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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Billig-Discounter und Freihandel
Datum: 12. April 2010 um 9:05 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Das kritische Tagebuch, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wertedebatte
Verantwortlich: Kai Ruhsert
In letzter Zeit häufen sich die Meldungen, dass einige Billig-Discounter sich nicht an ihre Zusagen halten, faire Arbeitsbedingungen für Beschäftigte bei ihren Lieferanten sicherzustellen. Orlando Pascheit meint, dass an einer generellen Regelung des globalen Handels im Sinne des Arbeiter- und Umweltschutzes kein Weg vorbeiführt.
Auch der Tagesspiegel und die FR haben darüber berichtet:
So clever es ist, das Problem der Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern über das hiesige Wettbewerbsrechts anzugehen, zeigt uns doch dieses Vorgehen, dass diese Problematik nicht aus eigenem Recht angegangen werden kann. Niemand verbietet unseren Discountern in der Dritten Welt unter Mißachtung von Sozial- und Umweltstandards produzieren zu lassen. In der WTO ist es bisher zu keiner Verankerung von Mindeststandards gekommen. Bereits in der der Ministererklärung von Singapur im Jahre 1996 wurde deutlich, dass die Entwicklungsländer Sozial- und Umweltstandards ablehnen, da sie den Verlust von Kostenvorteilen und den Mißbrauch von Normen zu protektionistischen Zwecken fürchten. Auch in Doha (2001) kam man nicht weiter als bis zu Verhandlungsaufträgen.
Die Aussetzung der multilateralen Handelsgespräche im Rahmen der Doha-Runde hat sowohl seitens der EU wie auch der USA verstärkt zu Bemühungen geführt, den Freihandel durch bilaterale und regionale Vereinbarungen zu ersetzen. Beide Wirtschaftmächte versuchen seit 2006/2007 in diesen Verträgen Umwelt- und Sozialstandards zu verankern. Diese haben in den Verträgen der USA allerdings einen verbindlicheren Charakter. So führte der Vertrag mit Marokko u.a. dazu, dass das Mindestalter von Arbeitskräften von 12 auf 15 Jahre angehoben wurde, die Wochenarbeitszeit von 48 auf 44 Stunden gesenkt wurde, die Arbeitnehmer ferner das Recht erhielten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Einschränkung der Trade Promotion Authority des US-amerikanischen Präsidenten 2007 [PDF – 8,6 MB] macht allerdings deutlich, dass es nicht nur um den Schutz von Arbeitnehmerrechten und der Umwelt in den Verhandlungsstaaten selbst geht, sondern auch um den Schutz amerikanischer Arbeiter und Unternehmen.
Für den führenden Freihandelstheoretiker Jagdish Bhagwati ist das eindeutig eine strategische Nutzung von Umwelt- und Sozialstandards im Sinne eines Exportprotektionismus [DOC – 30 KB].
Andererseits ignorieren Freihändler gerne, dass mühsam errungene Arbeitszeitvorgaben, Standards beim Unfallschutz am Arbeitsplatz und Umweltauflagen in den alten Industriestaaten von global agierenden Unternehmen und Finanzinstituten umgangen werden können, indem Arbeit in solche Länder verlagert wird, die weniger fordern. Kinderarbeit und Umweltzerstörung werden im Ringen und Weltmarktanteile von vielen Entwicklungs- aber auch den Schwellenländern immer noch als Wettbewerbsvorteile wahrgenommen. So lehnt die indische Regierung in den derzeitigen Verhandlungen mit der EU die vertragliche Aufnahme von Sozial- und Umweltstandards ab. „Es gibt für uns gewisse rote Linien“, warnte Indiens Staatssekretär für Handel, Rahul Khullar. „Wenn die EU keine Freihandelsabkommen ohne Sozialklauseln akzeptiert, dann kann ich nur sagen: Pech gehabt.“ In vielen indischen Exportbranchen vom Steinmetzhandwerk bis zur Textilindustrie arbeiten Kinder für einen Hungerlohn. Um u.a. diesen „Vorteil“ zu wahren verzichtet die indische Regierung auf einen besseren Zugang zu den europäischen Märkten.
Bei aller Sympathie für die Vorgehensweise im Falle Lidls oder den vielen Fair Trade- Aktionen: Es führt kein Weg an einer generellen Regelung des globalen Handels im Sinne des Arbeiter- und Umweltschutzes vorbei. Fatal wäre es allerdings, wenn wir in kleineren Entwicklungsländern Sozial- und Umweltstandards durchsetzen, aber vor mächtigen Schwellenländern wie Indien und China einknicken würden. Verfehlt wäre es auch anzunehmen, in solchen Handelsabkommen allein bei den Entwicklungsländern eine Bringschuld zu verorten. So sollten wir viel mehr den Entwicklungsländern zugestehen, dass sie in einer Übergangsphase ihre aufstrebenden Industrien z.B. mit Zöllen schützen, bis sie mit uns konkurrieren können.
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