende 1991 in die Sowjetunion ein- und 1992 aus Russland ausgereist bin. Der Fahnenwechsel fand ja über Silvester statt. 1991 konnte man in allen Medien über die Hungersnot in Russland lesen. Gemeinsam mit Freunden startete ich während meiner Ausbildung zum Bankkaufmann eine Hilfsaktion. Wir organisierten vier Container humanitärer Hilfe für Waisenhäuser und brachten diese dorthin. Daraus entwickelten sich die ersten Freundschaften. Unser Spendenkonto füllte sich immer wieder, sodass wir immer wieder Hilfsmaßnahmen durchführen konnten und mussten, es war nicht unser Geld und wir mussten es dem Zweck entsprechend verwenden. Als sich die Lage beruhigte und die Spendenbereitschaft nachließ, fuhr ich trotzdem weiter mehrfach im Jahr hinüber. Ich mag die Menschen, ihre Spontanität, Geselligkeit und Offenheit. Ganz besonders hatte und hat es mir St. Petersburg angetan. Da leben die Menschen…viel mehr als in Moskau, der Stadt, in der man arbeitet. Viele Moskauer fahren übers Wochenende nach St. Petersburg; Kultur, Nachtleben, Stadtfeste, es ist eigentlich immer sehr viel los.
Wie haben Sie die Jahre von 1992 bis 1999 unter Präsident Jelzin erlebt?
Auch wenn diese Zeit im Westen immer noch für Demokratie und Freiheit steht, waren es aus meiner Sicht Jahre der Anarchie und des Chaos. Es gab bittere Armut in der Bevölkerung. Keiner ging zur Polizei, wenn etwas passierte, denn die Polizei war korrupt und hat die Menschen noch zusätzlich ausgeraubt. Es kam vor, dass man nachts auf der Straße von Polizisten angehalten und durchsucht wurde. Nach der Durchsuchung bekam man sein Portemonnaie immer leer zurück. Wir haben unser Geld immer in den Strümpfen versteckt und nur kleine Beträge im Geldbeutel behalten. Die Streifenpolizisten haben jeden nach Gusto angehalten – sie haben aber ja auch nichts verdient, konnten von ihrem Gehalt nicht leben. Damals ging folgender Witz rum: „Ein Autofahrer wird angehalten und beschwert sich, dass er doch gar nicht zu schnell gefahren sei. Die Antwort des Polizisten lautet: Meine Kinder haben heute Hunger und können nicht warten, bis Du zu schnell fährst.“
Die Wirtschaft war komplett mafiös. Heute nennen wir die Profiteure dieser Zeit Oligarchen, aber im Grunde genommen waren sie Mafiosi. Betrug, Korruption, Morde – so wurden Vermögen gemacht, so entstand der Reichtum der heutigen Oligarchen. Diese Oligarchen haben in den 80ern meist selbst noch im Plattenbau gelebt, saßen dann oft zufällig an der richtigen Stelle und waren ausreichend skrupellos. So wurden sie entweder reich oder erschossen.
Haben Sie von der Gewalt etwas mitbekommen?
Gottseidank nur am Rande. Unsere Dienstwohnung – ich arbeitete damals in leitender Position für eine Versicherung – wurde bei einem Mordanschlag auf einen Bankier mit einer Bombe beschädigt. Es galt zwar nicht uns, sondern dem Bankdirektor, aber die Mafia-Kriege hat man auch als normaler Mensch miterlebt. Das war damals nichts Ungewöhnliches, es gab viele verrückte Geschichten. Es wurden ja auch Menschen erschossen, die man persönlich kannte. Das Land wurde mit brutaler Gewalt aufgeteilt.
Russische Mafia und hungrige Kinder – nur das schaffte es ja damals in die deutschen Medien. Leute von Spiegel TV saßen in einer deutschen Kneipe – dort trafen sich viele Deutsche – und warteten auf den nächsten Sensationsbericht. Sobald eine heiße Story bekannt wurde, waren sie auf der Straße. Und bei alledem wurde Jelzin als der große Demokrat gefeiert.
Wie haben Sie den Einfluss westlicher Konzerne in dieser Zeit erlebt?
Man machte Geschäfte. Es gab unzählige Abenteurer, die reich werden wollten. Die Oligarchen kontrollierten die Regierung und natürlich hat auch der Westen versucht, Einfluss zu nehmen. Bill Browder, der durch den Fall Magnitzki bekannt wurde, ist nur einer von vielen, die hier Geld abgeschöpft haben. Er war geradezu bescheiden und hat sich nur um ein paar 100 Millionen bereichert, andere haben Milliarden abgegriffen.
Die westlichen Konzerne haben da, wo sie konnten, Werte abgeschöpft. Mit PSA-Verträgen – also Production Sharing Agreements – sicherten sie sich Bodenschätze. Sie „investierten“ in die Anlagen und bekamen dafür Schürfrechte. Sie blähten die Kosten dann aber derartig auf, dass nur 20 oder 25% der Einnahmen beim Staat landeten, den Rest kassierten die Konzerne.
Und wie ging es Ihnen persönlich?
Ich habe gut gelebt. Von meinem Gehalt in leitender Position konnte ich mir alles leisten. Es gab ja alles, man musste es nur bezahlen können.
Man bekam alles – auch während der Staatspleite 1998?
Im Prinzip ja – nur eine Woche lang war es damals auch für mich schwierig, da die Läden leer waren. Ich habe einen ganzen Sonntag damit verbracht, eine Rolle Klopapier aufzutreiben. Obwohl ich über ausländische Währung verfügte.
Als der Staat – aufgrund der massiven Überschuldung – auf einmal „pleite“ war und es keinen Kurs mehr gab, zu dem man Rubel tauschen konnte, waren die Geschäfte leergefegt. Niemand wusste, zu welchem Preis er Waren nachkaufen musste. Als es nach gut einer Woche wieder einen Kurs gab, war alles fünfmal teurer geworden. Die Gehälter wurden aber nicht erhöht, sie wurden nicht einmal pünktlich gezahlt. Viele Menschen mussten bis zu einem halben Jahr auf ihre Gehälter warten. Damals kursierte ein Witz, der die Lage hervorragend auf den Punkt brachte. „Unterhalten sich zwei Direktoren. Sagt der eine zum anderen: Kommen deine Leute auch noch zur Arbeit, obwohl du sie seit Monaten nicht bezahlt hast? Antwortet der andere: Ja, alle – vielleicht sollten wir Eintritt nehmen.“
Wie gingen die Menschen damit um?
Es war für alle sehr hart; viele konnten sich kaum oder nur ganz einfach ernähren. Es war kurzfristig fast schlimmer als Anfang der 90er. Damals gab es wenig, es gab Lebensmittelkarten, es ging aber eher langsam bergab. 1998 kam die Krise für die normalen Menschen über Nacht – wir in der Finanzbranche hatten es alle erwartet. Wir bekamen unser Gehalt weiterhin in Dollar ausgezahlt und konnten nach dieser ersten Chaos-Woche normal weiterleben. Für den einfachen Russen wurde es richtig hart. Bei vielen Familien gab es nur Kartoffeln oder Nudeln, weil das Geld nicht für etwas anderes reichte. Die Kriminalität war wieder enorm hoch – sehr viel größer als heute. Das Land lag am Boden und kam erst langsam wieder in Gang. Und dieser Aufstieg ist für die Russen zeitlich eindeutig mit der Person Wladimir Putin verbunden.
Kann man sagen, dass die positive Wirtschaftsentwicklung mit der Präsidentschaft begann?
Definitiv. Ich versuche es mal mit einer stark vereinfachten Beschreibung – mit dem Thema lassen sich Bücher füllen. Als Präsident Putin an die Macht kam, hat er die Mafia in die Schranken gewiesen. Mancher Mafioso bekam einen Herzinfarkt. Die Oligarchen standen vor der Wahl: Entweder ihr zahlt korrekte Löhne und Steuern oder ihr bekommt ein Problem. Es war ja nicht möglich, die radikalen Privatisierungen der Jahre vorher rückgängig zu machen. Das hätte zu neuem Chaos geführt und dringend notwendige Investitionen aus dem Ausland aufgrund der Rechtsunsicherheit verhindert. Also zog man einen Strich unter das, was geschehen war, und pochte auf die konsequente Einhaltung der Regeln. Wer sich daran hielt, machte in Russland weiter sehr gute Geschäfte.
Mit der Beendigung der PSA-Verträge 2003 – was im Westen für großen Ärger sorgte – blieb dann auch endlich das Geld wieder im Land. Die westlichen Konzerne wurden nicht enteignet, ihnen wurde einfach die Einnahmequelle entzogen, die über rund 10 Jahre intensiv gesprudelt hatte. Man hatte die Investitionen sicher um ein Vielfaches bereits wieder hereinbekommen. 70 bis 80% der Einnahmen waren ja den Konzernen zugutegekommen, die keine neuen Ölquellen erschlossen, sondern nur Bestehendes modernisiert hatten.
Damit war Präsident Putin endgültig nicht mehr everybody’s Darling im Westen… aber in Russland wurde er immer beliebter. Nicht nur, dass es den Menschen wirtschaftlich spürbar besser ging – auch die Kriminalität ging zurück. Dass die Polizisten ihre angemessenen Gehälter regelmäßig ausgezahlt bekamen, hat dazu beigetragen, dass die Situation sich gedreht hat.
Wie verhält sich die Polizei denn jetzt?
Die Polizei wurde reformiert. Es gibt keine Willkür mehr wie in den 90er Jahren. Heute müssen Polizisten erklären, warum sie jemanden anhalten und befragen wollen. Sie müssen sich vorstellen und ihren Dienstausweis zeigen und begründen, warum sie zum Beispiel eine Ausweiskontrolle machen wollen. Sie müssen konkret sagen, was der Grund dafür ist, eine bestimmte Person nach dem Ausweis zu fragen. Dazu gibt es lustige Videos in Russland, da fast jeder Russe eine Kamera im Auto hat. Da wird auch gefilmt, wenn Polizisten jemanden wegen einer Geschwindigkeitsübertretung anhalten. Und manche Autofahrer machen sich einen Spaß daraus, ihre Rechte bis zum letzten auszureizen, bevor sie ihre Papiere vorzeigen. Da gibt es manch einen witzigen Dialog zu sehen.
Russische Polizisten sind heute aus meiner Sicht schon fast erschreckend höflich und zurückhaltend. Ich habe mal einer Schlägerei zugeschaut, bei der auch Polizisten anwesend waren. Sie haben die Streithähne schnell getrennt und dann sehr lange mit Engelsgeduld versucht, den aggressiven jungen Mann zu beruhigen und zu deeskalieren. Erst als alles nicht half, haben sie ihn ohne Gewaltausübung verhaftet: Hände auf den Rücken, Handschellen an und ab in den Wagen. Wer Großveranstaltungen wie Scarlet Sails in St. Petersburg beobachtet, bei denen Millionen Menschen auf der Straße sind, erlebt eine entspannte und freundliche Polizei. Es gibt Sonderkommandos, die parken in den Nebenstraßen, aber sie fallen nicht auf. Sie sind nur sofort da, falls es nötig sein sollte.
Zurück zur wirtschaftlichen Entwicklung – wie verlief diese in der „Ära“ Putin?
Eigentlich kontinuierlich positiv – mit „Dellen“ während der Finanzkrise und zu Beginn der Sanktionen. Aber wenn man sich das russische BIP anschaut: Es ging in steiler Kurve bergauf, nachdem Putin Präsident wurde, und das schlug sich in den Portemonnaies der Menschen nieder. Auch auf der Straße konnte ich das beobachten. In den 90ern sah man Wolgas und Ladas, die Nobelmarken waren die absoluten Ausnahmen der Reichen. Seit 2008 fuhren in St. Petersburg immer mehr KIAs, später kamen VW und andere westliche Fahrzeuge hinzu, da immer mehr Autofirmen aufgrund der gigantischen Importzölle begannen, Fabriken in Russland zu eröffnen. Nach und nach wurde St. Petersburg in Bezug auf Autos eine Großstadt wie jede andere.
Die Mittelschicht entwickelte sich ebenfalls sehr gut. In den letzten 20 Jahren hat Russland eine wachsende Mittelschicht zu verzeichnen, im Gegensatz zum Westen, wo diese immer dünner wird und immer mehr Menschen in Armut geraten. Das kann ich im eigenen Umfeld sehen. Fast alle Freunde, mit denen ich unterwegs bin – junge Leute ebenso wie Menschen meines Alters und auch ältere –, fahren ein bis zwei Mal im Jahr auf Urlaub. Ich rede von ganz normalen Menschen mit ganz normalen Jobs, nicht von ehemaligen Kollegen im Management der Finanzbranche.
Es gab Einbrüche während der Finanzkrise 2008 – waren diese heftig zu spüren?
Für Menschen, die die frühen 90er Jahre oder die Staatspleite 1998 mitbekommen haben, verlief die globale Finanzkrise 2008 eher entspannt. Natürlich gab es Rezession – wie überall. Die Firmen mussten Kosten senken, die Gehälter sanken. Die Wirtschaft hat „aufgeschrien“ – aber letztlich hat es nur wenige erwischt. Das war nicht vergleichbar mit den Krisen vorher, in denen alle massiv belastet waren. Darüber hinaus war es ein Weckruf, gegenzusteuern und das Land wirtschaftlich unabhängiger zu machen.
Von welchen Maßnahmen sprechen Sie?
Die Regierung sorgte dafür, dass Russland weitestgehend schuldenfrei ist, Russland hat kaum Staatsschulden. Die Währungsreserven lagen 2018 bei umgerechnet rund 468 Milliarden US-Dollar, in Deutschland unter 200 Milliarden. Auch die Goldreserven wachsen. In den letzten Jahren ist die russische Zentralbank der größte Goldkäufer weltweit. Seit den Sanktionen wurden die Maßnahmen nochmal deutlich verstärkt.
Waren die Folgen der Sanktionen 2013/2014 im Land stark zu spüren?
Nur kurzfristig. Letztlich haben sie sich sogar positiv auf die Entwicklung Russlands ausgewirkt. Ein typisches Beispiel ist der Schimmelkäse: als Antwort auf die Sanktionen gab es Gegensanktionen – die Lebensmittelimporte aus Europa wurden beschränkt. Es gab also keinen Schimmelkäse mehr. Heute kann Russland Käse exportieren – und die Russen haben gelernt, selbst Schimmelkäse herzustellen, den es früher gar nicht gab und er schmeckt ausgesprochen gut.
Aufgrund der Ukrainekrise hat sich Russland gezwungenermaßen weiter vom Westen abgekoppelt. Man hört nicht selten: „Danke, dass ihr uns sanktioniert habt, so waren wir endlich gezwungen, unsere eigene Produktion aufzubauen.“ Nach meinen Beobachtungen hat die Regierung unter Putin jahrelang mit Steuerförderung versucht, die Abhängigkeiten vom Öl- und Gasexport durch Diversifizierung in Industrie und Landwirtschaft zu verringern, aber nichts funktionierte. Dank der Sanktionen war man gezwungen zu handeln – und siehe da: In allen Bereichen geht es bergauf – und die Importe aus dem Westen sind immer weniger erforderlich.
Wirklich schmerzhaft waren eigentlich nur die Finanzsanktionen: die mittel- und langfristigen Finanzierungen fielen weg und mussten aus den Reserven finanziert werden. Der Verfall des Ölpreises auf 30$ führte zum Absturz des Rubels, aber das konnte man abwarten, da die USA ja selbst auf einen Mindestpreis von 50$ angewiesen sind, weil das Fracking-Öl und -Gas der USA in der Förderung so teuer ist, das ansonsten nicht rentabel wäre.
Russland hat aber auch daraus gelernt und plant meines Wissens – bei einem aktuellen Ölpreis von 60$ – seinen Staatshaushalt auf Basis eines Ölpreises von 40$. So ist man vor bösen Überraschungen gefeit. Die Finanzreserven werden konsequent weiter aus-, die Abhängigkeiten und Schulden konsequent weiter abgebaut. 2018 begann die „Entdollarisierung der Wirtschaft“. Das war keine Idee der Russen, aber man will sich absichern. Die Dollarbestände bei der Zentralbank wurden 2018 fast halbiert – und das geht weiter. Dafür wurde die Zusammenarbeit Richtung Osten – also mit China – deutlich ausgebaut. Mein Eindruck ist, die Russen wollen das nicht – aber sie müssen, weil die USA durch die Sanktionspolitik andere Länder dazu zwingen, sich Alternativen zum Dollar zu suchen. Ein Zitat von Putin, das meines Wissens kaum jemand im Westen kennt, drückt das sehr deutlich aus: „Die Amerikaner schießen sich mit ihrer Politik nicht ins eigene Knie, sie schießen etwas höher.“
Aus Ihrer Sicht ist die aktuelle wirtschaftliche Situation also positiv?
Arbeitnehmer haben aus meiner Sicht keine Probleme. Die Lage ist insgesamt stabil. Jeder meckert natürlich, dass er zu wenig Geld hat – aber alle meine Freunde planen ihren zweiten Urlaub. Last Minute in die Türkei steht hoch im Kurs. Man geht vielleicht nachts nicht mehr so oft auf Tour, aber fürs Auto, die Wohnung und den Urlaub reicht es. Normalverdiener kommen gut über die Runden.
Rentner sind in Russland – genauso wie in Deutschland – nicht so gut dran. Ich habe mal das Einkommen eines Rentners aus Hamburg mit dem eines Pensionisten in St. Petersburg verglichen. Nach Abzug aller Kosten sind die Einkommen in beiden Fällen gleich schlecht. Von 1.000 Euro Rente bleiben einem deutschen Rentner in einer Großstadt nach Abzug von Festkosten wie Miete, Versicherung, etc. ca. 200 Euro zum Leben, beim durchschnittlichen Rentner hier in Petersburg sind es ca. 180 Euro. Die Russen sind am Ende nicht schlechter dran – in den Städten zumindest. Die Rentenerhöhungen liegen immer über der Inflation, insgesamt ist die Armut von 50% auf 10% russlandweit gesunken. Natürlich gibt es Altersarmut auch in Russland, aber in Russland wird es besser, während es in Deutschland nur bergab geht. Gleiches gilt nach allem, was ich aus Deutschland höre, auch für die medizinische Versorgung. In Russland wurde 2018 das Renteneintrittsalter angehoben. In vier Jahren muss man als Frau mit 60 und als Mann mit 65 in Rente gehen. Dagegen wurde lautstark protestiert, wie man auch in den westlichen Medien lesen konnte. In Deutschland würde man sich vermutlich freuen, nicht mehr so lange arbeiten zu müssen. Da liegt das Renteneintrittsalter zukünftig ja bei 67.
Was in Russland gut funktioniert, ist die Familien- bzw. Kinderförderung. Man will die Demografie in den Griff kriegen und hat bereits eine positive Geburtenrate erreicht. Es gibt das Mütterkapital – ab dem zweiten Kind –, das zweckgebunden für das Kind oder als Eigenkapital zur Finanzierung von Immobilien zur Verfügung gestellt wird. Kinder werden ganz bewusst geschützt. Hat man ein Kind in seiner Wohnung angemeldet, darf man diese nicht verkaufen ohne nachzuweisen, dass sich das Kind wohnraumtechnisch nicht verschlechtert. Überspitzt gesagt: Man kann seine Wohnung nicht zulasten der Kinder versaufen.
Auch arme Menschen haben in Russland ein Dach über dem Kopf – wenn auch in manchen Fällen ein sehr ärmliches. Aktuell werden die uralten Plattenbauten aus der Chruschtschow-Zeit abgerissen und die Eigentümer der Wohnungen kostenlos in Neubauten umgesiedelt. Das ist schon etwas anderes als die Gentrifizierung großer Wohngebiete in Deutschland. Zumindest in Moskau und St. Petersburg finde ich nur wenige Obdachlose und Bettler auf der Straße. Komme ich nach Hamburg, sehe ich viel mehr Armut auf den Straßen.
Natürlich ist auch Russland heute eine kapitalistische Gesellschaft. Aber der Sozialstaat ist in der Verfassung verankert, und man versucht, entsprechend zu agieren. Nicht zuletzt, um nicht durch die Bevölkerung abgewählt zu werden – und die Wahlergebnisse zeigen immer wieder, wie gut die Bemühungen bei der Mehrheit der Bevölkerung ankommen.
Jetzt würde ich mich noch über einige kurze Einschätzungen zu einigen Reizthemen freuen, die in westlichen Medien besonders diskutiert werden. Was sagen Sie zur mangelnden Presse- und Meinungsfreiheit?
Das, was man in westlichen Medien liest, ist einfach Quatsch. Punkt. Es gibt eine breite oppositionelle Presse und die wird auch intensiv gelesen. Die regierungskritischen Medien in Russland haben eine deutlich höhere Reichweite als die Alternativmedien in Deutschland. Auf meinem Blog habe ich mal eine ausführliche Analyse dazu gemacht.
Gesellschaftliche Spaltung?
Die erlebe ich in Russland nicht. Ich sehe keine Spaltung der Gesellschaft, da es keine „political correctness“ wie im Westen gibt. Man kann jede Meinung haben – in Deutschland wird man für vieles schon schief angeguckt, in Russland geht man gemeinsam einen trinken. Zu meiner Clique gehören zwei Frauen. Eine ist homophob, die andere Lesbe. Für keine von beiden ist das ein Grund sich zu streiten. In Russland gibt es keine „Kampfbegriffe“. Man findet die Haltung des anderen zu einem Thema vielleicht nicht gut, aber das Bier, der Wein oder der Kaffee schmeckt trotzdem zusammen.
Staatliche Unterdrückung?
In meinen Augen ist Russland heute viel mehr Rechtsstaat als Deutschland. Ich kenne keinen Fall aus den letzten Jahren, wo jemand wegen politischer Meinungsäußerung eingesperrt wurde. Es stand immer ein Verbrechen dahinter – sei es Steuerhinterziehung, sei es Terror, sei es eine unangemeldete Demonstration. Nehmen wir doch den Fall des Regierungskritikers Navalny. Er wird immer wieder mal verhaftet – und freigelassen. Warum? Weil er unerlaubte Demonstrationen durchführt. Was passiert in Deutschland, wenn man zeitgleich zu einer offiziellen Veranstaltung eine unangemeldete Demo am gleichen Ort organisiert? Man wird verhaftet und angezeigt. Genau das passiert mit Navalny. Der Unterschied ist, dass es in Deutschland eine Straftat ist, für die man jahrelang ins Gefängnis kommen kann. In Russland ist es eine Ordnungswidrigkeit wie Falschparken, man bekommt eine Geldstrafe. Erst im Wiederholungsfall kann es bis zu 30 Tage Ordnungshaft geben, aber man geht am Ende ohne Vorstrafe nach Hause. Darum kann Navaly das Spiel ja auch immer wieder spielen, im schlimmsten Fall bekommt er eine Geldstrafe und 30 Tage Ordnungshaft, mehr passiert nicht. Und da er provozieren will, macht er das immer wieder. Und wird dafür von den westlichen Medien als Held gefeiert. Der Fall Ivan Golonov ist ein anderes Beispiel, das in der westlichen Presse als Unterdrückung freien Journalismus angeführt wurde. Dabei handelte es sich um einen Fall lokaler Korruption im mittleren Beamtenapparat. Als diese offensichtlich war, wurde nicht nur ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, sondern auch der Polizeichef gefeuert. Davon las man dann aber kaum mehr was in der deutschen Presse. Ich warte immer noch auf einen konkreten Fall aus den letzten Jahren, wo jemand ausschließlich aufgrund seiner politischen Äußerungen Probleme bekam. Dem gehe ich sofort nach. Mir ist zumindest nichts bekannt.
Die einzige Ausnahme ist Volksverhetzung, darunter fallen religiöse Beleidigungen und Verherrlichung der Nazis. Bei so etwas wie den Mohammed-Karikaturen geht man in Russland wegen Volksverhetzung ins Gefängnis. Das ist der für alle transparent definierte Rand der Meinungsfreiheit – nicht zuletzt, weil Russland ein multikulturelles und multireligiöses Land ist, das religiöse Unruhen im Inneren verhindern will.
Korruption?
Korruption gibt es noch – auch wenn man versucht, sie zu bekämpfen. Russland war seit den Zaren immer ein korruptes Land. Und wie will man mit einem korrupten Beamtenapparat einen korrupten Beamtenapparat bekämpfen? Das ist ein langer gesellschaftlicher Prozess, da ja auch diejenigen profitieren, die die Beamten bestechen. Es ist angenehmer, für 50 Euro nur eine Stunde statt einen Monat auf eine Genehmigung zu warten. Aber die Fortschritte sind sichtbar. Die alltägliche Korruption auf der Straße ist vorbei. Die Beamten sind sehr vorsichtig geworden. Und mit der Digitalisierung der Behörden hat Russland jetzt einen Weg gefunden, die Korruption weiter zurückzudrängen, denn es wird schwer, für etwas „im Hinterzimmer“ Schmiergeld zu nehmen, wenn alles online und transparent geschieht. Man geht mit Riesenschritten an die Digitalisierung der Verwaltung. Aber ja, die Korruption ist noch ein großes Problem in Russland.
Homophobie?
Das lässt sich ganz einfach beschreiben: Vor Kindern ist es verboten, Homosexualität als etwas Positives anzupreisen, im Gesetz heißt es, es ist verboten, „Homosexualität vor Minderjährigen zu propagieren“. Ansonsten kann jeder machen, was er will. Russland ist in dieser Hinsicht deutlich konservativer als der Westen. Es fehlt das Verständnis, warum Homosexuelle eine Ehe schließen sollen, da diese doch der Zeugung der Kinder gewidmet ist. In St. Petersburg gibt es unzählige Homo-Bars. Die Szene ist sehr aktiv und mancher Westler würde tief Luft holen, wenn er wüsste, was sich in den Dark Rooms abspielt. Ein westlicher Bekannter von mir ging mal mit einem Petersburg-Besucher in ein derartiges Etablissement hinein – er hatte die Lokalität bis zu dem Zeitpunkt immer nur in Begleitung von Frauen besucht, was kein Problem ist, dann ist es lustig dort. Aber zwei Männer alleine, die werden massiv angebaggert. Jedenfalls kamen die beiden ziemlich panisch wieder heraus.
Oligarchen?
Die Oligarchen Russlands haben die gleiche Position wie die Familien Springer, Mohn, Albrecht oder Quandt. Ihnen gehören die Firmenimperien, sie sind gut vernetzt und haben großen Einfluss auf das, was in Politik und Wirtschaft passiert. Aber ich bin überzeugt, die Oligarchen in Russland zahlen – da sie sich heute an die Regeln halten müssen –, mehr Steuern als Amazon & Co in Deutschland.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Wie wurden Sie vom Vorstandschef einer Versicherung zum politischen Autor? Sind Sie aus politischen Gründen ausgestiegen?
Nein. Ich habe zuerst gemerkt, dass es wenig Spaß macht, 20 Tage im Monat auf Dienstreise zu sein, aber von den vielen Nullen auf dem Konto eigentlich nichts zu haben. Es war spannend, aber ich hatte keinerlei Privatleben mehr. Geld macht einfach nicht glücklich. Und ich wollte unbedingt nach St. Petersburg, die Stadt ist umwerfend – wie du ja weißt. Daher entschied ich mich zuerst einmal für Lebensqualität. Politisch aktiv wurde ich erst später.
Mir wurde anhand der Ukraine-Berichterstattung erschreckend bewusst, dass ich seitens der westlichen Medien massiv belogen wurde. Nachdem ich ja seit Jahren Russisch beherrsche und die Medien verfolgen kann, konnte ich die massiven Diskrepanzen zwischen der Berichterstattung in Deutschland und den tatsächlichen Vorgängen sehen. In der Vergangenheit dachte ich, aufgrund meiner Hobbys Politik und Geschichte gut informiert zu sein. Und dann merkte ich, dass das eine Illusion war. Die mediale Kriegshetze gegen Russland, die Aufrüstung im Westen und die teilweise eklatante Ignoranz, was die russische Sicht angeht, haben mich motiviert, mit Schreiben anzufangen.
Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht, „arbeite“ fast jeden Tag 12 Stunden und genieße es – auch wenn ich nur einen Bruchteil von dem verdiene, was ich früher als Führungskraft in der Finanzbranche einnahm. Von Spenden, der Werbung auf meinem Blog und den Buchverkäufen kann ich fast leben. Aber Geld war ja nie die Motivation. Ich möchte, dass mehr Menschen ihre medial gesteuerten Vorurteile Russland gegenüber abbauen. Darum übersetze ich immer wieder die Originalreden russischer Politiker oder wichtige Artikel aus russischen Medien. Nur wenn man beide Seiten kennt, hat man überhaupt eine Basis, sich eine eigene Meinung bilden zu können.
Titelbild: jack-sooksan / Shutterstock
Thomas Röper, gelernter Bankkaufmann, Versicherungsfachmann und frühere Führungskraft in der Finanz-und Versicherungsbranche, ist heute als Blogger, Buchautor und freier Journalist tätig und betreibt den medienkritischen Blog „Anti-Spiegel“. Röper war seit 1991 jedes Jahr mehrfach in Russland unterwegs, zunächst aus privaten Gründen. Seit 1998 arbeitet und lebt er – mit einigen Unterbrechungen – im Land, spricht fließend Russisch und verfügt daher über sehr konkrete eigene Erfahrungen, insbesondere aus dem wirtschaftlichen Bereich. Er war unter anderem Vorstand einer der größten russischen Versicherungen in Moskau und als Vorstandsvorsitzender einer Schweizer Finanzholding für deren Tochtergesellschaften in Osteuropa verantwortlich.
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