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Titel: Putin und die Homosexuellen – eine merkwürdig verschoben geführte Diskussion
Datum: 4. Juli 2019 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte, Medienkritik
Verantwortlich: Redaktion
Am 26. Juni titelte die russische Nachrichtenplattform lenta.ru “In Russland wurde begonnen, offene Homophobie mit Geldstrafe zu ahnden”. Ein Mann hatte in einem sozialen Netzwerk ein Posting homophob kommentiert. Die Strafe beträgt im genannten Fall 5000 Rubel, was in etwa 70 Euro entspricht. Ria Novosti berichtet am darauffolgenden Tag, Putin hätte in einem Interview mit der Financial Times gesagt, “Gott möge LGBT-Menschen Gesundheit schenken. Jeder möge leben, wie er es für richtig hält.” Putin stellte in dem Interview klar, niemand in Russland hätte etwas gegen sexuelle Minderheiten. Allerdings dürfe man Werte wie Tradition und Familie nicht vergessen. Von Gert-Ewen Ungar.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die ursprüngliche Quelle, die Financial Times, überschrieb das Interview reißerisch mit “Vladimir Putin says ‘liberalism has become obsolet’”, “Liberalismus wurde überflüssig” und verbirgt den Rest des Interviews hinter einer Einladung, ein Abo abzuschließen. Russland pflegt hier den deutlich besseren, weil offeneren Informations-Stil.
Wenig später grätschte kein Geringerer als Elton John in die laufende Diskussion und warf Putin Zynismus vor. Aus dem Film “Rocketman” über Elton John waren in Russland gerade alle Szenen herausgeschnitten worden, in denen gleichgeschlechtlicher Sex und Drogengebrauch gezeigt wird. Auch das ging durch die entsprechenden deutschen Publikationen. Allerdings nicht durch staatliche Zensur. Es war der Vertrieb, der das veranlasst hat. Der Film “Bohemian Rapsody” über Freddy Mercury lief in Russland unzensiert. Das blieb natürlich ungenannt.
Putin, der sich gerade auf dem G20-Gipfel in Osaka befand, antwortete auf die Kritik. Er halte Elton John zwar für einen genialen Musiker, aber in Bezug auf die Situation von LGBT-Menschen in Russland irre er sich. Aus dem kleinen Schlagabtausch, der während des G20-Gipfels im japanischen Osaka stattfand, machte die deutsche Onlineplattform queer.de die Überschrift “Putin warnt Lesben und Schwule: ‘Lasst die Kinder in Ruhe!’” Das ist so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was er im Kontext gesagt hat und um was es ursprünglich ging. Eine Suche bei queer.de zum Thema der Geldstrafe für homophobe Kommentare verläuft dagegen ergebnislos.
Das ist nicht überraschend. Das LGBT-Thema ist ein Instrument der Spaltung und inzwischen in einer Weise aufgebläht, dass es andere Themen in den Hintergrund drängt. Selbst bei einer Veranstaltung wie dem G20-Gipfel kommt Putin um das Thema nicht drumrum – es gibt ja sonst auch wenig zu besprechen.
Sicherlich: Das LGBT-Thema ist wichtig, denn es geht um Diskriminierung. Doch Identitätspolitik greift vielfach einfach zu kurz, wenn es um die Benennung von Diskriminierung geht. Und das ist kein Zufall, denn sie verkürzt die Diskussion auf sexuelle und geschlechtliche Identitäten und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen.
Es stimmt, es gibt einiges in Russland nicht, was es in der EU gibt. Es gibt das Institut der gleichgeschlechtlichen Ehe nicht und Gay-Prides sind verboten. Es gibt im Rahmen des Jugendschutzes das Verbot, Jugendlichen Pornographie, Prostitution und eben auch Informationen zugänglich zu machen, die homosexuelle Beziehungen gleichwertig zu heterosexuellen darstellen. Man kann sicherlich im Hinblick auf all diese Maßnahmen darüber streiten, wie sinnvoll sie sind. Aber es gilt auch bei diesem Streit die Verhältnismäßigkeit zu beachten, denn Homosexualität steht in Russland nicht unter Strafe. Es gibt darüber hinaus eine queere Infrastruktur aus Bars, Clubs, Vereinen und Gruppen, die weitgehend unbehelligt von staatlichen Eingriffen und Kontrollen existiert. Ein staatlicher Eingriff findet nur dann statt, wenn die Organisationen aus dem Ausland finanziert werden. Dann müssen sie sich als “Ausländischer Agent” registrieren und die Finanzierung offenlegen.
Es gilt in diesem Zusammenhang auch, immer die Begründungen zu hören. Das Verbot von Gay Prides hat weniger mit Homophobie zu tun als mit der Angst Russlands vor von außen initiierten Farbrevolutionen. Diese Furcht ist berechtigt, denn die LGBT-Vereinigungen, die in Russland am aggressivsten und forderndsten auftreten, werden alle aus dem Ausland gefördert und unterstützt. Auch aus Deutschland. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands fördert das LGBT-Netzwerk in Sankt Petersburg, das mit illegalen Aktionen in regelmäßigen Abständen bereitwillig die Bilder produziert, die der deutsche Mainstream so liebt: russische Polizisten, die Demonstranten abführen.
Die Darstellungen in westlichen Medien beachten die Verhältnismäßigkeit des Themas zu seiner gesellschaftlichen Bedeutung regelmäßig nicht. Die Berichte sind einseitig, völlig übertrieben und unterschlagen Informationen, die nicht in das Bild vom homophoben, autoritären Russland passen. Sie berichten nicht über Gegenbewegungen in der russischen Gesellschaft und Entwicklungen, die nicht in das Narrativ vom totalitären, korrupten und rückständigen Russland unter Zar Putin passen. Sie berichten beispielsweise nicht vom einleitend genannten Urteil, denn es passt nicht ins Bild. Russland, so ist der Tenor, hat ein Problem mit Gleichberechtigung.
Golineh Atai berichtete in ihrer Zeit als ARD-Russland-Korrespondentin 2017 in einem halbstündigen Weltspiegelbeitrag beispielsweise darüber, dass russischen Frauen der Zugang zu über 400 Berufen verschlossen ist. Das Gesetz stammte aus dem Jahr 1974 und war ursprünglich dazu gedacht, Frauen vor schwerer körperlicher Arbeit zu schützen.
Atai vergisst in ihrem Beitrag zu erwähnen, dass die Diskussion über das Gesetz bereits am Laufen war, als sie ihre Dokumentation produzierte. Das Arbeitsministerium kündigte bereits im Februar 2017 an, die Liste der für Frauen unzugänglichen Berufe überarbeiten zu wollen. Atai hat entweder schlecht recherchiert oder es ist eine absichtliche Auslassung. Beides wäre mit dem Begriff des Qualitätsjournalismus allerdings nicht zu vereinbaren, den sie für sich in Anspruch nimmt. Als die Liste dann in diesem Jahr weitgehend zusammengestrichen wurde, findet das überhaupt keine Erwähnung in deutschen Medien. Das hat System. Allerdings stimmt das Ergebnis des Beitrags aus westlicher Sicht, denn der Russe, so suggeriert Atai, ist ein prügelnder Saufbold, der den Frauen alle möglichen Rechte verweigert. Das hat mit der gesellschaftlichen Realität in Russland nichts, mit dem im Westen wohl gepflegten Klischee aber alles zu tun.
Es ist ein merkwürdiger, inverser “Whataboutism”, der sich in der westlichen Berichterstattung über Russland festgesetzt hat. Mit dem Verweis auf Diskriminierung dort wird verdeckt, wie sehr bei uns diskriminiert wird.
Damit sind zum Beispiel die Sprachgesetze und die offene Diskriminierung der russischen Minderheit in den baltischen Staaten gemeint. Dort gibt es bis hin zur Denunzier-App alles, wovon ein strammer Nationalist träumt. Über diese Formen der massiven Verstöße gegen die EU-Grundrechtecharta, die in der EU stattfinden und in Gesetz gegossen sind, erfahren wir in Deutschland regelmäßig nichts. Diese Form der Diskriminierung wird in der deutschen Berichterstattung ausgeklammert, denn es handelt sich um Diskriminierung nach Herkunft und nicht nach sexueller Identität oder Geschlecht.
Aber auch in Deutschland gibt es Diskriminierung, über die kaum gesprochen wird. Die häufigste Form ist allgemeiner Natur und richtet sich ebenfalls nicht gegen sexuelle Minderheiten. Die häufigste und vor allem ganz systematische Form der Diskriminierung kann daher mit den Mitteln der Identitätspolitik noch nicht einmal benannt werden. Es ist auch in Deutschland die Diskriminierung durch die Herkunft. Insbesondere die deutsche Gesellschaft ist vertikal kaum durchlässig. Geburt und familiärer Hintergrund bestimmen in hohem Ausmaß die weitere individuelle Entwicklung. Für die so Diskriminierten gibt es weder Paraden noch nehmen sich politisch engagierte Pop-Stars ihrer an. Sie liegt so offen vor uns, ist so selbstverständlich und alltäglich, dass wir sie beständig übersehen, es ist darüber hinaus auch nicht chic, sich damit auseinanderzusetzen, denn es ist nicht schön bunt, sondern ziemlich grau und deprimierend, was hier passiert.
So sind die medialen Attacken gegen Russland immer auch der Versuch, die hiesigen Formen der Diskriminierung und Stigmatisierung im Unbewussten und Ungenannten zu halten. Man kann als Homosexueller in Russland gut leben, mit einem schwierigen sozialen Hintergrund in Deutschland jedoch nicht.
Die gesellschaftliche Diskussion über LGBT verläuft in Russland zudem dynamisch und komplex. Die deutschen Medien lassen ihre Zuschauer und Leser darüber genauso in Unkenntnis, wie sie hiesige Defizite nicht benennen. Der Skandal ist nicht der Umgang Russlands mit seinen sexuellen Minderheiten, der Skandal ist die wachsende, sich verfestigende Ungleichheit hier, die medial verdeckt wird. Dazu dient auch Identitätspolitik, mit der eine Kritik an den ökonomischen Verhältnissen verunmöglicht wird, die sich aber dazu eignet, ein Feindbild Russland aufzubauen, weil es westliche Ideen nicht unmittelbar umsetzt.
So lässt sich festhalten, dass sich in Bezug auf das LGBT-Thema in Russland gerade viel bewegt. Putin selbst wirbt für Toleranz und einen respektvollen Umgang der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen miteinander. In Bezug auf Ungleichheit bewegt sich bei uns allerdings kaum etwas, denn mit Identitätspolitik als inzwischen nahezu exklusivem Maßstab für gesellschaftlichen Fortschritt lässt sich das bedeutend wichtigere Thema der ökonomischen und sozialen Ungleichheit noch nicht einmal benennen.
Titelbild: Jugoslav Drobnjak/shutterstock.com
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