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Titel: France Culture: „Die „Gelbwesten“-Bewegung – gab es sie wirklich?“
Datum: 25. Juni 2019 um 15:21 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte, Soziale Gerechtigkeit
Verantwortlich: Redaktion
Die Gelbwesten gehen seit dem 17. November letzten Jahres jeden Samstag auf die Straße. Der ursprüngliche Anlass für ihre Proteste war eine geplante Erhöhung der Benzinpreise. Weil in Frankreich viele Menschen mit dem Auto zur Arbeit pendeln und die Löhne auch in Frankreich oft kaum noch zum Überleben reichen, machte sich bald Unmut breit. Marco Wenzel.
Die Bewegung bekam im Laufe der Zeit immer mehr Zulauf, obwohl die französische Polizei zusammen mit Spezialeinheiten regelmäßig mit brutaler Gewalt gegen die Demonstrationen vorging.
Aber auch die Forderungen der gelben Westen erweiterten sich mit dem Fortschreiten der Bewegung. Immer mehr soziale Themen kamen auf und sogar die Forderung nach Rücktritt von Präsident Macron und seiner Regierung.
Macron machte daraufhin einige halbherzige Zugeständnisse und tourte durch Frankreich, um den Dialog zu suchen, wie er sagte. Aber er konnte die Proteste damit nicht eindämmen. Die Demonstrationen konzentrierten sich zuletzt hauptsächlich auf Paris und die großen Städte.
Nach jetzt 32 Wochen Protesten ist eine gewisse Ermüdung bei den Gelbwesten eingetreten.
Auch scheint es die Strategie von Macron zu sein, die Sache einfach aussitzen zu wollen, in der Hoffnung, dass die Gelbwesten irgendwann einmal aufgeben werden.
Um wieder neuen Schwung in die Bewegung zu bringen, haben die Gelbwesten nun beschlossen, wieder mehr Straßen und Verkehrskreisel zu blockieren, statt in den großen Städten zu demonstrieren.
France Culture hat sich dem Thema gestern in einem Beitrag gewidmet. Unser Leser Reinhard Schlüter hat den Beitrag freundlicherweise für die Nachdenkseiten übersetzt, wofür wir ihm an dieser Stelle herzlich danken möchten.
France Culture vom 24. Juni 2019; Autor: Frédéric Says; Übersetzt von Reinhard Schlüter:
„Die „Gelbwesten“-Bewegung – gab es sie wirklich?
Verfolgt man die aktuellen Nachrichten, so muss man daran zweifeln.
Und das nicht nur, weil die Samstagsdemonstationen nurmehr spärlich und dünngesät stattfinden.
Sondern vor allem, weil eine Serie politischer Entscheidungen der letzten Tage die Frage aufwirft, ob die Regierung nicht von Amnesie betroffen ist.
Erstes Beispiel: das in der vergangenen Woche verabschiedete Mobilitätsgesetz, das die Privatisierung bestimmter Nationalstraßen ermöglicht.
Im Detail handelt es sich um eine Novellierung, die es den Betreibergesellschaften erlaubt, einen Teil der Nationalstraßen zu verwalten und “Infrastrukturmaßnahmen” durchzuführen, die “den Zugang zu Autobahnen oder Erweiterungsstrecken erleichtern, sichern oder flüssiger machen”.
Im Gegenzug können diese Unternehmen ihre Mautsätze erhöhen, was darauf hinausläuft, privaten Unternehmen die Instandhaltung eines Teils der Nationalstraßen zu vergüten.
Doch was haben in den letzten Monaten hunderttausende Demonstranten unter ihren gelben Westen gefordert?
Sie protestierten gegen das Gefühl permanenter Erpressung; sie beklagten die teuren Mobilitätsbarrieren; sie prangerten den systematischen Rückzug des Staates von den öffentlichen Dienstleistungen an“, jenem „Vermögen derer, die (selbst) kein Vermögen besitzen“, wie es Jaurès einmal ausdrückte (Anm.: Jean Jaurès, franz. Reformsozialist des ausgehenden 19. Jahrhunderts).
Ein zweites Beispiel: Die in der vergangenen Woche vom Ministerpräsidenten angekündigte Reform der Arbeitslosenversicherung.
Diese Reform hat es immerhin geschafft, Gewerkschaften und Unternehmer gleichermaßen unzufrieden zu machen, indem sie für bestimmte Kategorien von Arbeitslosen ungünstigere Abgeltungsbedingungen festlegte. Eine von oben getroffene Entscheidung.
“Im Sommer wird es dazu ein Dekret geben, und niemand kann etwas dagegen tun“, beklagt sich Laurent Berger, Vorsitzender des CFDT (französischer Gewerkschaftsbund), in der Zeitung Libération.
Erinnern Sie sich daran, was die Exekutive während der großen nationalen Debatte versprach: sie habe die Lektion verstanden. „Schluss mit dem von oben angesetzten Reformhackmesser! Platz für „gemeinsame“, „von der Basis“ und „vom Dialog getragene” Lösungen.
“Nichts wird je wieder so sein wie zuvor”, verkündete sogar Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye.
Einige Monate nach den schönen Versprechungen fühlt man sich unweigerlich an den Satz des „Leopard“ von Visconti erinnert: “Alles muss sich ändern, damit sich nichts ändert”.
Tatsächlich scheint es so, als habe der Staatsbetrieb seine normale Gangart wieder aufgenommen
Als sei die “Gelbwestenbewegung” nichts weiter gewesen als eine kurze Unterbrechung in der fünfjährigen Amtszeit von „En marche“.
Als sei der große Zorn vom vergangenen Herbst durch die Debatte im Frühling beendet und durch das Ergebnis der Europawahlen getilgt worden.
Als sei die Besetzung der Verkehrskreisel nur eine Laune und keine Revolte gewesen.
Was bleibt also vom heißen Herbst 2018, dem (Tränen-)Gas und den Tränen, den aufrüttelnden Märschen und zitternden Ministern?
Die Frage zu stellen heißt, sie zu beantworten. Was hat sich in der täglichen Machtpraxis geändert? Allenfalls jene durch Losentscheid zur Erörterung von Umweltfragen ausgewählten 150 Bürger, die Emmanuel Macron als “Bürgerkonvention” bezeichnet. Ein denkbar unscharfes Instrument, um die wahren Machtkräfte zu messen.
Ansonsten zurück zum Ausgangspunkt: Die „große nationale Debatte“ erscheint zunehmend als Verzögerungstaktik. Als Zeitgewinn zur Beruhigung der Straße.
In Anbetracht der französischen Übelstände: mehr Chloroform als Heilmittel.
Angesichts der offenen Wunden setzt die Regierung mehr aufs Aussitzen statt aufs Ausbrennen.“
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Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock
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