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Titel: Immer noch „Regime Change“ in Syrien? Von Dr. Gerhard Fulda
Datum: 5. Juni 2019 um 15:36 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Erosion der Demokratie, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
„Regime Change“: Wir haben diese beiden englischen Wörter im Verbund gründlich in unseren Sprachgebrauch übernommen, weil wir sie gar nicht so prägnant ins Deutsche übersetzen können. Es geht nicht, einfach zu sagen: „Regierungswechsel“. Denn das wäre ja eine im Prinzip durchaus erwünschte demokratische Selbstverständlichkeit.
Nein, bei dem, was „Regime Change“ genannt wird, geht es in der Regel gar nicht demokratisch zu. Und erst recht nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht. Es kommt von außen, gebärdet sich aber als interne Bewegung.
Es ist offenbar das Wort „Regime“, welches eine bewusst vieldeutige Missachtung zum Ausdruck bringen soll. Und manchmal kündigt die Verwendung dieses Wortes eine beabsichtigte militärische Intervention an. Das lässt sich mit Beispielen aus der beruflichen Erfahrung des Autors illustrieren.
Im Grundsatzreferat Vereinte Nationen in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes musste im Oktober 1983 eine Stellungnahme zu der Invasion der USA in dem kleinen Karibikstaat Grenada erarbeitet werden.
1979 hatte es in Grenada einen kaum blutigen Putsch gegen einen USA-freundlichen Ministerpräsidenten gegeben. Der neue Machthaber Maurice Bishop verstaatlichte ein paar Betriebe, konzentrierte sich auf die arme Bevölkerung. Er erhielt verbal die Unterstützung der Sowjetunion und Kubas und erklärte trotzdem seine Blockfreiheit. Das half gar nichts gegen den Gegenwind aus Washington. Es hieß, er habe den Anfang von Bauarbeiten zugelassen für eine große sowjetische U-Boot-Basis.
Diese Gerüchte verstummten erst, als ein amerikanischer Journalist dorthin reiste und mit der Erkenntnis zurückkam, dass die Gewässer um die Insel so flach waren, dass man auch nicht entfernt an U-Boote denken konnte. Anfang 1983 hatte das Pentagon verlauten lassen, in Grenada seien sowjetische Torpedoboote, MIG-Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber eingetroffen. Solches Kriegsgerät hat allerdings weder damals noch später irgendjemand gesehen.
Als dann mit Krediten der Weltbank und einiger europäischer Länder ein Flughafen für den Tourismus erweitert werden sollte, war die Administration von Präsident Reagan überzeugt, es gehe um einen sowjetischen Militärflughafen. Maurice Bishop flog zu den VN nach New York, um dies zu widerlegen. Bei der Rückkehr nach St. George wurde er von einem Revolutionskommando verhaftet, vor ein „Kriegsgericht“ gestellt und kurz darauf „hingerichtet“.
Die neue Militärregierung und der britische Gouverneur (als das die Königin repräsentierende Staatsoberhaupt des Commonwealthlandes) erbaten dann den militärischen Beistand der USA und anderer Karibikstaaten. Ein Resolutionsentwurf, der einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verurteilen wollte, scheiterte im Sicherheitsrat der VN am Veto der USA.
Nicht Lateinamerika soll im vorliegenden Text das Thema sein, sondern der Nahe Osten, insbesondere Syrien. Aber mit dieser Einführung wird ein Verhaltensmuster offengelegt, das sehr oft erneut Verwendung gefunden hat:
Fake News, erfundene Bedrohungsszenarien, Unterstützung und Bewaffnung interner Opposition, militärische Intervention. Viele Male in Lateinamerika – aber ähnlich auch in Irak, Libyen, Ukraine, Syrien – als nächstes Iran?
Ein weiteres Land, mit einem ganz anderen, sehr originellen Muster hätte wohl niemand auf dieser Liste erwartet. Nämlich die Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Sturz des Bundeskanzlers Helmut Schmidt.
Viele Leser werden sich erinnern an die Nachrüstungsdebatte in Deutschland. 1982 – der Nato-Doppelbeschluss – dort die SS20, hier die Pershing II – die Friedensbewegung in der SPD – der Widerstand gegen die Stationierung in Deutschland. Schon 2 oder 3 Monate bevor die sozial-liberale Koalition auseinanderbrach und dann Helmut Kohl das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt gewann, hat ein nahe an den Gesprächen Beteiligter gesagt: Er glaube, die Amerikaner führten die Verhandlungen so dickköpfig, weil sie Helmut Schmidt loswerden wollten.
Schmidt hatte den Widerstand in der eigenen Partei überwinden wollen, indem er vorschlug, die Mittelstreckenraketen nicht auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, sondern seegestützt in der Nordsee. Das hätte militärisch sogar den Vorteil gehabt, dass dort solche schwimmenden Abschussrampen von der Sowjetunion aus nicht so leicht hätten vernichtet werden können, weil sie ihren Standort ständig ändern sollten.
Die Amerikaner, so vermutete der damalige Gesprächspartner, seien ohne nachvollziehbare militärische Argumente stur bei den Plänen einer landgestützten Stationierung geblieben. Er hatte dafür nur die Erklärung, die USA hätten geglaubt, dass Schmidt dann in der eigenen Partei zu Fall gekommen wäre und dass diese „Handlungsunfähigkeit“ der SPD zu einem Koalitionswechsel in Bonn führen werde. Mit einer schwarz-gelben Regierung würde Washington dann weniger Schwierigkeiten haben.
Es sieht so aus, als sei auch dieses Modell eines Regime Change nützlich als Blaupause, die wiederverwendbar wird für vergleichbare Fälle. Es ist wohl nicht zufällig, dass Washington in den letzten Monaten das Thema Mittelstreckenraketen wieder einmal auf die Agenda der Nato und der Ost-West-Beziehungen gebracht hat. Diesmal geht es um das Thema 2% des BIP für die Verteidigung. Bei ntv hieß es am 2. April:
„Im Team von US-Präsident Donald Trump gibt es offensichtlich die Hoffnung, dass ein Ausscheiden der SPD aus der Bundesregierung den Weg für deutlich höhere Verteidigungsausgaben Deutschlands ebnen könnte.“
Ob die These aus den achtziger Jahren historisch belastbar ist oder nicht, müssten Historiker entscheiden. Für Völkerrechtler ist schon die bloße Denkbarkeit dieses Szenarios beunruhigend. Der Versuch, auf die politische Willensbildung in einem anderen Land Einfluss zu nehmen, ist eigentlich diplomatische Routine. Diplomaten mischen sich also von Berufs wegen ein. Aber dabei muss es Grenzen geben.
Wann springt dieses Bemühen über in eine völkerrechtswidrige Souveränitätsverletzung? Das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ist ein Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts und nur schwer eindeutig auszulegen. Der Begriff „Souveränität“ ist vielen historischen Veränderungen ausgesetzt.
Es sind die Menschenrechte, die für Unruhe sorgen. Sie sind in internationalen Verträgen vereinbart, gehören zweifellos zum Völkerrecht. Aber sie zielen in das Innere eines anderen Staates, auf das Verhältnis zwischen einer Regierung und ihren Bürgern und das gehört grundsätzlich zur domaine reservé eines souveränen Staates. Dieser Widerspruch sorgt für Streit und steht – um es sehr vorsichtig auszudrücken – in einem Spannungsverhältnis zu allen diplomatischen Bemühungen, Frieden zu bewahren, Kriege zu vermeiden.
Der hier vorgelegte Text will die Leser zum kritischen Nachdenken anregen über einen sehr moralisch erscheinenden Satz:
„Man kann doch nicht einfach zugucken, wie dieses Regime seine eigene Bevölkerung umbringt.“
Kurz bevor der damalige Außenminister Steinmeier zum Bundespräsidenten gewählt wurde, hatte er in Berlin in den Sitzungssaal der SPD im Bundestag zu einer öffentlichen Diskussion mit Staffan de Mistura eingeladen, dem Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Syrien.
Die beiden Hauptredner zu Syrien haben damals eigentlich gar nicht diskutiert, sondern sich Stichworte zugerufen – denn zwischen beide passte kein Blatt. Sie stimmten überein, der Konflikt könne nicht militärisch gelöst werden, nur durch diplomatische Gespräche. Solche Gespräche dürften nicht dazu missbraucht werden, den Machthaber im Amt zu halten – die Zeit dieses Regimes sei abgelaufen.
In der letzten halben Stunde der Veranstaltung durfte man sich aus dem Publikum zu Wort melden. Der Autor dieser Zeilen war der letzte Fragesteller und der erste mit einer abweichenden Meinung. Mit mehreren Argumenten:
Keiner der beiden Redner hat auch nur den Versuch unternommen, auf diese Argumente zu antworten.
Der folgenreichste politische Fehler, der die syrische Katastrophe auslöste, war im Frühherbst 2011 die Entscheidung westlicher Länder, die in Massen auf den Straßen demonstrierende Opposition in Syrien mit Waffen auszurüsten.
Im Juni 2011 hat die junge Frau, die in den ersten Wochen der Demonstrationen von den westlichen Fernsehteams zu d e m Gesicht der Opposition erkoren worden war, Fadwa Sulaimaan, auf einer von der Deutsch-Arabischen Gesellschaft organisierten Tagung gesagt, „um Gottes Willen keine Waffen“! Denn: Wer Geld und Waffen gebe, wisse nie, in wessen Händen das Geld und die Waffen landen. Aus solchen Gründen hatte sich Bundesminister Westerwelle damals gegen deutsche Waffenlieferungen ausgesprochen. Um sich aber im Westen nicht gänzlich zu isolieren, stimmte er ein in den großen Chor der Regime Changer. Das hat sich bis heute nicht geändert. Und immer noch bleibt zu fragen, in wessen Hände wohl die Macht fallen werde nach einer Entmachtung Assads.
Die Absichten derjenigen, die auf einen Krieg zusteuerten, hätten heterogener nicht sein können. Diese widerstreitenden Absichten anderer Mächte sollen im Folgenden wenigstens andeutungsweise dargelegt werden.
Schon regionalpolitisch sehen wir in Syrien ein Gewirr ausländischer Interventionsinteressen.
Die Türkei möchte den nördlichen Landstreifen Syriens unter die eigene militärische Kontrolle bringen, denn dort leben Kurden. Die Kurden Ostanatoliens, in der Türkei benachteiligt und unterdrückt, sollen sich nicht in den Norden Syriens zurückziehen können oder von dort Unterstützung erhalten.
Israel sagt zwar ganz selten, was es wirklich will. Aber es gibt Gründe für die Vermutung, eines seiner Ziele sei ein Zerfall des Nachbarlandes, weil dann keiner der kleinen Nachfolgestaaten die Golanhöhen wieder für sich beanspruchen könnte. Im Laufe der Kriegsjahre ist dieses Ziel später von dem Problem der Beziehungen zum Iran überlagert worden.
Ähnliche Motivverschiebungen kennzeichnen auch die Haltung Saudi-Arabiens. Syrien war zunächst nur ein unwichtiger Nachbar, der aber als Republik im Verdacht stand, gegen die autokratischen Monarchien zu agieren. Die Saudis mochten die Assads nicht – die waren ihnen zu säkular. Sie mochten aber auch die Demonstranten des sogenannten arabischen Frühlings nicht, denn die waren ihnen zu demokratisch. Dann aber entdeckten reiche Saudis, dass man dort relativ einfach Al-Qaida unterstützen konnte. Später wurde schließlich eine angebliche Bedrohung durch Iran in den Vordergrund gestellt.
Irans Rolle ist ebenfalls nicht eindeutig zu benennen. Die Demonstranten auf den Straßen in Syrien waren der Führung in Teheran genauso suspekt wie den Saudis. Es gibt dort drei Machtzentren, in dieser Reihenfolge: den „Obersten Führer“ und seinen Wächterrat, die Revolutionsgarden mit ihrer zum Teil außerbudgetären Finanzierung durch eigene Wirtschaftsbetriebe, und die Regierung unter einem vom Volk gewählten Präsidenten. Die Transparenz des ganzen Systems ist gering – umso erfolgreicher können Akteure anderer Länder die Deutungshoheit über die iranische Außenpolitik in ihrem Sinne beeinflussen. Als gesichert kann man festhalten, dass Iran in Syrien a) Präsident Assad militärisch unterstützt b) sunnitische Milizen bekämpft und c) Waffen an die Hisbollah liefert.
Über dem regionalen Umfeld gibt es die Ebene der Großmächte mit entgegengesetzten politischen Zielen. Das wichtigste Ziel der USA war von Anfang an, Russland im Nahen Osten nicht mehr als Großmacht betrachten zu müssen. Russland, so hieß es, erwirtschafte doch nicht einmal so viel Sozialprodukt wie Kalifornien – was haben die also in Syrien zu suchen?
Das war in Russland im Ergebnis ein Motivationsschub für Putin, der sich natürlich angestachelt fühlte, genau diese Frage in seinem Sinne zu beantworten. Sein eigenes politisches Interesse hatte noch eine andere Dimension: Es ging ihm – wie übrigens ebenso den Chinesen – auch darum, das Thema „Regime Change“ aus der Welt zu schaffen. In Zeiten des wiederauflebenden Ost-West-Konflikts ist das zu einer Frage der persönlichen Machterhaltung der Führer in Moskau und Peking geworden.
Auch das Engagement der Amerikaner war im Laufe der Zeit starken Schwankungen unterworfen. Mit der Wahl von Donald Trump haben sie sich weitgehend zurückgezogen. „America First“ wurde auch dadurch unterstützt, dass die USA inzwischen zum Energieexporteur geworden waren. Erst als sie merkten, dass sie Russlands Rolle so sichtbar wie nie zuvor hatten werden lassen, versuchen sie inzwischen, doch wieder Einfluss zu gewinnen, nicht zuletzt, weil Israel und Saudi-Arabien das gern so hätten.
Diese Wellenbewegungen in den Absichten der im Krieg in Syrien beteiligten Mächte haben es außerordentlich erschwert, überzeugende Lagebeurteilungen zu erstellen. Von allen Seiten wurde versucht, mit verbalen Nebelkerzen das Ausmaß der eigenen Beteiligung herunterzuspielen. Der damalige US-Außenminister Kerry beklagte einmal, die USA hätten erst spät auf den Krieg in Syrien reagiert. Das Land implodiere; die Institutionen des Staates würden zerstört und Syrien könne auseinanderfallen.
Aber die Frage drängte sich auf, ob er mit diesen Worten nicht gerade die Kriegsziele der längst beteiligten USA beschrieben hatte. Der Eindruck sollte erweckt werden, Syrien sei wie ein Schwarzes Loch im Orient, über dessen Ereignishorizont die anderen Staaten hineingesogen würden, ohne ihr Zutun und deshalb ohne ihre Schuld.
Unter all den bisher genannten Ländern ist die Absicht, Regime Change abzuwehren, wahrscheinlich in Iran am stärksten ausgeprägt. Das hat historische Gründe: Seit der gemeinsamen englisch-russischen Invasion 1943 und seit dem Sturz des Premierministers Mossadegh durch die Nachrichtendienste der USA und Großbritanniens im Jahre 1953 war man in Iran an Einmischungen aus dem Ausland gewöhnt.
Die fand nicht ganz ohne deutsche Beteiligung statt: 1979, auf einer Konferenz in Guadeloupe, beschlossen Frankreich, USA, England und Deutschland, nicht mehr den Schah, sondern Chomeini zu unterstützen. Damit wurde dessen Rückkehr aus Paris nach Teheran ermöglicht und die schiitisch/islamische Revolution eingeleitet. Das ist nicht ohne Pikanterie. Der gleiche Kanzler Helmut Schmidt, zu dem eingangs vermutet wurde, dass er einer Regime-Change-Politik zum Opfer gefallen ist, hat wenige Jahre zuvor mitgeholfen, eine solche Handlungsweise hoffähig zu machen.
Dass Israel wünscht, in Teheran müsse ein anderes System etabliert werden, ist Beobachtern seit langem bekannt. John Bolton, Sicherheitsberater im Weißen Haus, setzt sich, mal mehr, mal weniger deutlich, öffentlich für einen Regime Change in Iran ein.
Also: Im gesellschaftlichen Bewusstsein der Iraner ist die historische Erfahrung präsent, dass die Machtverteilung im Inneren, die Essenz der Souveränität, immer wieder von außen determiniert worden ist. Man muss infolge dessen stets darum kämpfen, souverän zu bleiben. Dieses „souverän Bleiben“ gelingt den Staaten am leichtesten, die die Bombe haben, die Atombombe.
In Libyen wäre Gaddafi wohl noch am Leben, wenn er die Bombe gehabt hätte. Indien und Pakistan haben die Bombe und sie wirkt – von kleineren Scharmützeln abgesehen – ähnlich kriegsverhindernd wie bei uns im Kalten Krieg. Nordkorea will die Bombe haben und redet seither mit den USA auf Augenhöhe. Israel hat die Bombe. Ein nicht ganz unwichtiger SPD-Politiker hat vor Mitgliedern seiner Partei, aber auch anderen Gästen, gesagt: Wir als Deutsche haben ihnen doch die U-Boote mit Brennstoffzellenantrieb geliefert, damit sie die unangreifbare nukleare Zweitschlagskapazität haben.
Wenn wir jetzt fragen, warum wollen oder wollten sich Iran und Nordkorea nuklear bewaffnen, dann liegt die Antwort auf der Hand. Sie wollten die Forderung nach Regime Change im Keim ersticken. Übrigens: Der Nuklearwaffensperrvertrag enthält kein dauerhaftes Verbot, sich atomar zu bewaffnen. Auch nicht für die Länder, die sich den Kontrollen der IAEO unterworfen haben. Die Beteiligung an diesem System ist nach dem Inhalt des Vertrages ausdrücklich kündbar. Man muss nur schriftlich begründen, dass man sich bedroht fühlt. Wer, wenn nicht Nordkorea und Iran, kann sich heute glaubwürdig als bedroht bezeichnen?
Hier soll ganz gewiss nicht der Proliferation das Wort geredet werden. Aber Drohungen helfen nicht weiter. Man stelle sich vor, Israel, Saudi-Arabien und die USA würden Iran anbieten, einen substantiierten Nicht-Angriffs-Pakt zu vereinbaren. Dann könnte Iran den NV-Vertrag nicht wirksam kündigen – das Land wäre ja nicht mehr bedroht!
Es ist vor allem auch aus politischen Gründen falsch, die Nichtverbreitung mit Drohungen sichern zu wollen. Diese Drohungen gebären den Wunsch nach Unangreifbarkeit und verstärken den Wunsch, sich nuklear zu bewaffnen.
Nur am Rande: Dieser NV-Vertrag, den Franz Josef Strauß als ein Versailles kosmischen Ausmaßes bezeichnet hat, ist – um zeitgemäß im Jargon zu bleiben – ein ganz besonders schlechter Deal. Die darin enthaltenen Abrüstungsverpflichtungen der Nuklearmächte werden von diesen systematisch und folgenlos unterlaufen. Diese Haltung zu ändern und auch Israel einzubeziehen, wäre für Iran sicher eine wirksame, vertrauensbildende Politik. Aber die Fantasie reicht nicht aus, einen solchen Gedanken für realistisch zu halten.
Was die israelische Seite in diesem Spannungsfeld und auf dem Kriegsschauplatz Syrien angeht, so gehört der Verfasser nicht zu denen, die einen militärischen Angriff Israels auf iranisches Gebiet für wahrscheinlich halten. Springen wir noch einmal einige Jahre zurück. Im Januar 2013 wurde in Israel gewählt. Premierminister Netanjahu reiste zuvor noch nach Washington. Fast täglich hatte er im Wahlkampf einen Militärschlag gegen das iranische Nuklearprogramm gefordert. Nach dem Besuch bei Obama geriet das Thema aus den Schlagzeilen. Was konnte da passiert sein? Hatte er sich von dem amerikanischen Präsidenten eines Besseren belehren lassen? Dass die weltpolitischen Risiken zu hoch seien? Das Ergebnis zu ungewiss? Das Unternehmen zu gefährlich und zu teuer? Ohne direkte Unterstützung der USA nicht machbar?
Die Vermutung liegt nahe, dass Netanjahu für solche Einsichten einen Preis verlangt und erhalten hat. Man konnte sich ja erst einmal Syrien vornehmen. Mit von den USA eingefädelter Unterstützung aus Saudi-Arabien. Solche Argumente sind bis heute fast unverändert aktuell. Die weltpolitischen Kosten eines Angriffs sind zu hoch. Ebenso die militärischen Risiken. Zudem besteht in Washington die Hoffnung, dass schon die wirtschaftlichen Sanktionen Iran ruinieren. Und als Sofort-Hilfe für die Wahlen in Israel werden die Golanhöhen den Besatzern zugeschlagen.
Man hört und liest immer wieder, Saudi-Arabien und Iran kämpften um die Vorherrschaft in der Region. Bei genauerem Hinsehen ist das nicht überzeugend.
Früher hat sich Saudi-Arabien politischen Einfluss in den Nachbarländern erkauft. Scheckbuchdiplomatie nannte man das. Das war zuletzt noch sehr sichtbar im Libanon. Dort wäre der Premierminister ohne saudisches Geld nicht im Amt. Die libanesische Armee würde ohne Finanzierung aus Riad noch viel weiter als bisher gegenüber den Kämpfern der Hisbollah ins Hintertreffen geraten. Tatsächlich hat Saudi-Arabien in den letzten Jahren im Libanon erheblich an Einfluss verloren. Selbst die Saudis schmerzt es inzwischen, wenn sie erkennen müssen, dass sie über viele Jahre viel Geld umsonst ausgegeben haben.
Daran ist angeblich Iran schuld – aber in diesem Artikel ist bereits versucht worden, ganz andere iranische Beweggründe zu benennen. Iran unterstützt die Hisbollah nicht, um eine Dominanz gegenüber den Saudis zu gewinnen (was immer das auch heißen könnte!), sondern um auf die Bedrohungen aus Israel und den USA eine Gegendrohung in der Hand zu haben; also, um einen Verhandlungschip zu gewinnen.
Saudi-Arabien wird nicht von Iran militärisch bedroht und Iran nicht von Saudi-Arabien. Das subjektive Gefühl, bedroht zu sein, wird auf beiden Seiten dadurch genährt, dass auf der anderen Golfseite jeweils ein existenzbedrohendes Gegenmuster als Herrschaftssystem sichtbar ist: Würden in Riad wie in Iran die Mullahs regieren, dann wäre nicht mehr das Königshaus an der Macht, sondern die Muslimbrüder. Würden in Teheran Verhältnisse herrschen wie in Saudi-Arabien, dann würden die Ayatollahs vertrieben und ein Schah säße dort wieder auf dem Thron. Das heißt, der angebliche Kampf um die Vorherrschaft entpuppt sich als wechselseitige Angst vor einem Regime Change.
Zum Schluss noch einmal weit zurück, noch einmal zu Helmut Schmidt. In einer Kabinettssitzung kam zur Sprache, dass im heutigen Namibia militärische Auseinandersetzungen ausgebrochen waren, zwischen Südafrika, der SWAPO und anderen Befreiungs- und Anti-Apartheidsmilizen. Die dort lebenden Deutschen waren akut gefährdet. Der Kanzler fragte den Außenminister: „Können wir unsere Leute da unten notfalls raushauen?“ So landete die Frage im Völkerrechtsreferat des Auswärtigen Amtes. Völkerrechtlich musste gefragt werden: Wäre ein Einsatz der Bundeswehr als „humanitäre Intervention“ gerechtfertigt? Oder als Angriff völkerrechtswidrig?
In der Geschichte des Völkerrechts war der Rechtfertigungsgrund „humanitäre Intervention“ in der Tat gerade für Fälle dieser Art entwickelt worden, ausschließlich zum Schutz eigener Staatsangehöriger. Aber mit der Charta der Vereinten Nationen war es damit vorbei. Deren Art. 2 Absatz 4 enthält ein absolutes Gewaltverbot. Ausnahmen gibt es lediglich für den Verteidigungsfall. Und: Nur noch der Sicherheitsrat darf über Ausnahmen entscheiden und ein Mandat erteilen.
Die klassische humanitäre Intervention war seither nur noch Geschichte. Und doch scheint der Begriff quicklebendig zu sein. „Man kann doch nicht einfach zusehen…….“ und wenn dann geschossen und getötet wird, dann ist das wohl geradezu eine humanitäre Verpflichtung!
Tatsächlich hatte sich auch in den VN seit den 90er Jahren eine Gegenbewegung entwickelt. Völkermorde wie von Pol Pot in Kambodscha, von den Hutu gegen die Tutsi in Ruanda hatten die moralische Überzeugung gestärkt, die Weltgemeinschaft dürfe in derartigen Fällen nicht den Grundsatz der Souveränität über die Geltung der fundamentalsten Menschenrechte stellen.
Im Jahr 2005 hat eine Sondergeneralversammlung der VN auf der Ebene der Regierungschefs eine Resolution verabschiedet, deren zentraler Begriff lautete: “Responsibility to protect“. Jede Regierung habe die Verpflichtung, Leib und Leben ihrer Bürger zu schützen. Sei sie dazu nicht willens oder nicht in der Lage, dann gehe diese Schutzverantwortung auf die VN über. Der Sicherheitsrat kann dann – trotz des Verbots einer Einmischung in innere Angelegenheiten – aus menschenrechtlichen Gründen ein Mandat zur militärischen Intervention erteilen. Allerdings mit der ausdrücklichen Begrenzung, dies dürfe nicht zum Ziel eines Regime Change erfolgen.
2011 hat dann der Sicherheitsrat wegen des Aufstandes in Libyen und dessen Niederschlagung durch Gaddafi unter Bezugnahme auf die GV-Resolution von 2005 die Einrichtung einer Flugverbotszone beschlossen. Russland und China hatten – zwar zögerlich – sich dem letztlich nicht widersetzt. Doch die Westmächte haben bei der ersten Anwendung dieser Regeln das Mandat weit überdehnt und sofort Jagd auf Gaddafi gemacht. Sie haben alles bombardiert, wo sie glaubten, dort hielten sich Gaddafi oder seine Söhne auf.
Gegen das seitdem zu erwartende Veto Russlands und Chinas wird R2P nie wieder eine Chance bekommen. Und auch aus westlicher Sicht: In wessen Hände fällt die Macht nach dem Sturz eines Diktators? Die Relevanz dieser kritischen Frage wird uns nirgends so drastisch vor Augen geführt wie in Libyen – heute, fast 8 Jahre nach der Ermordung Muammar al-Gaddafis.
R2P ist jetzt so mausetot wie die frühere humanitäre Intervention.
Es ist übrigens nicht schade darum, denn das Konzept war gänzlich unausgereift. Die Frage blieb unbeantwortet, wie man wohl ein Volk vor seinem Diktator retten könne, ohne diesen Diktator mit Regime Change von der Macht zu vertreiben oder ihn umzubringen.
Vor acht Jahren, auf der bereits erwähnten Syrienkonferenz der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, hat sich der Verfasser zu der Frage, ob die Moral nicht doch in diesem Fall über dem Völkerrecht stehen müsse, schon sehr eindeutig geäußert:
„Einen reinen Bürgerkrieg kann es in Syrien nicht geben, er würde sofort zu einem Stellvertreterkrieg mit massiver Beteiligung anderer Staaten, unkontrollierbar und kaum begrenzbar, langanhaltend und mit nicht auszudenkenden zivilen Opfern.
So schrecklich die Berichte über die Gewalt- und Folteropfer Assads auch klingen, die Schrecken eines großflächigen Bürgerkriegs wären noch viel schlimmer.“
Es ist nicht unbedingt ein Vergnügen, recht behalten zu haben.
Die deutsche Haltung zu Venezuela zeigt, dass sich die Bundesregierung erneut zu einer Politik des Regime Change entschlossen hat. Das ist die Abkehr von langen Jahrzehnten deutscher Bekenntnisse zum Völkerrecht. Ausgerechnet vom venezolanischen Außenminister mussten wir uns bei der Ausweisung des deutschen Botschafters daran erinnern lassen, dass der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages die Anerkennung eines Oppositionspolitikers als „Präsident“ durch die Bundesregierung als eine völkerrechtswidrige Einmischung bezeichnet hat.
Moralischer Rigorismus ist nicht als Basis eines außenpolitischen Regelwerkes verwendbar. Jeder einzelne Mensch kann sich moralisch empören und sollte sich moralisch empören. Aber internationale Beziehungen sind Beziehungen zwischen Staaten, in denen Menschen mit individuell sehr unterschiedlichen Moralvorstellungen leben, die noch dazu einem zeitlichen Wandel unterworfen und von einer Region zur anderen anders ausgeprägt sind.
Das Fazit: Zwischen souveränen Staaten können Gespräche über unterschiedliche Interessen, Verhandlungen mit dem Ziel von Kompromissen nur geführt und eine Friedenspolitik nur betrieben werden, wenn wir prinzipiell und überall auf Regime Change verzichten; in Syrien ebenso wie in Venezuela. Und in Deutschland dürfen wir uns nichts Derartiges gefallen lassen – was aber schwerfällt, wenn wir uns selbst in ähnlichen Situationen ebenso völkerrechtswidrig verhalten.
Dr. Gerhard Fulda, Botschafter a.D., ist Vizepräsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft und Mitglied im Beirat der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft. Der vorliegende Text ist als Vortrag auf Einladung mehrerer zivilgesellschaftlicher Gruppen am 23. Mai 2019 in Bremen zur Diskussion gestellt worden.
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