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Titel: Gestern in London: unterschiedliche Bewertung der Situation von Julian Assange
Datum: 12. Juni 2019 um 15:21 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Erosion der Demokratie
Verantwortlich: Redaktion
Der gestrige Dienstag war wieder einer der seltenen Tage, an denen der Kautionsauflagendelinquent Julian Assange zweimal im Monat Besuch in seinem Haftort Belmarsh-Gefängnis in London empfangen kann. Dieses Mal waren es ein Rechtsbeistand, sein Vater John Shipton und der chinesische Künstler Ai Weiwei, der Gefängnis und Hausarrest auch von innen kennt. Die beiden Letztgenannten gaben vor dem Gefängnis einige Statements ab. Ein Bericht von Moritz Müller.
Wenn man die Station Plumstead, weit in den südöstlichen Vororten Londons, nach einer halbstündigen Bahnfahrt vom London-Bridge-Bahnhof erreicht, empfängt einen zuerst eine zweigeschossige englische Hauptstraße, von der dann eine vierspurige Ringstraße in Richtung Belmarsh-Gefängnis abzweigt. Man geht an einem riesigen Brachgelände vorbei, auf dem das Thameside-Gefängnis stand, bevor man die Gefängnisstadt, bestehend aus HMP Belmarsh und HMP ISIS erreicht. HMP steht im Vereinigten Königreich für „Her Majesty‘s Prison“, wo sogar die Gefangenen der Königin persönlich zu unterstehen scheinen, und bei Isis handelt es sich nicht um die gleichnamige Terrororganisation oder eine ägyptische Göttin, sondern um den Quellfluss der Themse. Insgesamt ist es nicht der gastlichste Ort auf Erden, aber die im Frühsommer wuchernde Vegetation mildert den Eindruck spürbar.
Bei meinem Eintreffen haben sich schon ca. zehn Journalisten an der Einfahrt zum Gefängnisparkplatz versammelt, wo sie auf Ai Weiwei und John Shipton warten. Unter den Pressevertretern befinden sich einige Freelancer, ein Journalist des Sydney Morning Herald, eine Crew von Russia Today und ein Team des australischen Senders ABC, der es selber kürzlich in die Schlagzeilen schaffte. Aber dies ist ein weiterer Justizskandal, den es sicher noch zu beleuchten gilt. Auf jeden Fall ist es gut, dass mittlerweile mehr Mainstream-Journalisten Interesse an der Assange-Geschichte haben.
Als erstes erscheint Ai Weiwei mit zwei Gefährten und ist bereit, einige Fragen der anwesenden Journalisten zu beantworten. Er ist sommerlich-leger gekleidet und berichtet uns, dass er und John Shipton erst einmal unerklärlicherweise 45 Minuten warten gelassen wurden, bevor sie Julian Assange treffen konnten. Alle anderen Gefangenen hatten während dieser Wartezeit schon Kontakt mit ihren Besuchern. Ai Weiwei berichtet, dass er die Situation als sehr zugespitzt betrachtet und Julian Assange ihm vorkam, als klammere er sich an den letzten Strohhalm. Dies im Kontrast zu ihrem letzten Treffen vor 3 Jahren, wo Julian Assange optimistisch und zuversichtlich war.
Er erzählt, dass Julian Assange ca. 20 Pfund abgenommen hat und er in einer wackeligen Situation ist und dass es ersichtlich ist, dass Julian Assange unter psychologischem Druck steht. Nichtsdestotrotz war er überglücklich, seinen Vater und Ai Weiwei zu sehen, und auch die Tatsache, dass es in der Außenwelt zahlreiche Unterstützer gibt, sieht Ai Weiwei als Grund zur Freude für Julian Assange. Seinen Worten zufolge befindet sich Julian Assange immer noch im Krankenhaustrakt, aber er kann gehen und stehen und ist in der Lage, eine Unterhaltung zu führen.
Auf die Frage, ob er ein Geschenk mitbringen durfte, winkt er lächelnd ab und sagt, so seien die Bedingungen bei weitem nicht, aber es war möglich, sich zweimal zu umarmen. An diesem Punkt wird der ansonsten bullig wirkende Ai Weiwei ganz leicht sentimental. Er gibt den Eindruck wieder, dass Julian Assange im Gefängnis insgesamt korrekt behandelt wird.
Ai Weiwei sieht die jetzige Situation ganz klar als einen Angriff der USA auf die Pressefreiheit und er sagt, dass er und Julian Assange sich über die Zerbrechlichkeit der Menschenrechte speziell in Europa und dem Vereinigten Königreich, wo er als australischer Staatsbürger festgehalten wird, unterhalten haben. Ai Weiwei zufolge sollte die EU eine ganz andere Messlatte anlegen, wenn es um Menschenrechte geht, und Julian Assange sollte, ganz klar, niemals an die USA ausgeliefert werden. Auf Nachfrage bestätigt Ai Weiwei, dass Julian Assange geistig klar ist, aber dass man die Effekte des jahrelangen Freiheitsentzuges sehen kann, aber auch, dass er nach wie vor den starken Glauben hat, dass das, was er getan und veröffentlicht hat, zum Wohle der Allgemeinheit war und ist.
Ai Weiwei zeigt sich zutiefst besorgt über den jetzigen Zustand von Assange und den Effekt der Sorge, was weiterhin auf ihn zukommen könnte. Ai Weiwei beschreibt Julian Assange als sehr besorgt und nicht optimistisch. Auf die Frage, ob die oben erwähnte Hausdurchsuchung im Gespräch mit Assange erwähnt wurde, bricht Ai Weiwei das Interview überraschend und abrupt ab.
Nach weiteren zehn Minuten erscheint Julians Vater John Shipton im schwarzen Anzug und gibt sehr geduldig, emotional und irgendwie dankbar über das Medieninteresse seine Eindrücke des Besuchs wieder.
Man merkt, dass er über seinen Sohn spricht, auf eine sehr sanfte und besorgte Weise. Er sagt, dass es sehr bewegend war, seinen Sohn in dieser Situation, mit zehn Kilo Gewichtsverlust von der Krankenstation kommend, zu sehen, aber er glaubt, dass er durchkommen wird. Ihm zufolge zeigt Julian seine Tatkraft dadurch, dass er ihm Anweisungen gibt, aber das sei ok. Er sagt, dass die Umarmung mit Julian zutiefst bewegend war und von der Art und Weise, dass sie nie enden möge und am liebsten hätte er seinen Sohn mit nach draußen getragen.
Im Gegensatz zu Ai Weiwei zeigt sich John Shipton optimistisch und beschreibt seinen Sohn als entschlossen und geistig vorbereitet auf den kommenden Kampf vor den Gerichten. In der Praxis sei dies schwieriger umzusetzen, da auch die Besuche der Rechtsanwälte beschränkt seien und Julian keinen Zugang zu einer Bibliothek oder einem Computer habe und er sich somit nicht richtig informieren könne.
John Shipton wünscht sich, dass die australische Regierung ihrem Bürger Julian Assange Hilfe leistet durch Diplomatie, in dieser Situation, wo sein Sohn zum Opfer der britischen und schwedischen Strafverfolgungsbehörden gemacht worden ist. Er vergleicht Julians Situation in der ecuadorianischen Botschaft mit der eines Menschen im Schlauchboot in einem Haifischbecken, der dann nach sieben Jahren ohne Sonnenlicht aus der Botschaft gezerrt wird, um drei Stunden später einem Haftrichter vorgeführt zu werden, und er wundert sich, wo hier die Stimme der australischen Regierung bleibt. John Shipton glaubt, dass sich der Gesundheitszustand seines Sohnes stabilisiert und sein Gewichtsverlust gestoppt ist und dass er bald die Krankenstation verlassen kann.
Weiterhin sagt John Shipton, dass sich alle Journalisten engagieren müssten, da sich hier der lange Arm der US-Justiz ausstreckt, außerhalb des US-Staatsgebietes nach jemandem, der kein US-Bürger ist, und dass Journalisten weltweit besorgt sein sollten über ihre Arbeitsbedingungen. Ihm zufolge ist sein Sohn eine Ikone für den Journalismus, an der man sehen kann, was dem Journalismus blühen könnte. Er führt als Beispiel die Hausdurchsuchung bei ABC an. „Wenn Julian untergeht, geht Ihr Alle unter!“, sind seine Worte an uns Anwesende.
Insgesamt lässt sich John Shipton sehr viel Zeit, geduldig auch sich wiederholende Fragen zu beantworten, und bisweilen hält er inne, wenn ihn seine Emotionen einholen und man sieht, dass es ihm ein Bedürfnis ist, der Welt mitzuteilen, wie es seinem Sohn geht. Außerdem berichtet er, dass sein Sohn ihn gebeten habe, in der jetzigen Situation nach London zu ziehen, um ihn zu unterstützen. Anhand des gestrigen Interviews und des Eindrucks, den er auf die Fragenden macht, kann man sehen, dass dies für Julian Assange ein weiterer Pluspunkt sein wird. Am Ende bedankt sich John Shipton sehr herzlich bei uns allen und wir geben diesen Dank gern zurück.
Für Freitag ist eine weitere Anhörung im Westminster Magistrates Court anberaumt. Termin und Ort wurden mehrmals von den Strafverfolgungsbehörden verlegt und dem Vernehmen nach wird Julian Assange wieder nur über Videoverbindung erscheinen dürfen oder können, und möglicherweise werden erneut vorrangig Formalitäten verhandelt. Am Freitag wissen wir vielleicht mehr.
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