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Titel: Der (fast) klammheimliche Abriss des Münchner Hauptbahnhofs

Datum: 10. Mai 2019 um 16:06 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Verkehrspolitik
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Am 6. Mai wurde in der drittgrößten deutschen Stadt, in München, die Schalterhalle des Hauptbahnhofs geschlossen. Gab es einen Bombenalarm? Durchbrach ein ICE den Prellbock aufgrund von Bremsversagen? Oder fehlte es als Resultat einer Grippewelle schlicht an Personal für eine ausreichende Besetzung der Schalter der Deutschen Bahn AG? Von Winfried Wolf.

Nichts von alledem. Zumal es sich nicht um eine kurzzeitige Schließung des Bahnhofs handelt. Vielmehr sollen die Schalterhalle und der gesamte Bahnhof auf mehr als ein Jahrzehnt geschlossen bleiben. Mehr noch: Der Hauptbahnhof soll in Gänze abgerissen werden. Gebaut werden soll ein neues, 30 Meter hohes Bahnhofsgebäude und eine neue S-Bahn, die „Zweite S-Bahn-Stammstrecke“, die bis zu 40 Meter tief im Untergrund verlaufen soll. Dabei sind alle diese Pläne hoch umstritten und verkehrspolitisch kontraproduktiv. Vieles spricht dafür, dass die Deutsche Bahn ein zerstörerisches Großprojekt durchboxt, das Parallelen zu Stuttgart aufweist. Doch der Reihe nach.

Die Deutsche Bahn als Eigentümerin gab dem Vorgang der Absperrung des Bahnhofsgebäudes am 6. Mai sogar noch einen feierlichen Anstrich; die Münchner Tageszeitung „tz“ berichtete wie folgt: „So ganz ohne Brimborium verabschiedet die Deutsche Bahn sich nicht von ihrem alten Empfangsgebäude: Bevor am heutigen Montag, 6. Mai, um 12 Uhr die Türen zur Schalterhalle des Münchner Hauptbahnhofs verriegelt werden, spielt die ´Gamsgetier-Musi´ um halb zwölf ein letztes Ständchen.“

Das wirkt ausgesprochen zynisch. Es sei denn, man bewertet den Münchner Hauptbahnhof als eine höchst unwirtliche und eines Abrisses würdige Stätte. Vergleichbar ging man im Übrigen vor knapp einem Jahrzehnt in Stuttgart vor. Der damalige baden-württembergische Ministerpräsident (und heutige EU-Kommissar) Günther Oettinger hatte im Rahmen der Stuttgart21-Debatte die Seitenflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs – des „Bonatz-Baus“ – als „Hüttengruscht“ – etwa: „Hütten-Gerümpel“ – bezeichnet. Damit wurde der Abriss der denkmalgeschützten Flügelbauwerke gerechtfertigt. Darauf wird zurückzukommen sein.

Tatsächlich kann man jetzt Vergleichbares in der größten deutschen Tageszeitung, in der Süddeutschen Zeitung, über den Münchner Hauptbahnhof lesen. Dort heißt es: „Die „Aufenthaltsqualität in der Schalterhalle (hielt) sich in Grenzen. Für die meisten hieß es nur: schnell durch! Doch das ist nun vorbei. Die Halle weicht einer riesigen Baustelle, die einige Einschränkungen mit sich bringen wird.“ Im Folgenden wird die Leserschaft dann aufgeklärt, dass „die Bauarbeiten für das neue Empfangsgebäude […] bis 2028 dauern“ würden. Der SZ-Autor, Andreas Schubert, ist sich hinsichtlich des Endes der Bauarbeiten nicht wirklich sicher; er ruft eine Bahn-Verantwortliche in den Zeugenstand. Die „Bahnhofschefin Mareike Schoppe“ habe „wiederholt betont, dass vom Jahr 2030 an der Hauptbahnhof München frei von größeren Baustellen sein soll.“ (7. Mai 2019). Also elf Jahre Großbaustelle.

Nun ist der Münchner Hauptbahnhof zweifelsohne nicht mit den beeindruckenden Bahnhofs-Kathedralen von Frankfurt am Main, Leipzig oder gar mit dem Gare du Nord oder dem Gare du Lyon in Paris vergleichbar. Es handelt sich jedoch um einen interessanten, relativ hellen Zweckbau, der seit langem keine Schmuddel-Ecken mehr aufweist, in dem es Dutzende wohlsortierte Geschäfte, mehrere Restaurants, eine Fachbuchhandlung, Warteräume, eine Lounge, eine großräumige Halle für Information und Ticket-Verkauf gibt. Oder eben gab.

Und just so hat die Deutsche Bahn diesen Bahnhof ja auch beschrieben. In dem Buch „Bahnhofsguide“, ausgestattet mit Vorworten des langjährigen, damaligen Bahnchefs Heinz Dürr und des damaligen Bundesverkehrsministers Matthias Wissmann heißt es: „Wer bis dato die Eisenbahn […] für ein nostalgisches Verkehrsmittel gehalten haben sollte, muss sich in München mit einer anderen, einer verflixt jung gebliebenen Eisenbahn konfrontieren lassen. Der alte Staatsmief ist verflogen. Liften durch Lüften. Für die Therapie zeichnet ein Architekturteam unter Leitung von Rouge E. Fahr verantwortlich. Der Meister hat in den 80er Jahren den etwas altväterlichen Münchner Hauptbahnhof in ein stahl- und glasblinkendes Dienstleistungszentrum verwandelt. […] Inzwischen hat die fachlich versierte Presse das neue Münchner Bahnhofsdesign hochgelobt – manchmal sogar in den bajuwarisch weiß-blauen Himmel, der durch die neuen Glasdächer in den umgebauten Teil der Schalterhalle herein leuchtet. Die neue Galerie bescherte ihr nicht nur eine zweite Ebene […], sondern auch einen recht ´wunderfitzigen´ Laufsteg, von dem aus man das Treiben in der Schalterhalle und in der Bahnsteighalle beobachten kann. […] Der Münchner Hauptbahnhof wirkt schon heute wie ein Theater der Lebensfreude, allerdings ein Theater für jedermann, ein Theater ohne Dünkel, ein demokratischer Laufsteg, der an die große Zeit der Passagen und Flaneure erinnert.“[1]

All das soll jetzt abgerissen werden. Weg mit dem Laufsteg und der Galerie! Weg mit den Passagen! Weg mit dem stahl- und glasblinkenden Dienstleistungszentrum! Schluss mit diesem „Theater der Lebensfreude“.

Wobei sich die heutigen Bahn-Oberen nicht an das Geschwätz der Bahnverantwortlichen von gestern erinnern. Und: Die „vierte Gewalt“, die Medien, halten diesen Unverantwortlichen nicht einmal den Spiegel vor; sie erinnern erst gar nicht an das, als was dieses Gebäude von dem Eigentümer Deutsche Bahn bzw. von den Münchner Medien selbst einmal bezeichnet worden war.

Und wofür das alles? Gibt es in Bälde einen verspielten Hundertwasser-Bahnhof, der Aussicht hat, in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen zu werden? Das ist nicht der Fall. Einmal abgesehen davon, dass zumindest größere Teile des (noch) bestehenden Hauptbahnhofs längst unter Denkmalschutz stehen – und dennoch abgerissen werden sollen. Bislang ist nur klar, dass das neue Bahnhofsgebäude rund 35 Meter und sieben Stockwerke hoch sein soll, dass es ein Service-Center, Gastronomie und – natürlich! – Büros beinhalten soll. Die Deutsche Bahn will auf diese Weise „einen Teil der Baukosten wieder hereinholen“. Offensichtlich geht es um ein Projekt, wie wir dies aus anderen Städten kennen. Aus Gleiswelten mit Geschäftsanschluss sollen Geschäftswelten mit Gleisanschluss werden.

Und wie verhält es sich mit dem Projekt „2. Stammstrecke“? Schließlich soll, so die Süddeutsche Zeitung, „dort, wo die Schalterhalle steht, unterirdisch das Zugangsgebäude für die neue, zweite S-Bahn-Stammstrecke gebaut werden.“

Die „Zweite S-Bahn-Stammstrecke“ soll die chronisch überlastete S-Bahn-Stammstrecke unter Münchens Zentrum durch einen Bypass entlasten. Dazu wird aber nicht der bestehende Südring ausgebaut, der seit Jahrzehnten dafür vorgesehen war und der heute schon als Ersatz im Notfall genutzt wird. Vielmehr wird ein zweiter Tunnel auf sieben Kilometer Länge parallel zur bestehenden Strecke gegraben. Er muss die Stadt in Bergwerkstiefe unter den bestehenden U- und S-Bahnen unterqueren.

Es sind sechs Aspekte, die nahelegen, dass hier ein weiteres unnützes, wenn nicht zerstörerisches, in jedem Fall ein sündhaft teures Großprojekt geplant ist. Es könnte sich zu einem München 21 entwickeln.[2]

Wird die Kapazität erweitert? Nein! Das Gegenteil ist der Fall! // Die Zweite S-Bahn-Stammstrecke wird in der Öffentlichkeit als eine Kapazitätserweiterung dargestellt. Und natürlich erwarten Münchens Bürgerinnen und Bürger, mit einer „zweiten Röhre“ würde sich die Kapazität verdoppeln. Das ist jedoch bereits aufgrund der begrenzten Zulaufstrecken nicht möglich. Mehr noch: Am Ende kommt es zu einem Rückbau von Kapazität. Wie das? Als Ersatz für die heute 30 S‑Bahn-Züge pro Stunde und Richtung werden auf der ersten (alten) Stammstrecke zukünftig nur 21 S-Bahnen je Stunde verkehren. Im Tunnel der 2. Stammstrecke können dann lediglich 15 Züge pro Stunde fahren. Letztere werden aber im Zentrum von bisher neun Stationen nur noch drei Stationen anfahren. Es kommt aus bautechnischen und aus Kostengründen zu dieser deutlichen Haltestellen-Reduktion. Daraus ergibt sich ein Minus von 13 Prozent hinsichtlich der bedienten Halte.[3]

Bringt die Zweite S-Bahn-Stammstrecke einen Netzeffekt oder einen anderen qualitativen Vorteil in verkehrspolitischer Hinsicht? Nein! Das Gegenteil ist der Fall! // Ausgerechnet im IT-Zeitalter, in dem Vernetzung und Netzdenken angesagt sind, orientieren die Planer der Deutschen Bahn AG auf eine Konzentration im Zentrum. Sie schaffen mit der Zweiten S-Bahn-Stammstrecke gewissermaßen eine weitere Bolzstrecke „auf eingefahrenen Gleisen“. Die Zweite Stammstrecke schadet dem Münchner S-Bahn-Netz, weil sie dauerhaft noch mehr Fahrgäste ins Zentrum orientiert oder unter dem City-Zentrum hindurchzuschleusen versucht. Sie schafft selbst keine neuen Verknüpfungen. Das bietet nur das bereits zitierte viel billigere Alternativprojekt, der Teilausbau des existierenden Bahn-Südrings. Hier würden mit drei teils neuen Bahnhöfen sämtliche U-Bahn-Linien und die südliche Innenstadt angeschlossen und der Anfang einer entlastenden Ringstruktur geschaffen. Dieses Zusatzangebot bringt Fahrzeitverkürzungen.

Bietet die Zweite S-Bahn-Strecke den Fahrgästen einen besseren ÖPNV-Komfort? Nein! Das Gegenteil ist der Fall! Unter anderem muss in Zukunft deutlich öfter umgestiegen werden! // Das Großprojekt Zweite S-Bahn-Stammstrecke wird den Reisenden einen Komfort-Verlust bringen. Die Stationen dieser S-Bahn liegen in bis zu 41 Metern Tiefe. Das entspricht 13 Stockwerken. Es wird endlose Ab- und Aufstiege geben. Jeder Fahrgast weiß, dass bei den Großbahnhöfen der Deutschen Bahn AG immer mindestens fünf Prozent der Rolltreppen „außer Betrieb“ sind. In solchen Fällen muntert auch das Maulwurfs-Maskottchen, das bundesweit für all diesen Rolltreppen- (und Umleitungs-) Unbill herhalten muss, die Fahrgäste nicht auf. Wobei es noch einen großen Unterschied macht, ob es um eine nicht funktionierende Rolltreppe in einem maximal zweistöckigen Gebäude – wie dem (noch) bestehenden Münchner Hauptbahnhof – geht. Oder um S-Bahnstationen in 40 Metern Tiefe. Ein weiterer Komfort-Verlust: Die fehlenden Stationen der Zweiten Stammstrecke erzwingen häufige, teils sehr weite Umstiege.

Die Zweite S-Bahn-Stammstrecke ist mit erheblichen Risiken verbunden – sei es in der Bauzeit, sei es während des Betriebs // Bei der Zweiten S-Bahn-Stammstrecke beschleunigt im Fall eines Brandes in den Tunneln die Rauchabsaugung den Brand dermaßen, dass die Reisenden unter nicht auszuschließenden Umständen nicht mehr rechtzeitig evakuiert werden können. In den Zulauftunneln sind die Auslegungsparameter sämtlich auf Höchstrisikowerte ausgelegt, so dass die S-Bahn-Tunnel rund 6-mal riskanter sind als etwa der Citytunnel in Leipzig. Die zweite S-Bahn-Stammstrecke durchschneidet den sogenannten „Lastkegel“ der Frauenkirche und gefährdet deren Standfestigkeit. Zur Beruhigung wird argumentiert, bisher (bevor überhaupt gebohrt wurde) seien die Türme noch nicht abgerutscht und alles würde genauestens überwacht (so dass man wenigstens zuschauen kann, wenn es passiert).

Die Zweite S-Bahn-Stammstrecke erweist sich bereits vor Baubeginn als Fass ohne Boden // Im Jahr 2001 wurde das Projekt Zweite S-Bahn-Stammstrecke mit Kosten in Höhe von 600 Millionen Euro in der Öffentlichkeit und den dafür zuständigen Gremien vorgestellt. Das erschien bereits durchaus als teuer; erwartet wurde damals von vielen ein negativer Nutzen-Kosten-Faktor (NKF) (ein Faktor von unter 1). Es begann das sattsam bekannte Spiel: Nachdem die Grundsatzentscheidung pro Zweite Stammstrecke gefallen war, explodierten die offiziell eingestandenen Kosten. Zunächst auf 1,5 Milliarden Euro, wenig später auf 1,8 Milliarden, dann auf 2,3 Milliarden Euro. Aktuell – wohlgemerkt: weit vor Baubeginn! – wird von Kosten in Höhe von 3,8 Milliarden Euro ausgegangen. Trotz dieser immensen Kostensteigerungen kommt es immer auf Nutzen-Kosten-Werte von … knapp über 1. Und das, obgleich das Projekt aus Sparzwang um immer mehr nutzenspendende Stationen und Verknüpfungen geschrumpft worden war. Dabei konnte im Detail nachgewiesen werden, dass der NKF überhöht wiedergegeben wird, dass diesem erhebliche Fehlannahmen zugrunde liegen: Risiken und Erschwernisse beim Umsteigen wurden ausgeblendet, Unterhaltskosten zu niedrig angesetzt und von der Zweiten Stammstrecke unabhängige Effekte eingerechnet.

In den Kosten-, Nutzen- und Risikokategorien sticht das Alternativprojekt Südring die Zweite S-Bahn-Stammstrecke aus. Bei deutlich weniger Kosten bringt sie ein echtes Leistungsplus, bietet mehr Komfort und kaum bzw. unkritische Risiken. Um es deutlich zu sagen: Die Alternative ist schlicht … zu preiswert!

Wird mit dem Bau der Zweiten S-Bahn-Stammstrecke umgehend begonnen? Ist der Abriss des Bahnhofsgebäudes mit der Notwendigkeit „Baubeginn Zweite S-Bahn-Stammstrecke“ begründet? Nein! Im Gegenteil! Genau genommen gibt es keine Planungsgenehmigung für die Zweite S-Bahn-Stammstrecke! // Im Mai 2018 platzte eine kleine Bombe. Aufgrund bautechnischer Schwierigkeiten am Münchner Haupt­bahn­hof war keine der ins Auge gefassten Baufirmen bereit, die geplanten Arbeiten für die Zweite S-Bahn-Stammstrecke auszuführen.[4] Im Juli 2018 reagierte die Deutsche Bahn darauf mit einer beschönigenden Erklärung, den Baupla­n „optimieren“ zu wollen – u.a. mit der Verlegung der geplanten, über 40 Meter tiefen Station um weitere 80 (in Worten: achtzig!) Meter stadtauswärts. Dazu sollen außerdem Vorkehrungen für eine später zu bauende, kreuzende und ebenfalls umstrittene U-Bahnlinie („U 9“) getroffen wer­den.[5] Die Deutsche Bahn AG geht davon aus, dass es im Fall des Scheiterns der vorliegenden – genehmigten – Pläne und im Fall der erst in Aussicht gestellten gravierenden Planänderung keines neuen Planfeststellungsverfahrens bedarf. Die Aufsichtsbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), hat sich dieser kühnen Auffassung angeschlossen. Womit ein weiteres Mal deutlich gemacht wird, wie unhaltbar die Konstruktion einer Aufsichtsbehörde ist, für die das Bundesverkehrsministerium – ausgerechnet seit vielen Jahren in CSU-Hand – weisungsbefugt ist.

Die oben dargestellten ersten fünf Negativposten der Zweiten S-Bahn-Stammstrecke sollten ausreichen, um das gesamte Projekt auf den Prüfstand zu stellen. Ein Blick nach Stuttgart, wo zwei Jahrzehnte lang behauptet wurde, Stuttgart 21 brächte eine Kapazitätserweiterung und viele Vorteile für den Schienenverkehr und wo es heute buchstäblich niemanden mehr an der Bahnspitze oder im Bundesverkehrsministerium oder an der Spitze der Landesregierung bzw. der Landeshauptstadt gibt, der oder die Vergleichbares kund tun würde, sollte in München alle roten Lampen aufleuchten lassen. In jedem Fall muss der zuletzt angeführte Aspekt, wonach die jahrelang verfolgte Planung für die Zweite S-Bahn-Stammstrecke inzwischen auch von den Planern als nicht durchführbar dargestellt wird, als deutliches Anzeichen für eine wenig ausgereifte Gesamt- und De­tailplanung verstanden und zum Anlass genommen werden, einen sofortigen Baustopp vorzunehmen und ein Moratorium für eine gründliche Planrevision und eine Überprüfung des Gesamtprojekts zu nutzen.

Wenn es stattdessen am 6. Mai 2019 zur Sperrung des Münchner Hauptbahnhofs kam und wenn stattdessen ab Juni mit den Abrissarbeiten beim Bahnhofsgebäude begonnen werden soll, dann erinnert auch dies fatal an die Vorgehensweise bei Stuttgart 21. Lange vor dem eigentlichen Baubeginn von Stuttgart 21, am 13. August 2010 – symbolträchtig am Tag des Baus der Berliner Mauer! – begannen in Stuttgart die Bagger mit dem Abriss des Hauptbahnhof-Nordflügels. Es ging um die Schaffung vollendeter Tatsachen. In Stuttgart erleben wir nun seit mehr als fünf Jahren, welche gewaltigen Umwege und Mühen Tag für Tag 300.000 Menschen als Folge der Stuttgart21-Bauarbeiten auf sich nehmen müssen. Wobei dieser – unter anderem für Menschen mit Behinderungen untragbare! – Zustand noch ein Jahrzehnt lang zu dulden sein wird – wenn das S21-Projekt nicht gestoppt wird. In München kommt es nun, wie die Süddeutsche Zeitung (7.5.) es beschönigend nennt, zu „einigen Einschränkungen“. Hier sind täglich 400.000 Reisende betroffen. Und heute bereits weiß die zitierte Chefin des Hauptbahnhofs, dass das mehr als ein Jahrzehnt lang so sein wird. Wobei es in Stuttgart und in München auch um die Zerstörung bestehender, funktionierender und mit dem Geld von Fahrgästen und Steuerzahlenden finanzierter großer Gebäude geht. In München wird dabei – die Einschätzung der Deutschen Bahn AG sei hier wiederholt – ein „Theater der Lebensfreude“ zerstört.

Eine Besonderheit sei noch vermerkt: Adrian Zielke, der ehemalige außenpolitische Ressortleiter der (die Medienlandschaft in der baden-württembergischen Landeshauptstadt dominierenden) Stuttgarter Zeitung erklärte kurz vor seinem Ruhestand: „Ohne Zustimmung der Stuttgarter Zeitung zu diesem Projekt würde […] Stuttgart 21 nie gebaut werden.“[6] Christoph Engelhardt: „Stuttgart21 und die Zweite Stammstrecke werden zu regionalen Themen degradiert. In München schirmt die Süddeutsche Zeitung ihre Leser zuverlässig von kritischen Informationen zum örtlichen Großprojekt ab.“[7] Beide Blätter gehören im Übrigen zu ein und demselben Unternehmen, zur Südwestdeutschen Medienholding (SWMH).

Trotzt der fatalen medialen Abschottung und der Politik der vollendeten Tatsachen entwickelte sich in den letzten Wochen in München erkennbarer Widerstand gegen den Bahnhofsabriss und teilweise auch gegen das Projekt Zweite S-Bahn-Stammstrecke. In diesem Zusammenhang engagiert sich der Verkehrsclub Deutschland (VCD), der einen Antrag vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof angekündigt hat, den Abriss und die Großbaustelle am Hauptbahnhof zu stoppen[8]. Des Weiteren hat die Münchner Bürgerinitiative AKU (Initiative Münchner Architektur und Kultur) einen Antrag beim Bayerischen Verfassungsgerichthof (BVerfGH) wegen Verletzung der Denkmalschutzbelange gestellt. Das „Münchner Forum“ (Diskussionsforum für Entwicklungsfragen) versandte am 26. April einen Offenen Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten, an den Münchner Oberbürgermeister und an den Bahnchef, in dem u.a. ein sofortiger Baustopp gefordert wird.[9] Inzwischen gibt es auch ein gewisses mediales Echo; offensichtlich fanden die beschriebenen Aktivitäten hier eine erste positive Resonanz.[10]

Zur gesamten Problematik Abriss Hauptbahnhof, Zweite S-Bahn-Stammstrecke und zur Notwendigkeit einer „Verkehrswende für München JETZT” ist für die zweite Junihälfte eine größere Veranstaltung mit möglichst breiter Beteiligung von Bürgerinitiativen, Fahrgast-, Umweltverbänden, Parteien etc. geplant.

Titelbild: Alexandre Rotenberg/shutterstock.com

Winfried Wolf veröffentlichte zu dem Thema „abgrundtief + bodenlos. Stuttgart21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands“, Köln, 380 Seiten, dritte, ergänzte und erweiterte Auflage, März 2019. Er ist verantwortlich für die Website lenk-in-stuttgart.de, mit der die Arbeit des Bildhauers Peter Lenk zur Kritik von Stuttgart 21 und zur Würdigung des zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen dieses Monsterprojekt unterstützt wird. Die NachDenkSeiten berichteten wiederholt über dieses Vorhaben.


[«1] Bahnhofsguide Deutschland, herausgegeben von Helmut Frei, Vorworte von Matthias Wissmann – Bundesminister für Verkehr – und Heinz Dürr, Vorstandsvorsitzender Deutsche Bahn, ohne Jahr, ca. 1995 (Verlag Stadler), Seite 264.

[«2] Kurz nach der ersten Präsentation von Stuttgart 21 im April 1994 präsentierte die Deutsche Bahn weitere Großprojekte vergleichbarer Art, so ein „Frankfurt21“ und ein „München21“. Diese Projekte erwiesen sich jedoch als nicht durchführbar. In Frankfurt stießen sie auf einen heftigen Widerstand einer Basisbewegung („Frankfurt22“). In München sah sich „München 21“ mit dem Widerstand des damaligen Oberbürgermeisters und einer Mehrheit im Stadtparlament konfrontiert.
Im Folgenden orientiere ich mich bei der Darstellung der Zweiten S-Bahn-Stammstrecke an dem Fachaufsatz von Dr. Christoph Engelhardt, Nichts gelernt! Mit Münchens 2. S-Bahn-Stammstrecke wiederholt sich das Desaster von Stuttgart 21, in: Lunapark21 Extra 18/19, 2018/2019, S.40ff. Siehe ergänzend in derselben Publikation den Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Hesse, Ringausbau vor Tieftunnel-Korridor, S.45ff.

[«3] Rechnung wie folgt: Heute verkehren 30 Züge über 9 Stationen, was 270 Halten entspricht. Zukünftig verkehren auf der ersten Stammstrecke 21 Züge mit 9 Halten = 189 Halte und auf der 2. S-Bahn-Stammstrecke 15 Züge mit 3 Halten = 45 Halte. 189 + 45 = 234 Halte. 234 von 270 entspricht 86,7 Prozent. Es kommt zu einem Abbau der Halte von 13 Prozent.

[«4] Siehe: merkur.de/lokales/muenchen/stadt-muenchen/geht-ja-gut-los-plant-bahn-nun-mit-2-stammstrecke-9872990.html

[«5] Siehe dazu auch den folgenden Artikel: W. Hesse: Schwabing‐Wies‘n‐Tram und Nahverkehrs‐Offensive statt U9 – Mehr ÖV für weniger Geld! In: Münchner Forum – Standpunkte 5, 2018, S. 26 – 30
muenchner-forum.de/wp-content/uploads/2018/05/Standpunkte-5-2018.pdf

[«6] Siehe: Hans Peter Schütz, Medien und Stuttgart 21 – Fahrt auf dem schwäbischen Filz, in: stern.de vom 7. Oktober 2010.
Ausführlich zum medialen Filz, der Stuttgart 21 propagierte und zum Hintergrund des Medienkonzerns SWMH siehe: Winfried Wolf, abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, Köln, 3. Auflage, März 2019, S.154ff.

[«7] Christoph Engelhardt, a. a. O., in: Lunapark21, Extra 18/19, S.44.

[«8] Siehe Pressemitteilung des VCD vom 6. Mai 2019.

[«9] Siehe: muenchner-forum.de/2019/stellungnahme-zum-bebauungsplan-des-starnberger-fluegelbahnhofs-2/

[«10] Siehe z.B. Abendzeitung vom 30.4.

Radio Lora vom 29.4. mit einem Interview, das die Hintergründe näher beleuchtet (ab Min. 17:00 bis Min. 27:00).

Münchner Merkur vom 7. Mai und vom 30. April


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