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Titel: Händedruck mit Bolsonaro?
Datum: 1. Juni 2019 um 11:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Rechte Gefahr, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Redaktion
Offener Brief von Frederico Füllgraf an Außenminister Heiko Maas – aus Anlass der Lateinamerika-Konferenz des Auswärtigen Amtes in Berlin.
Sehr geehrter Herr Außenminister!
Es schreibt Ihnen ein brasilianischer Journalist mit deutschem Emigrationshintergrund, eine Perspektive, die mir eine Beurteilung der Brasilien-Politik des Auswärtigen Amtes (AA) erlaubt. Anlässe für diesen Brief sind Ihre jüngsten Besuche von Anfang Mai in Brasilien, Kolumbien und Mexiko und die von Ihnen für Ende Mai angekündigte Konferenz mit Regierungen von 30 Staaten Lateinamerikas und der Karibik, die von deutschen Medien als “große Lateinamerika-Offensive”, aber auch als “Wiederentdeckung Lateinamerikas” durch das AA vorausgesagt wird.
Neuausrichtung der deutschen Lateinamerika-Politik ist Imperativ der Stunde
Ihr Dialog-Ersuchen ist selbstverständlich zu begrüßen.
Es ist verständlich, dass Sie das seit 1999 verhandelte und immer wieder aufgeschobene Freihandelsabkommen der EU-Kommission mit dem Wirtschaftsbündnis Mercosur (Uruguay, Paraguay, Brasilien, Argentinien, unter Ausschluss Venezuelas) endlich unterzeichnet sehen sowie China marktpolitisch in Lateinamerika die deutsche Stirn bieten wollen. Eine Neuausrichtung der deutschen Lateinamerika-Politik ist – wie einschlägige deutsche NGOs und Vertreter der Opposition im Deutschen Bundestag Ende April forderten – zweifellos nicht nur überfällig, sondern ein Imperativ.
Indes, worüber reden wir?
Wie aus dem Januar 2019-Bericht (“Panorama Social de América Latina”) der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) zu entnehmen ist, vegetieren nach der Machtübernahme durch konservative Regierungen in der Region neuerdings wieder 62 Millionen Menschen – circa 10,2 Prozent der gesamten Bevölkerung – unter der Armutsgrenze. Hier wäre ein Hebel der deutschen Außenpolitik anzusetzen.
Im Einzelnen sprechen die Zahlen eine erschütternde Sprache.
● In Brasilien erreichte zwischen 2014 und 2017 das Anwachsen der Armut gar 21 Prozent der Bevölkerung. Nach jüngsten Angaben der Weltbank lebten unter der Regierung der gestürzten Präsidentin Dilma Rousseff ca. 36 Millionen – rund 17,9 Prozent der Bevölkerung – in Armut. Seit ihrer Amtsenthebung im Jahr 2016, mit der darauffolgenden Rezessionspolitik der Regierung Michel Temer, nahm die Armut um 7,3 Millionen Menschen zu.
● Frauen, Kinder, Afro-Brasilianer und indigene Völker zählen zu den Hauptbetroffenen, jedoch besonders dramatisch ist die Lage der Kinder. Nach Angaben der brasilianischen Stiftung Abrinq gehören derzeit 9,4 Millionen Kinder und Heranwachsende unter 14 Jahren zu den Opfern extremer Armut.
Ein nicht weniger besorgniserregendes Merkmal der meisten lateinamerikanischen Länder ist die hier vorherrschende „Demokratie niedriger Intensität“, wie der renommierte portugiesische Sozialwissenschaftler Prof. Boaventura de Sousa Santos die Schwächen und Gefahren des herrschenden politischen Systems nennt. In erschreckendem Maße bewirkt es soziale Ausgrenzung, staatsbürgerliche Entrechtung und individuellen Schutzentzug.
Sehen Sie sich zum Beispiel die Gewaltstatistik Brasiliens an – sie ist erschreckend.
● Mit 62.500 Morden erreichte Brasilien 2016 die Rekordzahl an gewaltsamen Todesfällen.
● Nach Angaben des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (Ipea) und des brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit (FBSP) werden in Brasilien 30 Mal mehr Menschen ermordet als in Europa.
In Salvador da Bahia traten Sie für die Schaffung eines internationalen Netzwerks zum Schutz von Frauen ein. Die schutzlose Auslieferung brasilianischer Frauen gegenüber männlicher Gewalt ist in der Tat von katastrophalem Ausmaß.
● Nach Angaben des Jahrbuchs der öffentlichen Sicherheit wurden allein 2017 mindestens 70.000 Fälle von Gewaltausübung gegen Frauen registriert, darunter 946 Mordfälle, Feminizide genannt. Im reichsten Bundesstaat São Paulo nahm die Zahl der Feminizide 2018 gar um 26,0 Prozent zu. Da die Meldungsquote jedoch kaum mehr als 10 Prozent erreicht, schätzen Fachleute die tatsächliche Zahl weiblicher Gewaltopfer auf 500.000 Fälle im Jahr.
● Geradezu schauerlich ist die Bedrohung schwarzer Jugendlicher: Die Zahl Ihrer Tötung, vor allem durch Polizei und organisierte Kriminalität, nahm in den vergangenen 20 Jahren um 429 (vierhundertneunundzwanzig!) Prozent zu.
Hier proaktiv, nicht nur für die Förderung korporativer deutscher Geschäftsinteressen, sondern für die Armuts-Überwindung, den Schutz der Menschenrechte und die Stärkung der Demokratie – anders ausgedrückt: die „Demokratie demokratisierend” – zu wirken, würde in der Tat von den Betroffenen als selbstloser und edler Gestus der deutschen Außenpolitik gewertet werden.
Händedruck mit rechtsextremistischem Gewaltprediger?
Vor diesem grauenvollen Hintergrund erstaunte mich allerdings sehr Ihr Händedruck vom vergangenen 30. April mit dem seit knappen 5 Monaten amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro.
Von wenigen Regierungspräsidenten abgesehen, die im Januar seiner Vereidigung beiwohnten, gingen Staatschefs aus aller Welt – inklusive Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Macron – bisher auf Distanz zu dem seit Jahren wegen seiner menschenverachtenden Sprüche und Gewaltverherrlichung verabscheuten brasilianischen Politiker. Doch vergleichbar überstürzt wie die Anbiederung Ihres Botschafters in Brasília, Georg Witschel, ließen Sie sich am vergangenen 30. April mit Bolsonaro vor den Weltmedien fotografieren.
Warum diese Eile?
An dieser Stelle bitte ich Sie, mir eine unerlässliche Rückblende zu erlauben, Ihr Protagonist ist nämlich Botschafter Witschel.
Angetrieben von selten gesehenem Vernichtungswahn, hatte der rechtsradikale Kandidat Bolsonaro bei zwei unterschiedlichen Wahlauftritten im September 2018 brutale Gewaltanwendung gegen die Arbeiterpartei (PT) gepredigt. Mit einem Fotostativ ein Maschinengewehr mimend, stiftete er seine Anhänger während einer Veranstaltung im nordwestbrasilianischen Acre dazu an, „das Gesindel der PT niederzumähen!”. Im Verlauf eines anderen Auftritts hatte er „die Unterordnung der Minderheiten unter die Mehrheiten, und sei es zum Preis der Auslöschung” angedroht.
Wenige Tage nach diesen zugleich grotesken und barbarischen Aufrufen wurde der Ex-Militär – der seit Jahrzehnten Folter begrüßt und Vergewaltigungen verherrlicht – vom diplomatischen Corps der Europäischen Union in Brasilia zur Bekanntmachung seines Regierungsprogramms eingeladen. Das wäre für das AA die Gelegenheit gewesen, Haltung zu zeigen und sich öffentlich von dem brasilianischen Gewaltprediger zu distanzieren.
Doch nein! Botschafter Witschel, einem erfahrenen Völkerrechtler, fiel nichts Peinlicheres ein, als sich lächelnd an der Seite des Kandidaten ablichten zu lassen und das Foto auf Twitter mit der Bildzeile „interessante Standpunkte des Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro” hochzuladen. Nicht bedenklich genug, Witschel beeilte sich Ende Januar 2019, knappe drei Wochen nach Bolsonaros Amtsantritt, sich bei dessem Vizepräsidenten – dem pensionierten und wegen rechtsradikaler Übergriffe und Beleidigungen während der Regierung Dilma Rousseff strafversetzten General Hamilton Mourão – anzubiedern.
Mit Verweis darauf, dass der „etwas falsche” Ruf der neuen Regierung – insbesondere in der angekündigten Menschenrechts- und Umweltschutzpolitik – verbessert werden müsse, fiel doch Herrn Witschel nichts Unzumutbareres ein, als dem Bolsonaro-Regime die Werbehilfe der Bundesregierung anzubieten. „Es gibt Bedenken in Teilen unserer Gesellschaft. Wir wollen zusammenarbeiten und die neue Regierung an den Handlungen und Fakten messen, nicht an Tweets und Worten, die während des Wahlkampfs gesprochen werden“.
Ihr Bild und das Ihres Botschafters, beide lächelnd an der Seite Bolsonaros, sind wahrhaftig keine Erinnerungsfotos, die die deutsche Außenpolitik in einem guten Licht erscheinen lassen.
Schrecken denn weder Sie noch Ihr diplomatischer Vertreter in Brasilien vor den abscheulichen Sätzen, Bekenntnissen und Drohungen zurück, die Herrn Bolsonaro weltweit berühmt machten?
Haben Ihre Referenten in Berlin Ihnen niemals die Schmähreden und Verbalinjurien des jetzt amtierenden Präsidenten überreicht, nach deren Lesung man sich desinfizierende Augentropfen verabreichen und die Hände waschen sollte?
● „Ich bin für Folter. Und das Volk ist auch dafür.“ – 1999 in einem Fernseh-Interview.
● „Wir hätten 30.000 Korrupte erschießen sollen, angefangen mit (dem damaligen) Präsidenten Fernando Henrique Cardoso.“ – 1999 im gleichen Fernseh-Interview.
● „Mir wäre es lieber, dass mein Sohn bei einem Autounfall ums Leben kommt, als dass er (als Homosexueller) mit einem Typ mit Schnurrbart aufkreuzt“ – Interview für Zeitschrift Playboy, im Jahr 2011).
● „Ich würde Dich nicht vergewaltigen, weil Du zu hässlich, nicht mein Typ bist und weil Du es nicht wert bist!“ – im Jahr 2003 zur Abgeordneten Maria do Rosario, wiederholt im Dezember 2014.
● „Der Fehler der Militärdiktatur in Brasilien bestand darin, dass man gefoltert und nicht getötet hat“ – Interview mit dem Radiosender Jovem Pan, im Juni 2016.
● „Ich würde Männern und Frauen nicht das gleiche Gehalt zahlen. Aber es gibt auch viele kompetente Frauen“ – 2016, in einem Fernsehinterview.
● „Sie sind Nichtsnutze. Ich glaube, sie taugen nicht einmal zur Fortpflanzung.“ – über die Nachkömmlinge afrikanischer Sklaven und ihre Siedlungen, während eines Auftritts in der jüdischen Gemeinde Hebraica, 2017 in Rio de Janeiro.
● „Entweder sie verlassen das Land oder sie landen im Gefängnis. Diese roten Verbrecher werden aus unserem Vaterland verbannt.“ – Drohung gegen die Arbeiterpartei (PT) während eines Wahlauftritts, im Oktober 2018.
Bolsonaros Beschimpfungs-, Beleidigungs- und Diffamierungs-Repertoire ist unendlich und wird täglich bei Verwendung rüdester Wortwahl – von Genital- über Fäkalsprache bis zu krankhaftem Antikommunismus – durch neue Verleumdungen, Affronts und Lügen aktualisiert.
Dieses Repertoire bildete den hassbeladenen Diskurs seiner Wahlkampagne, die erwiesenermaßen mithilfe eines Fake-News-Sturms gewonnen wurde, dessen Untersuchung jedoch durch den Obersten Gerichtshof (STF) vom Oberkommando der brasilianischen Streitkräfte sowie von Teilen der Staatsanwaltschaft beflissentlich hintertrieben wird. Der vom Textvermittlungsdienst WhatsApp potenzierte Fake-News-Sturm wurde nach Erkenntnissen brasilianischer Wissenschaftler von Fachleuten in olivfarbenen Uniformen mitgesteuert.
Ja, Herr Außenminister, eigentlich müsste der Bundesnachrichtendienst (BND) seine Erkenntnisse über die Kommandozentrale der Bolsonaro-Regierung – eine Gruppe von zwei Dutzend Generälen – mit Ihnen geteilt haben. Die zugegebenermaßen zwielichtigen Hintergründe werden allerdings von nichtetablierten, umso mehr investigativen und seriösen Medien seit Monaten beleuchtet.
Generalattacke auf Grundrechte und internationale Isolierung
Zugegeben: Es ist auch verständlich, dass das AA sich um die Erhaltung des Rechtsstaats in Venezuela Sorgen macht. Jedoch, dass Ihnen deshalb ausgerechnet mit Bolsonaros rechtsradikalem Außenminister Ernesto Araújo ein Schulterschluss wichtig war, ist – gelinde gesagt – ein mehr als peinlicher Fehltritt.
Araújo wurde dem Bolsonaro-Regime vom nach den USA geflüchteten Astrologen und einflussreichen, jedoch notorischen Verschwörungstheoretiker Olavo de Carvalho angediehen, der zu den engsten inoffiziellen Beratern des Präsidenten und seiner drei mitregierenden Söhne gehört. Im Übrigen verhinderte Araújos Vater als Staatsanwalt des Militärregimes (1964-1985) in den 1980-er Jahren die Auslieferung des nach Brasilien geflüchteten, vielfachen Nazi-Kriegsverbrechers Gustav Wagner.
Getreu Carvalhos Glaubensbekenntnissen leugnet Araújo den Klimawandel – den er als „marxistische Erfindung“ bezeichnet – befürwortet ein vorrangiges Bündnis mit der US-Regierung und Israel, verteidigt die Errichtung eines „Schutzwalls“ gegen Chinas Rolle als größtem Investor in Brasilien und Lateinamerika und beschwört im Chor mit der Administration Donald Trump die Bekämpfung einer lächerlichen „Achse des Bösen“, die angeblich von Kuba, Venezuela und Nicaragua verkörpert werde.
Mit diesen „Glaubensbekenntnissen“ wider die Vernunft und den gesunden Menschenverstand sollte man sich nicht verbünden, mit ihnen ist weder eine seriöse noch eine nachhaltige Außenpolitik zu betreiben, sehr geehrter Herr Außenminister. Seien Sie doch realistisch und einsichtig: Das Bolsonaro-Regime sieht einer weltweit zunehmenden Isolierung entgegen; sie abzustützen, kann für Deutschland teuer kommen. Sie sollten umgekehrt die weltweiten Alarmsignale ernstnehmen.
Vor wenigen Wochen erklärte New Yorks Bürgermeister den brasilianischen Präsidenten zur Persona non grata. Anlass war eine mediale Inszenierung der brasilianisch-amerikanischen Handelskammer, die Bolsonaro einen Verdienstorden verleihen wollte. Die Veranstaltung wurde vom New Yorker Museum für Naturkunde abgesagt und die Reservierungen der brasilianischen Delegation von einem international renommierten Hotel zurückgenommen. Nicht anders erging es dem brasilianischen Präsidenten im Ersatz-Handlungsort Dallas, dessen demokratischer Bürgermeister sich ebenfalls weigerte, ihm die Hand zu reichen. Selbst der ehemalige republikanische Präsident George W. Bush fühlte sich von ihm belästigt und verweigerte seine Teilnahme an der Preisverleihung. Zigtausende Menschen unterzeichneten im Internet eine Petition mit dem Hashtag #CancelBolsonaro.
Während arabische Staaten wegen der angekündigten, dann zurückgenommenen Verlegung der brasilianischen Botschaft nach Jerusalem mit einem Milliarden Euro schweren Boykott brasilianischer Agrarexporte drohen, demonstrieren deutsche Frauen gegen Bolsonaro, warnen Naturwissenschaftler und Umweltschützer weltweit vor der geplanten Ausweitung der brasilianischen Megafarmen in den amazonischen Regenwald und indigene Völker Amazoniens protestieren in Washington und Brüssel gegen die Freigabe und Zerstörung ihres schwer wiedererkämpften Ahnenbodens durch brasilianische Großgrundbesitzer. Die Präsident Bolsonaro mit automatischen Kriegswaffen zur angeblichen Abwehr von landlosen Bauern und Indianern ausrüsten will.
Die internationalen Proteste und die weltweite Distanzierung von der brasilianischen Regierung sind also eine Reaktion auf ihr innenpolitisches Vorgehen – nämlich eine Generalattacke auf Grundrechte und die Institutionen des Rechtstaats – sowie auf die doppelte Involvierung der Präsidentenfamilie in das organisierte Verbrechen von Rio de Janeiros Milizen und einen von der Staatsanwaltschaft ermittelten Korruptions- und Geldwäscheskandal ungeahnten Ausmaßes.
In weniger als fünfmonatiger Amtszeit wurden bereits die Fundamente des ohnehin bescheidenen Wohlfahrts- und Rechtsstaats mit Gewalt ausgehöhlt, wenn nicht gar demontiert.
Wie Ihre Botschaft und der BND in Brasilia wissen, gehören zu den zentralen, unpopulären Maßnahmen die geplante Rentenreform, die Abschaffung des bisherigen staatlichen solidarischen Rentensystems durch Übernahme des diskreditierten chilenischen, von Pensionsfonds verwalteten „Modells“ der privaten „Sparanlage“. Ferner die bereits beschnittenen Arbeitsrechte – darunter die Kürzung statt, wie üblich, die Erhöhung des vom Parlament genehmigten Mindestlohns – und eine ideologisch motivierte und gewaltsame Demontage des öffentlichen Bildungssystems. Ganz zu schweigen von der Förderung privaten Waffenbesitzes. Nur der massive Widerstand von mehr als 60 Prozent der Brasilianer und Abgeordneten in Brasilia, die sich gegen den Waffenbesitz aussprechen, nötigte den Präsidenten dazu, den Besitz selbst halbautomatischer Sturmgewehre rückgängig zu machen.
Bolsonaros versprochenes Geschenk ging erwartungsgemäß an Vertreter der oberen Zehntausend: unangetastete Steuerhinterzieher, mit Steuerschulden in Höhe hundertfacher Milliarden Euro.
Schlussbemerkungen zur bedauerlichen Rolle des Auswärtigen Amtes
Vielleicht wundert es auch Sie, wie mich selbst, die “Schicksalsverbundenheit” von zwei so unscheinbaren Städten wie dem südbrasilianischen Curitiba – in dem ich aufwuchs – und Witzenhausen in der Grimmschen Märchenlandschaft Nordhessens, aus der meine Familie mütterlicherseits stammt.
Sie wissen bestimmt, dass Curitiba Sitz der Kommandozentrale der Einsatzgruppe Lavajato (“Autowaschanlage”) von Ermittlungsrichter Sérgio Moro zur Bekämpfung der Korruption im halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras ist. Als ihr renommiertester Angeklagter sitzt dort der 2018 bar jeder Beweiskraft zu 12 Jahren Haft verurteilte Altpräsident Luiz Inácio Lula da Silva seit mehr als einem Jahr hinter Gittern.
Sie wissen auch, dass der frühere SPD-Chef, ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments und Ihr Parteikollege Martin Schulz als erster Sozialdemokrat nicht aus deutschen Geschäftsinteressen brasilianischen Boden betrat. Was wir leider nicht von zweifellos ehrenhaften Sozialdemokraten wie dem Widerstandskämpfer und Bundeskanzler Willy Brandt und seinem Nachfolger Helmut Schmidt behaupten können.
Ersterer hofierte bereits 1969 die brasilianische Militärdiktatur mit Verträgen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und schenkte dem damaligen Turnus-Diktator, General Arthur da Costa e Silva, eine goldene Uhr. Letzterer zeigte gar der US-Regierung Jimmy Carters die Stirn und unterzeichnete 1975 mit dem dann amtierenden General Ernesto Geisel ein Atomgeschäft in Milliardenhöhe, das den Appetit der Militärs auf den Besitz der Atombombe erweckte.
Doch zurück zu Martin Schulz. Am 30. August 2018 stattete er dem inhaftierten Ex-Präsidenten Lula – der seine achtjährige Amtszeit mit 87 Prozent Zustimmung der Brasilianer beendete – einen respektvollen Besuch ab. Schulz erklärte damals, „keine Macht der Welt kann mich daran hindern, zu einem Mann, den ich seit vielen Jahren kenne und dem ich vertraue, zu sagen: Ich glaube dir”, und er machte keinen Hehl daraus, dass die Umstände der Prozessführung gegen Lula „ein Licht des Zweifels auf die brasilianische Justiz werfen”.
Keine 24 Stunden nachdem Schulz den Kerker des Ex-Präsidenten verlassen hatte, annullierte die brasilianische Justiz am 31. August die Präsidentschaftskandidatur Lulas, der mit 39 Prozent der Wählerpräferenzen und einem 20-prozentigen Vorsprung gegenüber seinem Herausforderer Jair Bolsonaro das Rennen als klarer Favorit und aussichtsreicher Wahlsieger anführte. Die Folge dieser Entscheidung ist Ihnen ebenfalls bekannt. Am 28. Oktober 2018 ging Jair Bolsonaro als Wahlsieger hervor und trat am 1. Januar 2019 das Amt des Präsidenten Brasiliens an.
Sicherlich hat man Ihnen auch gelegentlich hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass Ermittlungsrichter Moros Ernennung zum Justizminister Bolsonaros inner- und außerhalb Brasiliens nicht nur als „Geschenk“ für Altpräsident Lulas Verhaftung, Verurteilung und Neubewerbungs-Behinderung gewertet wird. Durch gezielte Streuung höchst umstrittener Belastungen gegen Lula an die Medien schädigte Moro außerdem die Kampagne von Lulas Stellvertreter Fernando Haddad.
Gestützt auf diesen, in jedem demokratisch geführten Land der Europäischen Union undenkbaren Eingriff, sinnierte selbst die Tagesschau wenige Tage vor der brasilianischen Stichwahl („Mit Fake News zum Wahlsieg?“, 24. Oktober 2018), dass Bolsonaro nur mit der finstersten und schmutzigsten Fake-News-Kampagne aller Zeiten einen Sieg erringen konnte.
An dieser Stelle fragen Sie sich zu Recht, was hat nun Curitiba mit Witzenhausen am Hut?
Die Witzenhausener „Deutsche Kolonialschule“ wirkte ab 1898 als eine Art Fenster auf die von den etablierten Kolonialmächten aufgeteilte Welt und war eng mit dem kaiserlichen Außenministerium verzahnt. Ihre landwirtschaftliche Ausbildungsstätte besaß starkes Anziehungsvermögen auf junge Kolonial-Verwaltungsanwärter unter Deutschstämmigen in Südamerika, und umgekehrt auf Deutsche, die kein Interesse an Namibia – pardon, “Deutsch-Südwestafrika”! – sondern an Südamerika hatten. Da gab es zwei ehemalige Kolonialschüler, die sich am Tresen des Gasthofs und Hotels “Hessischer Hof”, meines Urgroßvaters, ihr Bier anschreiben ließen und später Karriere machten.
So zum Beispiel der deutschstämmige Argentinier Richard Walther Darré, der als Gründer der völkisch-agrarischen Siedlungsbewegung der „Artamanen“ und Autor des Kampfbegriffs „Neuadel aus Blut und Boden“ von Adolf Hitler zum “Reichsbauernführer“ und Leiter des SS-”Rasse- und Siedlungshauptamts“ ernannt wurde. Oder der rechtsradikale Kapp-Putsch-Milizionär Oswald Nixdorf. Mit Hilfe der NSDAP-Ortsleitung in Curitiba versuchte er die im Jahr 1935 vom ehemaligen Justizminister der Weimarer Republik, Erich Koch-Weser, 400 Kilometer nördlich von Curitiba mit Flüchtlingen der NS-Diktatur – darunter zahlreiche Juden – gegründete Siedlung “Roland“ nach Koch-Wesers Tod zur nationalsozialistischen „deutschen Mustersiedlung” umzubiegen.
Sie tippen richtig! Erich Koch-Wesers Sohn, Caio, war Vizepräsident und geschäftsführender Direktor der Weltbank und von 1999 bis 2005 Staatssekretär im Finanzministerium der Regierung Gerhard Schröder.
Sie fragen sich allerdings, was sollen die längst vom Winde verwehten Namen, die historischen und geografischen Handlungsorte. Sie könnten helfen, die Erinnerung zu schärfen, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister.
Die Erinnerung daran, dass das AA in all diese Episoden als überzeugter Akteur involviert war. So zum Beispiel in die Ausweitung der NSDAP nach Brasilien. Die Ortsleitung Curitiba wurde 1933 von zwei Beamten des AA, nämlich auf Initiative des deutschen Konsulats-Angestellten Werner Hoffmann, mit amtlicher Beteiligung Hans Henning von Cossels – dem damaligen Kulturattaché an der Deutschen Botschaft in Rio de Janeiro und Landesgruppenleiter der NSDAP in Brasilien – gegründet.
Es brauchte mehr als 40 Jahre, bis ihr sozialdemokratischer Vorgänger, Frank-Walter Steinmeier, im Jahr 2016 für die Unterlassungen des AA, ja gar die Duldung und Vertuschung der Verbrechen auf Colonia Dignidad in Chile, mit aufrichtiger Geste vor den Opfern um Vergebung bat. Doch jene Geheimakten des BND, die Einblick in noch erschreckendere als die bekannten Zusammenhänge geben könnten, bleiben weiterhin Verschluss-Sache.
Für die Spionage-Umtriebe der Nazis in Südamerika, die völkische und rassistische Vergiftung der deutschstämmigen Gemeinden in Südbrasilien, hat sich das AA jedoch niemals entschuldigt, geschweige denn, diesen Gemeinden in der Nachkriegszeit demokratische Jugend- und Erwachsenenbildung zur Bekämpfung „herrenmenschlicher” und rassistischer Restbestände nationalsozialistischer „Erinnerung” angeboten.
So wundert es nicht, dass vor nicht allzu ferner Zeit, wenn nicht Adolf-Hitler-Porträts, so doch die Konterfeis von Reichsgründer Otto von Bismarck oder Kaiser Wilhelms II. so manche gute Stube deutscher Einwanderer in Südbrasilien, Argentinien und Chile schmückten. Zu Eis versteinertes Zeitempfinden? Man könnte auch sagen: kulturpolitische Verlassenheit.
Zu den Spätfolgen dieser Unterlassungen, Herr Außenminister, gehören folgende Beispiele und die dramatische Erkenntnis: 86 Prozent der v.a. von deutschen Einwanderern abstammenden weißen und wohlhabenden Wählern in der ehemaligen deutschen Kolonie und heutigen Industriestadt Blumenau sowie 76 Prozent der Wahlberechtigten in der 2-Millionen-Metropole Curitiba entschieden sich bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen von 2018 für den rechtsradikalen, frauenfeindlichen Klimawandel-Leugner und Folter-Befürworter Jair Bolsonaro.
Das hätte mit demokratischer Vorsorge vor Jahrzehnten verhindert werden können.
Mit respektvollen Grüßen
Frederico Füllgraf
Titelbild: Marcos Corrêa / PR
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