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Titel: Gelbwesten-Appell: Französische Künstler lassen sich „nicht für dumm verkaufen“ – Die deutsche Kulturszene schweigt zum Sozialen
Datum: 10. Mai 2019 um 10:55 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Soziale Bewegungen, Soziale Gerechtigkeit
Verantwortlich: Tobias Riegel
Ihre Solidarität mit den Gelbwesten haben prominente französische Künstler in einem feurigen Appell formuliert. Leider ist eine solch eindeutige Unterstützung sozialen Protests von der deutschen Kulturszene nicht zu erwarten. Von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Einen Appell der Solidarität mit der Bewegung der Gelbwesten haben französische Kulturschaffende veröffentlicht. Der von 1400 teils prominenten Künstlern und Kulturarbeitern unterschriebene Aufruf in der Zeitung „Libération“ lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Diese klare Positionierung französischer Künstler gegen Auswüchse wirtschaftsliberaler Politik lässt fragen, warum ein vergleichbares Signal von der deutschen Kulturszene nicht zu erwarten ist.
Die bedrohlichste Form der Gewalt ist „sozial und ökonomisch“
Der Aufruf wurde unter anderem von der Schauspielerin Juliette Binoche, der Schriftstellerin Danièle Sallenave und zahlreichen weiteren Künstlern aus der ersten Reihe der französischen Kulturszene unterzeichnet, darunter berühmte Musiker, Schriftsteller und Regisseure. In dem Appell wird zum einen die Polizeigewalt gegen die Demonstranten scharf kritisiert. Aber die bedrohlichste Form der Gewalt sei „sozial und ökonomisch“:
„Die bedrohlichste Gewalt ist die wirtschaftliche und soziale. Es ist die Gewalt einer Regierung, die die Interessen einiger weniger auf Kosten aller verteidigt. Es ist die Gewalt, die die Körper und Köpfe derjenigen kennzeichnet, die sich bei der Arbeit ruinieren, um zu überleben.“
Gegen die Medien-Propaganda
Die Gelbwesten seien „eine Bewegung, die alle kulturellen Berufe repräsentiert. Eine Bewegung, die durch die Regierung diskreditiert und unterdrückt“ werde, so der Text. Den medialen Versuch, einen Graben zwischen den Demonstranten und den „normalen“ Bürgern und konkret der Kulturszene zu ziehen, erteilen die Unterzeichner eine Absage:
„Was sie verlangen, verlangen sie für euch alle. Wir sind diejenigen, die die gelben Westen tragen. Wir, Künstler, Techniker, Selbstverwalter all dieser kulturellen Berufe, ob prekär oder nicht, sind von dieser historischen Mobilisierung zutiefst betroffen.“
Und auch den dominanten Medienkonzernen rufen die Unterzeichner zu:
„Wir lassen uns nicht täuschen! Wir können die übermäßig abgenutzten Strategien sehen, mit denen die Gelbwesten diskreditiert werden sollen, die als Antiökologen, Extremisten, Rassisten beschrieben werden.“
Ein Appell ohne Hintertür – Ein mutiger Schritt
In deutschen Medien hat dieser Vorgang entsprechend wenig Widerhall gefunden, so haben nur der „Tagesspiegel“ und die „FAZ“ (Bezahlschranke) darüber berichtet. Der „Tagesspiegel“ räumt immerhin ein, dass „die Medienversion von den Gelbwesten als einer gewaltbereiten Horde antisemitischer, homophober Rechtsradikaler nicht zu halten ist“.
Als ein Defizit des Appells könnte man die nicht ausreichende Thematisierung der Privatwirtschaft und des Einflusses von Konzernen auf die Handlungen der zu Recht scharf kritisierten Regierung anführen. Dennoch ist dieser Aufruf in seiner Leidenschaft und Klarheit eine positive Überraschung. Er ist ein mutiger Schritt – denn er transportiert keine verdruckste Pseudo-Solidarität mit Hintertür, sondern eine für die Unterzeichner riskante Stärkung von Menschen, die in aufwendigen Medienkampagnen als rechte Hooligans gezeichnet werden.
Ist Juliette Binoche ein anti-ökologischer Nazi-Hooligan?
Ein solch eindeutiger Schritt ist aus Deutschland nicht bekannt. Eine ähnlich kompromisslose Abrechnung prominenter Kulturschaffender mit dem wirtschaftsliberalen System in einem relevanten Medium (und eben nicht auf einem unbemerkten Nischen-Podium) steht aus und wird schmerzlich vermisst. Denn Propaganda ist nur dann besonders effektiv, solange sie auf keinen (akzeptierten und hörbaren) Gegenpol trifft.
Einen solchen Gegenpol haben die französischen Künstler nun geschaffen: Wer die Gelbwesten als anti-ökologische Nazis verunglimpft, schließt ab jetzt die Schauspiel-Ikone Juliette Binoche in dieses Urteil ein. Das macht es den Medienkonzernen erheblich schwieriger, mit dieser Diffamierung fortzufahren. Möglicherweise werden sie sich aber die Unterzeichner merken. Mit zeitlichem Abstand zum Appell ist eine mediale Retourkutsche gegen die engagierten Kulturschaffenden nicht ausgeschlossen.
Solche Retourkutschen können sehr schmerzhaft sein. In Deutschland konnte man etwa am Beispiel Peter Handke beobachten, wie ein Künstler medial fertiggemacht wird, der es etwa wagte, sich gegen die dominante offizielle Propaganda vor dem Jugoslawienkrieg zu stellen.
Große und kleine Medien gegen Gelbwesten und „Aufstehen“
Die großen deutschen Medien stehen den Gelbwesten ähnlich feindlich gegenüber wie der Sammlungsbewegung „Aufstehen“, wie die NachDenkSeiten etwa hier oder hier beschrieben haben.
Ein Beispiel dafür, wie diese „Kritik“ aber auch von kleinen Medien und von pseudolinker Seite befeuert wird, liefern etwa die „Blätter“, die schreiben, ein Teil der französischen Linken, aber auch einige ihrer deutschen Genossen, darunter Sahra Wagenknecht, würden „in den Gilets Jaunes vor allem eine klassenkämpferische Bewegung der Unterprivilegierten sehen. Bei näherer Betrachtung erweist sich das allerdings als gefährliche Illusion: Diese Bewegung befördert weniger die soziale Gerechtigkeit als eine Abwendung vom republikanischen Konsens. Unter dem Gelb der Warnwesten findet sich, neben dem Rot, auch sehr viel Braun.“
Engagierte Künstler leben gefährlich
Angesichts des Risikos der sozialen und beruflichen Isolierung ist das Zögern vieler Künstler gegenüber einer Positionierung pro Gelbwesten oder pro Friedensbewegung nicht überraschend. In diesem Text soll auch keine pauschale Verpflichtung für politische Positionierungen durch Künstler eingefordert werden! Im Gegenteil: Die Qualität und Eigenständigkeit vieler aktueller Kunstproduktionen leiden sehr unter einer scheinbar engagierten und in Moral getränkten Pseudo-Politisierung, auf die gut verzichtet werden könnte.
Künstler haben jedes Recht, sich vom real-existierenden Polit-Betrieb abzuwenden. Problematisch und aufreizend wird es aber, wenn zur sozialen Frage einerseits geschwiegen wird – andererseits aber ein Engagement vorgeschützt wird: Dieses „Engagement“ entpuppt sich mitunter schnell als Verteidigung der aktuellen, vor allem privat dominierten Machtstrukturen.
Das neue Pseudo-Engagement: Von „Pulse Of Europe“ bis „Tu was für Europa“
Unter diesem Label kann mutmaßlich die „neue und parteiübergreifende“ Initiative „Tu was für Europa“ , eingeordnet werden, für die sich unter anderem der prominente deutsche Schauspieler Daniel Brühl einsetzt. In eine ähnliche Richtung geht eine Aktion „von Künstlern für Künstler“, bei der „Kreative Ideen entwickeln sollen, wie man Bürger wieder für Europa begeistern könne. Denn Europa drohe von ‚nationalistischen und spaltenden Kräften‘ zerrieben zu werden. Zum problematischen Charakter der Kampagne „Pulse Of Europe“, die ebenfalls von Sternchen der Kulturszene unterstützt wird, findet Ulrike Guérot in der „taz“ die passenden Worte:
„Wir machen das ganz toll – und wenn die anderen das machen wie wir, schaffen die das auch. Nur leider sind die nicht so toll. Darüber, was wirklich passiert ist, haben die FAZ oder die Bild doch nicht berichtet. Und jetzt auf einmal kommt aus der deutschen Zivilgesellschaft heraus dieses Moment für Europa. Natürlich verstehen das die Menschen in den europäischen Nachbarländern nicht unbedingt.”
Diese hier genannten Appelle, Bewegungen und Events haben keine Probleme, Künstler zu finden, die die Bühnen bespielen oder die ihr Gesicht „für Europa“ in die Kamera halten. Doch Aufrufe gegen Hartz-IV-Schikane, für einen würdigen Mindestlohn, für eine gerechte Steuer- und Rentenpolitik, für eine Rückeroberung staatlicher Souveränität gegenüber der Privatwirtschaft oder für eine Aussöhnung mit Russland müssen noch immer weitgehend auf prominente Namen aus der deutschen Kulturszene verzichten.
Künstler für das „Zentrum für politische Schönheit“ und gegen Putin
Das weitgehende Schweigen der Kulturszene zur sozialen Frage sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Kulturschaffende gegen das Prinzip des „engagierten“ Aufrufs nicht einzuwenden haben. So engagieren sie sich für das problematische „Zentrum für politische Schönheit“ und manche Künstler unterzeichnen gar Petitionen gegen Putin.
Nicht ganz so kritisch zu sehen sind Initiativen „gegen Rechts“ wie etwa das hier von Albrecht Müller zu Recht dekonstruierte „Unteilbar“ oder die von Berliner Kulturschaffenden angestoßene „Erklärung der Vielen“. Hinter beiden „Bewegungen“ stehen viele Forderungen, die man sofort unterschreiben kann. Interessanter und problematischer sind jene Aspekte, die bei dieser Fokussierung auf den Kampf „gegen Rechts“ nicht thematisiert werden: Die wirtschaftsliberale Politik als eine zentrale Ursache des Rechtsrucks wird verschwiegen und damit beschützt. Diese Konzentration der „linken“ Analyse auf Symptome (den Rechtsruck) ist unbefriedigend und wird das fortschrittliche Lager weiter spalten.
Kultur als Teil des Verteidigungsbündnisses für die neoliberale Ordnung
So erscheinen die Initiativen von „Pulse Of Europe“ bis „Unteilbar“ trotz ihrer teils schönen Formulierungen doch als Verteidigungsbündnisse des neoliberalen Status Quo: Demnach sollen die „Errungenschaften“ des wirtschaftsliberalen Systems (von innen) gegen die „rechten Horden“ und (nach außen) gegen Russland verteidigt werden.
Darauf kann man nun auch in den Worten von prominenten französischen Künstlern antworten: Die „Hasssprache“ der Nazis und die „Propaganda“ der Russen mögen Probleme bereiten – aber die wahren Probleme liegen laut Appell woanders: „Die bedrohlichste Gewalt ist die wirtschaftliche und soziale.“
Es gibt positive Ausnahmen in der deutschen Kulturszene
Eine seltene und darum besonders bemerkenswerte Ausnahme von diesem Mainstream der deutschen Kulturschaffenden ist etwa der Dramaturg Bernd Stegemann, der eine wichtige Rolle bei der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ spielt. Zu nennen wären auch etwa der Schauspieler Sebastian Schwarz von der Berliner Schaubühne, der Soziologe Wolfgang Engler oder der Schriftsteller Eugen Ruge. Mit starken inhaltlichen Abstrichen könnte man auch noch den Konzept-Künstler Jochen Gerz oder den Schriftsteller Robert Niemann nennen. Sicher gibt es noch weitere in dieser Art engagierte Kulturschaffende, die hier nun keine Erwähnung finden.
Stegemann benennt eine mögliche Erklärung für die Berührungsängste der „Linken“ und der Kulturschaffenden mit der sozialen Frage:
„Einer interessanten Theorie zufolge haben sich die linken Kräfte in den Neunzigern mit dem Erstarken von Globalisierung und Neoliberalismus ein neues Betätigungsfeld gesucht. Weil sie merkten, dass ihnen die Mittel aus der Hand genommen wurden, die soziale Frage noch machtpolitisch zu stellen, haben sie sich auf das neue Feld der symbolischen Anerkennung verlegt. Damit haben sie unwillentlich ein Bündnis geschlossen, das Nancy Fraser ‚progressiven Neoliberalismus’ nennt.“
Wenn „linke“ Intellektuelle in den Chor einstimmen: „Uns geht es doch gut!“
Der Umgang mit der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ war ein guter Test für diese Theorie. Die teils offene Feindschaft der Künstler und Intellektuellen gegenüber „Aufstehen“ muss als schockierend bezeichnet werden. Ein besonders drastisches Beispiel für diese Gegnerschaft ist Klaus Staeck. Der einstige Polit-Grafiker und Ex-Chef der Akademie der Künste sieht in der Sammlungsbewegung „republikbekannte linke Spieler am Werk“. Diese infame Haltung hat Albrecht Müller hier eingeordnet und selbst der „Deutschlandfunk“ kommentiert diese reflexhafte Abwehr der Kulturschaffenden:
„Es sind Stimmen, die in aller Eile ihre eigenen Grenzlinien markieren, bevor eine andere Seite, die bisher nur Luft geholt hat, überhaupt spricht. Offenbar wird eine erhebliche Störung der Ruhe befürchtet. Als wollten sie sagen: Okay, es fehlen Zehntausende Schullehrer, Hunderttausende Kitaplätze und Zehntausende Pflegekräfte. Die Aufstiegschancen für Kinder aus der Unterschicht sind im europäischen Vergleich mit die schlechtesten. Ein paar Millionen Vollbeschäftigte können nicht von ihrer Arbeit leben. Aber es ging uns doch noch nie so gut!“
Titelbild: pcruciatti / Shutterstock
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