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Titel: Widerstand in Brasilien – Die Kampfansage von Millionen gegen Bolsonaros ideologischen Generalangriff auf Bildung und Kultur

Datum: 19. Mai 2019 um 11:45 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Hochschulen und Wissenschaft, Länderberichte, Rechte Gefahr
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Die Bilder und Videoaufnahmen sind beeindruckend. Nach unterschiedlichen Schätzungen marschierten am 15. Mai zwischen 1,5 und 2,0 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer in rund 170 brasilianischen Städten zum ersten Mal seit dem Amtsantritt des rechtsradikalen pensionierten Ex-Hauptmanns gegen die Regierung Jair Bolsonaro. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

An der Kampfansage gegen die ideologische und finanzielle Demontage des öffentlichen Bildungssystems – dessen Kosten bisher rund 6 Prozent des öffentlichen Haushalts ausmachten – beteiligten sich nicht ausschließlich Schüler und Studenten, sondern auch hunderttausende Lehrer und Erzieher und von Gewerkschaftszentralen mobilisierte Arbeiter und Angestellte; darunter mindestens 100.000 Menschen in Belo Horizonte und 200.000 allein in Rio de Janeiro. Aus dem fernen und sicheren Refugium Dallas, im US-amerikanischen Texas, befeuerte der unbeliebte Präsident die Konfrontation, als er die Demonstranten in einem Interview als „nützliche Idioten” der Linken beschimpfte.

Bolsonaro erntete jedoch sofort ungenierte Retourkutschen. „´Nützliche Idioten´ sind diejenigen, die für diesen Hanswurst gestimmt haben!“, erwiderte auf Twitter die einflussreiche Kolumnistin Barbara Gancia von der Tageszeitung Folha de São Paulo. Lindbergh Farias, ehemaliger Senator der Arbeiterpartei (PT), ließ Bolsonaros Provokation nicht kalt und er donnerte per Twitter zurück: „Wenn es einen Idioten in diesem Land gibt, dann bist Du es, @jairbolsonaro! Idiot deshalb, weil Du die Relevanz der Bildung nicht verstehst und mit Deiner Ignoranz die Zukunft Brasiliens zerstörst”.

In einer zweiten Nebenhandlung erging es Bildungsminister Abraham Weintraub nicht besser: Er wurde von der Abgeordnetenkammer ausgebuht und zum Rücktritt aufgefordert. Nach massivem Druck der konservativen Mitte und der linken Parteien, die seit Wochen eine überraschende Mehrheit in der brasilianischen Abgeordnetenkammer zustande brachten, willigte Weintraub auf eine Debatte über die von ihm angekündigten, drakonischen 30-prozentigen Etatkürzungen der staatlichen Universitäten ein, die den aktuellen Hintergrund der Massenproteste bilden.

Dem bisherigen Bankdirektor Weintraub gelang es jedoch nicht, die Notwendigkeit der angedrohten Etatkürzungen überzeugend zu rechtfertigen. Der Minister holte obendrein mit einem unmissverständlichen Plädoyer für das private Bildungsgeschäft die Katze aus dem Sack. „Die Bildungs-Evolution fand im privaten, nicht im öffentlichen Bildungssystem statt”, erklärte Bolsonaros zweiter Bildungsminister in weniger als fünf Monaten Amtszeit.

Weintraub übernahm die Leitung des Bildungsministeriums Anfang April, nach dem Sturz seines Vorgängers Ricardo Vélez. Der eingebürgerte kolumbianische Ausbilder an Schulen der brasilianischen Streitkräfte hatte in einem drei Monate langen Machtkampf zwischen zwei rechtsradikalen Fraktionen mindestens zehn Berater und vier Exekutivsekretäre entlassen und das Ministerium nach Mitarbeiter-Aussagen in ein Szenario „verbrannte Erde” verwandelt, in dem kein einziges, brauchbares Projekt verabschiedet wurde.

Nun fordern nicht nur die Hochschulen und die Straßen ebenfalls den Abgang Weintraubs. Auch im Parlament mehren sich Stimmen für seinen Rücktritt, darunter selbst ultrakonservativer Politiker wie des Abgeordneten José Nelto aus Bolsonaros politischer Basis. Vor dem Plenarsaal redete Nelto Tacheles: „Weintraub soll seinen Hut nehmen!”.

Der Empörung über die geplante bildungspolitische Demontage schloss sich auch das ferne Ausland an. Mehrere tausend Wissenschaftler von Universitäten aus der ganzen Welt – darunter Professoren der US-amerikanischen Berkeley-, Harvard-, Princeton- und Yale-, der britischen Oxford- und Cambridge-Universität sowie der französischen Sorbonne – hatten bereits Anfang Mai ein Manifest gegen die angekündigten Etatkürzungen, vor allem im Bereich der Humanwissenschaften, unterzeichnet und die Fachbereiche Philosophie und Soziologie als Meilensteine der Aufklärung verteidigt.

„In unseren demokratischen Gesellschaften steht es nicht den Politikern zu, darüber zu entscheiden, was gute oder schlechte Wissenschaft ist. Wissensbildung und ihr Nutzen dürfen auf keinen Fall mit dem Ziel bewertet werden, ob sie der Ideologie derer dienlich sind, die sich gerade an der Macht befinden”, warnten die Wissenschaftler das Bolsonaro-Regime.

Die rechtsradikale Offensive gegen die Bildungserrungenschaften der Ära Lula/Dilma Rousseff

Bolsonaros ideologischer Generalangriff zielt unbestrittenermaßen auf die Zerstörung der Errungenschaften der Regierungen Luiz Inácio Lula da Silvas und Dilma Rousseffs in der Bildungspolitik. Ausgerechnet dem ehemaligen Metallarbeiter Lula da Silva – der lediglich über einen Grundschul- und Facharbeiter-Abschluss verfügt – war eine regelrechte Revolutionierung des öffentlichen Bildungssystems gelungen. Während seiner achtjährigen Amtszeit verdreifachte der seit einem Jahr inhaftierte Ex-Präsident nahezu den Bildungsetat von 18,1 Milliarden Reais im Jahr 2003 auf 54,2 Milliarden Reais im Jahr 2010. Bis Mitte 2016, als seine Nachfolgerin Dilma Rousseff ihre Amtsenthebung erlitt, erreichte der Etat 100 Milliarden Reais; nach damaligem Umrechnungskurs etwa 40 Milliarden Euro.

Mit dem Ziel der Bewertung und Leistungssteigerung des Unterrichts an öffentlichen Schulen schuf Lulas Bildungsminister Fernando Haddad 2007 den sogenannten Index für die Entwicklung der Grundausbildung (Ideb). Zwischen 2007 und 2013 wurden im Bildungsentwicklungsplan (PDE) mehr als 37.000 öffentliche Schulen mit Investitionsmitteln in Milliardenhöhe ausgestattet.

Als Teil des Plans erneuerte und erweiterte das Projekt „Caminho da Escola“ (Der Weg zur Schule) die Flotte der öffentlichen Schulfahrzeuge. Um möglichst viele Kinder, insbesondere an entfernten Orten, zu unterstützen, wurden 40.000 Fahrzeuge zur Verfügung gestellt. Je nach Bedürfnissen der jeweiligen Region verteilte das Programm auch Fahrräder und Motorboote.

Mit einem anderen Projekt – „Mais Escola“/Mehr Schule – wurden 57.000 öffentliche Schulen mit mindestens 7 Unterrichtsstunden/Tag zum Preis von 4,5 Milliarden zu Ganztagsschulen ausgebaut. Neben den regulären Fächern wurden unter anderem pädagogische Begleitung, Umwelterziehung, Sport und Freizeit, Menschenrechte in Bildung, Kultur und Kunst sowie digitale Kultur angeboten.

Mit “Prouni“ gelang Haddad wohl das weltweit größte Stipendienprogramm im Hochschulbereich. Bis 2015 erhielten 2,55 Millionen Studenten mit staatlichen Stipendien dadurch Zugang zu privaten Universitäten. Zusätzlich wurde der bereits existierende “Fies“-Fonds für private Hochschulbildung neu formuliert und mit 2,14 Millionen Begünstigten ausgebaut.

In der Regierung Lula wurde auch die Umstrukturierung und Erweiterung der Bundesuniversitäten konzipiert. Als beispiellose Initiative in der Geschichte Brasiliens brachte das “Reuni“-Programm die öffentlichen Universitäten ins ferne Hinterland. Mit diesem Programm gründeten Haddad und Lula 18 neue Bundesuniversitäten und 173 neue Universitäts-Campi. Innerhalb von neun Jahren verdoppelte sich zwischen 2003 und 2014 die Zahl der Neu-Immatrikulierungen von 505.000 auf 932.000 Studierende. Ebenso gewaltig nahm im gleichen Zeitraum die Zahl der festangestellten Universitätsprofessoren von 40.500 auf 75.000 auf fast das Doppelte zu.

Die „Revolutionierung“ des Bildungssystems erschöpfte sich jedoch nicht in den beeindruckenden Zahlen, sondern sie schlug sich auch in der Qualität nieder: nämlich durch die Demokratisierung von Bildung, Forschung und Kultur, die zum ersten Mal in der 500-jährigen Landesgeschichte Arme, Schwarze und Frauen integrierte. Ein Erlebnis, das Millionen Leben veränderte, wie das von ProUni-Absolvent Cícero Batista – „Arm, schwarz, wuchs hungrig in einem Elendsviertel auf – ich bin Arzt geworden.”

Bildungsministerium: die Hauptbühne der Verschwörungstheoretiker
Außenstehende könnten es so verstehen, als ginge es in Brasilien um das bloße Tauziehen um einen Etat. Immerhin hatte Präsident Jair Bolsonaro Ende April mit gewohnter Stümperhaftigkeit eine Milchmädchen-Rechnung seines Bildungsministers Weintraub vorgetragen: „Die Aufgabe der Regierung ist es, das Geld des Steuerzahlers zu respektieren, den Jugendlichen das Lesen, Schreiben und Handeln beizubringen und dann einen Job zu finden, der Einkommen und Wohlstand für die Familie schafft und die Gesellschaft in ihrem Umfeld verbessert”. Was Weintraub und Bolsonaro in Wirklichkeit meinten, war ihr geplanter Angriff auf die angeblich „unproduktiven” Humanwissenschaften.

Bei seiner Amtseinführung hatte Weintraub bereits erklärt, die Universitäten im brasilianischen Nordosten – die Hochburg der Arbeiterpartei-Wählerschaft, die Bolsonaro während der Präsidentschaftswahl eine empfindliche und vom Ex-Hauptmann unvergessene Niederlage zufügte – sollten „keine Philosophie unterrichten”. Vielmehr, so der von jüdischen Einwanderern abstammende Banker und nun amtierende Minister, „verfügt Jair Bolsonaro in Israel über viele Partnerschaften, um Technologie hier nach Brasilien zu holen. Anstatt dass die Nordost-Universitäten Soziologie anbieten oder Philosophie im Agrarsektor betreiben, sollten sie Agronomie in Partnerschaft mit Israel betreiben. Es ist an der Zeit, mit diesem Hass auf Israel aufzuräumen, den man in Bundesuniversitäten hört. Das ist doch irre, was wir da hören, oder etwa nicht?”, stimmte Weintraub sein Publikum gegen die verdächtigen Nordostbrasilianer ein.

Jair Bolsonaro verbarg jedenfalls nie, dass er die staatlichen Universitäten als ein „Nest gefährlicher Roter” und die Bildungsqualität als katastrophal betrachtet. Die Verbannung der „marxistischen Kultur” und der damit angeblich liierten „Genderideologie” aus Lehrbüchern, Lehrplänen und Vorlesungen ist eine seiner Obsessionen. Doch die ist – mit Verlaub wegen der exkrementalen Ausdruckweise des Präsidenten – nicht auf seinem Mist gewachsen.

Die meisten Deutschen machen sich kaum eine Vorstellung davon, was sich hinter den Kulissen des Bolsonaro-Regimes abspielt. Der ehemalige Leutnant ist eine Schöpfung aus den Kellern kaltblütiger, rechtsradikaler Strategen – wie dem ehemaligen Oberbefehlshaber der Armee, General Eduardo Villas Bôas, und einer Handvoll Generäle im Ruhestand – jedoch auch krankhaftester Verschwörungstheoretiker. Beide gingen ein Bündnis mit neoliberalen Think Tanks ein und bilden das Triumvirat, das sich seit vier Monaten in hanebüchenen Machtkämpfen aufreibt.

„Wir müssen zugeben: Die extreme Rechte, die durch beispiellose und ausgefeilte semiotische Kriegsführung auf den Wegen der formalen Demokratie an die Macht kam, hat […] einen starken Hang zur Verschwörung. Im Kontext des semiotischen Krieges ist dies ein gewaltiger Vorteil gegenüber der Linken“, kommentierte Wilson Ferreira, Professor für Kommunikationswissenschaften in Rio de Janeiro.

Ferreira teilt den in Brasilien zunehmend verbreiteten Eindruck, dass im Verhalten des Bolsonaro-Regimes und seiner rechtsradikalen Förderer und Mitläufer stets akute „Gefahren“ wahrzunehmen sind, so als ob ihre Existenz täglich durch ein Umfeld von Verschwörungen bedroht wäre, das von Globalisten, Kulturmarxisten, Kommunisten und LGBTs gesteuert wird, die in den Medien und selbst im Finanzsystem verankert seien. Sogar „kommunistische Bankiers” – was auch immer das haarsträubende Oxymoron bedeuten mag – wie Bildungsminister Weintraub ausgemacht haben will.

Wie Vorgänger Vélez ist Weintraub „Schüler“ einer bizarren, finsteren Gestalt von esoterischer Inspiration namens Olavo de Carvalho, mit der auch Villas Bôas‘ Generäle insgeheim über Bolsonaros „Regierungsplan“ tuschelten.

Deutschen Geschichtsliebhabern wird eventuell der österreichische „Ariosoph“ Guido von List in Erinnerung sein, der in den 1920-er Jahren zu den einschlägigsten geistigen und ideologischen Mentoren Adolf Hitlers und der NSDAP gehörte. Zusammen mit „Madame“ Helena Blavatsky verbreitete von List jene extravaganten Theorien von der angeblichen Überlegenheit der germanischen Arier über alle anderen „Rassen“. Von Lists Einfluss war es unter anderem zu verdanken, dass Heinrich Himmler eine SS-Mission nach Tibet schickte, die vom damaligen Dalai Lama in die indo-tibetische Symbolik des Hakenkreuzes eingeführt wurde und nachträglich die lächerliche „Theorie“ von den Ursprüngen der Germanen im Tibet sowie im mythischen Tula predigte.

Bolsonaros „Ariosof“ ist Olavo de Carvalho, ein wegen Familienkrachs und Betrugs ins US-amerikanische Richmond geflohener ehemaliger Astrologe und selbsternannter „Philosoph“. Carvalho besitzt nicht einmal den regulären Grundschulabschluss, brilliert jedoch seit Jahren in der rechtsradikalen Szene Brasiliens als Autor esoterischer und philosophischer Schriften und betreibt per YouTube einen lärmenden „Kulturkampf“ mit infamen Lügen, vulgärer Sprache und Rufmord gegen die brasilianische Linke und den „Marxismus“.

In seinen Cyberauftritten, die er sich von naiven, rechtsradikal motivierten Anhängern bezahlen lässt, unterstellt der Scharlatan, die Universitäten seien von „einer Diktatur der Linken“ beherrscht, beschuldigt den historischen, italienischen Marxisten Antonio Gramsci als Ideologen der „Untergrabung der Familienwerte“ – insbesondere der „Gender-Ideologie“ – bezeichnet die Relativitätstheorie Albert Einsteins als „Idiotie“ und sinniert, dass „die Erde möglicherweise flach“ sei.

Carvalhos hysterischer Antikommunismus befeuerte bereits 2014 die rechtsradikalen Aufmärsche gegen die Regierung Dilma Rousseff mit der Forderung nach „militärischer Intervention”. Während der Präsidentschafts-Wahlkampagne von 2018, in der Altpräsident Lula die Kandidatur verboten wurde, agierte noch einmal Carvalho hinter den Kulissen der Fake-News-Maschine mit haarsträubenden Verschwörungstheorien und infamen Lügen gegen Ersatzkandidat Fernando Haddad, dem er zum Beispiel unterstellte, während seiner Amtszeit als Bildungsminister Bücher für die „Anstiftung zur Homosexualität” oder an Schulkinder „Milchflaschen mit Mundstück im Penisformat” verteilt zu haben.

Ja, so bizarr es klingt, sollte man es für möglich halten: Carvalho wurde vom Bolsonaro-Clan – dem Präsidenten und seinen drei Söhnen, die Stadtrats-, Abgeordneten- und Senatorenämter bekleiden – als Intimus und einflussreichster ideologischer „Berater“ adoptiert. Carvalho ist das Alter Ego von Jair Bolsonaros Irrsinn.

Titelbild: Dado Photos/shutterstock.com


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