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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Mordfall Lübcke – Einzeltäter gesucht … und gefunden | Teil III
Datum: 28. Juni 2019 um 8:45 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Rechte Gefahr, Strategien der Meinungsmache, Terrorismus
Verantwortlich: Redaktion
„Der tatverdächtige Stephan E. hat den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gestanden. Das erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Mittwochmorgen am Rande einer Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses in Berlin. Stephan E. habe angegeben, als Einzeltäter gehandelt zu haben.“ Wolf Wetzel hat sich für die NachDenkSeiten die Einzeltäter-These einmal näher angeschaut.
Die vorangegangenen Beiträge zum Mordfall Lübcke finden sich hier:
Ein Einzeltäter wie gemalt
Fassen wir diese märchenhafte Geschichte zusammen: Stephan Ernst hatte eine Kindheit ohne besondere Vorkommnisse. Dann kam die Wende und mit ihr die Volksparteien-Parole der 1990er Jahre „Das Boot ist voll“. Der Jugendliche Stephan verstand (nicht) ganz richtig und wollte ein Flüchtlingsheim mit einer Rohrbombe in die Luft jagen. Dafür bekam er sechs Jahre Knast, die er gut nutzte. Ernst suchte nach noch mehr Orientierung und schrieb im Knast den ehemaligen SA-Obersturmführer Herbert Böhme sowie den ehemaligen SS-Sturmbannführer Arthur Ehrhardt an, die zusammen die neofaschistische Zeitschrift „Nation und Europa“ herausgaben.
SS-Sturmbannführer Arthur Ehrhardt verstand sich im „Dritten Reich“ als Experte für den bewaffneten Untergrundkampf und will an „einem Konzept des Partisanenkriegs gegen die Rote Armee gearbeitet haben.“ Das wurde belohnt. Stephan Ernst wurde vorzeitig entlassen. Als richtiger Neonazi machte er sich in den folgenden Jahren einen Namen. 2009 reiste er mit Kameraden nach Dortmund und beteiligte sich an Angriffen auf eine DGB-Demonstration.
Danach wurde er Familienvater und lebte ein unauffälliges Leben. 2015 besuchte er als besorgter Bürger und Familienvater eine Veranstaltung, auf der unter anderem der CDU-Regierungspräsident Walter Lübcke den BesucherInnen erklärte, warum man Flüchtlinge aufnehme und warum dies mit christlichen Werten vereinbar sei. Da wurde der Familienvater Ernst ganz spontan wieder Neonazi. Als er wieder zuhause war, war er abermals ein unauffälliger Familienvater. Das war und blieb er die folgenden Jahre. Vier Jahre später, um genau zu sein, in der Nacht zum 2. Juni 2019 erinnerte er sich an diese Veranstaltung mit besagtem Regierungspräsidenten.
Es kam zu einer extrem spontanen Radikalisierung. Spontan fand er eine Waffe, fuhr los, wusste genau, wo der Regierungspräsident wohnt. So gegen 0.30 Uhr erschoss er Walter Lübcke auf seiner Terrasse. Das ist der Stand dieser märchenhaften Entwicklung im Mordfall Lübcke. Man hat nach einem Einzeltäter gesucht, ihn buchstäblich ausgelobt und nun hat man ihn mit vereinten Kräften gefunden.
Ich bastele mir meinen Einzeltäter
Am liebsten wollte man einen unpolitischen Einzeltäter, also ein völlig privates Motiv. Nun muss man sich mit einem Neonazi zufriedengeben, der schon lang keiner mehr ist, dessen Motiv man schon fast wieder privat nennen könnte.
Dann kam eine Antifa-Recherche dieser ganzen Modellierung in die Quere. Ein Foto tauchte auf, das ein konspiratives Treffen im sächsischen Mücka im März 2019 zeigt. Dort trafen sich Neonazis, die mit dem „Rassenkrieg“ und dem „führerlosen Widerstand“ sehr viel anfangen können. Mitglieder von „Combat 18“, „Blood and Honour“, „Brigade 8“ bis „Oidoxie“ waren dort anwesend. Ein sehr exklusiver Kreis, dem nur angehört, wer sich als „Kamerad“ so richtig verdient gemacht hat. Auf einem Foto ist Stephan Ernst zu erkennen. Das bestätigte auch ein zu Rate gezogener Gutachter gegenüber dem Politmagazin Monitor.
Wäre das so, wäre das in vielerlei Hinsicht blamabel, für die Polizei, für den Verfassungsschutz und das politisch verantwortliche Innenministerium. Der Verfassungsschutz erklärte nämlich, dass Stephan Ernst seit 2009 „vom Schirm gerutscht“ (Stephan J. Kramer, Präsident des Amts für Verfassungsschutz in Thüringen) sei. Damit will man sagen, dass man glaubhafte und überprüfbare Gründe gehabt hätte, ihn nicht länger als „gewaltbereiten Neonazi“ zu führen bzw. zu observieren. Hätte Stephan Ernst tatsächlich an diesem konspirativen Treffen teilgenommen, wäre folglich nicht nur die Legende vom Ex-Nazi und aktiven Familienvater verbrannt. Damit hätte der Verfassungsschutz einmal mehr bewiesen, dass man ihn zur Bekämpfung des Neonazismus am allerwenigsten braucht.
Vom Schirm gerutscht oder den Schirm aufgespannt
Wieviel an der Legende vom Ex-Neonazi hängt, machten die hektischen Reaktionen deutlich. Sie sind aber auch sehr verräterisch. „Spiegel-TV“ wartete nur ein paar Tage später mit einer klassischen Ausputzergeschichte auf, die es in sich hat: Das Ganze sei eine Verwechslung. Der TV-Sender will erfahren haben, dass sich ein Mann der Polizei offenbart habe: Er wäre der Mann auf dem besagten Foto, er habe an diesem konspirativen Treffen teilgenommen, hieße Karsten H. und wäre Mitglied der Neonaziband „Oidoxie“.
Und zur Absicherung dieser Grätsche nuschelt man vor sich hin:
„Aus sächsischen Sicherheitskreisen heißt es, der Staatsschutz und der Verfassungsschutz gingen davon aus, dass das Foto Karsten H. zeige, nicht Stephan E. Offiziell wollte sich von den Ermittlern niemand äußern.“
Zu den vorgebrachten Einwänden befragt, erklärte die Redaktion von Monitor, sie sehe „bisher keinen Anlass, an der Seriosität dieses Gutachtens und seines Verfassers zu zweifeln.“ (s.o.)
Wer nur halbwegs ahnt, worum es hier geht, der kann sich nur die Haare raufen: Es findet ein konspiratives Treffen von verschiedenen neonazistischen Gruppen statt. Antifas beobachten dieses Treffen und machen Fotos, auf denen unter anderem Stephan Ernst ausgemacht wird.
Nehmen wir einmal an, Stephan Ernst wäre nicht auf diesem Treffen gewesen. Würde ein Neonazi so blöd sein, zur Polizei zu rennen, um sich selbst als Teilnehmer eines konspirativen Treffens zu „outen“? Wenn man tiefenpsychologische Erwägungen einmal außen vorlässt, dann weiß man, dass Sinn einer Konspiration ist, keine (weiteren) Mitglieder eines solchen Treffens preiszugeben. Warum sollte ein Neonazi riskieren, selbst wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt zu werden? Warum sollte ein Neonazi einen Kameraden entlasten, der in ihren Augen alles richtiggemacht hat?
Es gäbe einige Möglichkeiten, diesen „Erzählungen“ auf den Grund zu gehen:
Bei einem so hochkarätigen Treffen von Neonazis, mit so vielen Gruppen, die den Kampf im Untergrund befürworten und unterstützen, ist der Verfassungsschutz mit (zahlreichen) V-Leuten anwesend. Man muss sich nur die Liste der bisher namentlich bekannt gewordenen V-Leute im NSU-Netzwerk anschauen, um mit sicherem Wissen zu sagen: In fast jeder Gruppierung sitzt ein V-Mann, in manchen sitzen V-Leute des Verfassungsschutzes an führender Stelle (Thüringer Heimatschutz, Blood & Honour, Ku-Klux-Klans/KKK etc.)
In Bezug auf dieses konspirative Treffen wäre also die Frage an den Verfassungsschutz zu stellen: Welche V-Leute waren an diesem Treffen beteiligt?
Wenn man das fieberhafte Ringen um die richtige Legende des Mordverdächtigen Andreas Ernst konstatiert, dann fällt doch die ungeheure Anstrengung auf, alle Verbindungen hinter ihm zu kappen, alle Fäden zu durchtrennen, die zu „Dritten“ führen könnten. Kann es sein, dass diese zu V-Leuten führen, die man um jeden Preis aus der Sache heraushalten möchte? Das wäre nicht besonders neu und schon gar nicht einzigartig, aber im Mordfall Lübcke nicht ganz so leicht abzutun. Es gäbe eine weitere „Merkwürdigkeit“ zu klären, die allen bekannt ist, aber nicht mit einem Wort angesprochen wird.
Stephan Ernst wurde Mitte der 1990er Jahre zu sechs Jahren Haft verurteilt. Wegen „guter Führung“ kann er wohl nicht vorzeitig entlassen worden sein (wenn man die Fortbildung zum Neonazi nicht dazuzählt). Es ist kein großes Geheimnis, sondern mehr als bekannt, dass eine Haftstrafe ein ideales Anwerbeterrain ist: Man bietet Hafterleichterungen oder gar eine vorzeitige Haftentlassung gegen „Mitarbeit“ an. Das nennt man ein Konzessionsangebot.
Kann es sein, dass auch dies ein Grund dafür ist, dass man die Akten von Stephan Ernst erst vernichtet haben will (selbstverständlich aus Datenschutzgründen), und sie nun doch irgendwie noch da sind? Warum bestehen nicht alle darauf, die es mit einer lückenlosen Aufklärung Ernst meinen, dass diese Akten vollständig zur Verfügung gestellt werden?
Wenn alle Akten vorliegen, dann ließe sich gegebenenfalls auch klären, welche Bedeutung „ein geheim eingestuftes Dokument mit relevanten Informationen“ (jW vom 20.6.2019) hat, an das sich der Landtagsabgeordnete Hermann Schaus (Die Linke) erinnerte, als dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss im Jahr 2015 Akten vorgelegt wurden, die den Neonazi Stephan Ernst betrafen.
Ein Einzeltäter mit einigen (unpolitischen) Helfern?
Es scheint Schlag auf Schlag zu gehen. Gestern meldete Spiegel-Online einen „weiteren Fahndungserfolg“:
„Auf Hinweis des Geständigen Stephan Ernst nahm die Polizei nach SPIEGEL-Informationen zwei weitere Personen fest. Der mutmaßliche Waffenhändler aus Nordrhein-Westfalen sowie der mutmaßliche Vermittler des Geschäfts zwischen Ernst und dem Händler wurden inhaftiert.“
Zudem sei ein Waffenversteck entdeckt worden, aufgrund von Hinweisen, die Stephan Ernst der Polizei gab. Man darf gespannt sein, wie politisch diese Helfer waren und sind.
Wenn “Einzeltäter” Journalisten mit Mord drohen
In den Medien wird viel über Hass und Morddrohungen gesprochen, denen Politiker ausgesetzt sind. Ermüdend oft werden irgendwelche Tweets, irgendwelche Kommentare von Einzelpersonen ausgewertet und vorgeführt. Wenn es aber um organisierte (Mord-)Drohungen geht, die sich gegen (linke) Journalisten richten, dann ist man auffallend uninformiert.
Das antifaschistische Recherchenetzwerk „Exif“ hat am 27. Juni 2019 öffentlich gemacht, dass Combat 18 auf einer Internetplattform eine Videobotschaft platziert hat, in der Journalisten gedroht wird, die im Fall Lübcke und Ernst „falsch“ berichten. Darin wird unter anderen namentlich ein Journalist benannt, „der eine zentrale Figur hinter Veröffentlichungen zu Stephan Ernst sein soll. Derselbe Journalist wurde von Thorsten Heise in seiner Eröffnungsrede in Ostritz mit den Worten „Der Revolver ist schon geladen Herr […]“ bedroht.“
Dass dies ein antifaschistisches Recherchenetzwerk öffentlich machen muss und Geheimdienst und Polizei dazu schweigen, beweist die Fadenscheinigkeit, mit der “Hass im Netz” angeprangert wird. Kann es sein, dass man diese Art der Bedrohung durchaus dankbar hinnimmt?
Dieses Zusammenwirken ist nicht neu: Die einen verschweigen Zusammenhänge, verharmlosen und kolportieren die Einzeltäter-Theorie. Und die “Einzeltäter” in Gestalt von Combat 18 zum Beispiel drohen mit Mord und fühlen sich ermutigt, zum ersten Mal mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit zu gehen.
Quellen:
Titelbild: rkl_foto/shutterstock.com
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