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Titel: Ukraine: Sieg der Vernunft
Datum: 22. April 2019 um 11:26 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Wahlen
Verantwortlich: Redaktion
Wahlsieger Wladimir Selenski will den Minsk-Prozess fortführen und den Krieg im Donbass beenden. Deutsche Medien wissen nicht, wie sie die Niederlage von Petro Poroschenko erklären sollen. Von Ulrich Heyden, Moskau
„Wir haben das gemeinsam gemacht“. Dies waren die ersten Worte von Wladimir Aleksandrowitsch Selenski, mit denen er am Wahlabend nach der Bekanntgabe der Exit-Polls vor seine Unterstützer trat. Der 41-jährige, der mit seinem Comedy-Team „95. Kwartal“ in der Ukraine berühmt wurde, glänzt mit Bescheidenheit. Selenski sieht sich als Jemand, der die Ukraine vereint und aus einer Sackgasse führt. Die Sackgasse trägt die Namen Krieg, Korruption und sozialer Niedergang.
Nach den Exit Polls National – einem Verbund von drei ukrainischen Meinungsforschungsinstituten – hat Selenski die Stichwahl am Sonntag mit 73,2 Prozent der Stimmen gewonnen. Amtsinhaber Petro Poroschenko unterlag mit 25,3 Prozent.
Das Ergebnis ist historisch. Noch nie wurde ein Polit-Neuling zum Präsidenten gewählt. Und noch nie hat bei Präsidentschaftswahlen in der Ukraine ein Bewerber in der Stichwahl so schlecht abgeschnitten.
Ukraine-Politik des Westens ohne klare Linie
Die großen deutschen Medien haben Probleme, den Wahlsieg von Selenski zu erklären. Sie kommentierten den Wahlkampf in der Ukraine mit Arroganz – das sei ein „Zirkus“ (Der Spiegel) – oder demonstrativer Zurückhaltung wie die ARD-Korrespondentin Ina Ruck.
Fünf Jahr lang hatten die großen deutschen Medien die Politik von Präsident Petro Poroschenko schöngeredet und die reale soziale Situation in der Ukraine, die massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten, die katastrophal schlechte Gesundheitsversorgung, die massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften und den Zerfall der Infrastruktur verschwiegen.
Doch nun wird es offensichtlich: Die steigenden sozialen Unsicherheiten und der fortdauernde Krieg in der Ostukraine mit schon 13.000 Toten quittierten die Ukrainer bei der Wahl mit einer Proteststimme gegen die gesamte politische Klasse.
Das Hauptziel des Westens war es, die Ukraine zu einem Frontstaat gegen Russland aufzubauen. Doch die eisenharte antirussische Politik Kiews, das Kappen der wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland, die fanatische „Dekommunistisierung“, das Ausmerzen linker Gedanken und Symbole, und die kulturelle Abschottung von Russland durch das Kappen von sozialen Netzwerken, all das hat das wirtschaftliche und politische Leben in der Ukraine abgewürgt. Und eben das will man im Westen nicht öffentlich eingestehen.
Der Sieg des Maidan 2014 – manche sprechen auch von einem Staatsstreich – wurde von den westlichen Medien als Sieg der Demokratie gefeiert. Doch die vom Westen mit vielen Milliarden unterstützte Politik von Petro Poroschenko hat dazu geführt, dass die Ukrainer ihr Vertrauen in die ukrainische politische Klasse vollständig verloren haben. Das haben wohl auch diejenigen Politiker in den USA erkannt, welche die politische Klasse in Kiew seit dem Maidan beaufsichtigen und in eine für Washington genehme Richtung lenken.
Eine zweite Chance für die Politik des Westens
Mit einem Machtwechsel an der Spitze des ukrainischen Staates bekommt das Ziel des Westens, die Ukraine nach westlichen Bedürfnissen – antirussisch und ohne ausufernde Korruption – zu formen, eine zweite Chance. Korruption macht das Land für westliche Investoren unattraktiv.
Aber wie er die Armut und die Abwanderung von Arbeitskräften konkret bekämpfen will, darüber hat Wahlsieger Selenski bisher geschwiegen. Offenbar glaubt der Polit-Neuling, westliche Investitionen könnten die Ukraine in Schwung bringen. Aber außer der fruchtbaren Schwarzerde und den billigen Arbeitskräften ist für westliche Investoren nichts wirklich interessant in der Ukraine.
Dass Selenski mit Billigung der US-Administration ins Rennen ging, sieht man daran, dass ukrainische Gefolgsleute der USA, wie Michail Saakaschwili und Anton Geraschenko, der Gründer der Website „Friedensstifter“, auf der Namen von „Feinden der Ukraine“ veröffentlicht werden, sich öffentlich für den Polit-Neuling Selenski aussprachen.
Michail Saakaschwili war Präsident Georgiens. Im August 2008 zettelte er einen Krieg gegen das von Georgien abgefallene Gebiet Südossetien an. Nach dem Maidan verlieh Petro Poroschenko Saakaschwili die ukrainische Staatsbürgerschaft und ernannte ihn dann zum Gouverneur von Odessa. Im Januar 2018 wurde Saakaschwili nach einem Zerwürfnis mit Poroschenko mit Hilfe des ukrainischen Grenzschutzes von Kiew nach Polen ausgeflogen.
Bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl in der Ukraine rief Saakaschwili zur Wahl von Selenski auf. Eine Niederlage von „Poroschenko und seiner Clique“ sei „eine große Chance für die Ukraine“, erklärte Saakaschwili, der wegen Korruptionsverfahren aus Georgien geflüchtet ist.
Im Wahlkampf bezeichnete Poroschenko den Herausforderer Selenski als Marionette des ukrainischen Oligarchen Igor Kolomoiski, der aus Angst vor juristischer Verfolgung in Israel lebt, aber immer noch zu den reichsten Männern der Ukraine gehört.
Grund für den Vorwurf gegen Selenski ist, dass die Fernsehserie „Diener des Volkes“, durch die Selenski berühmt wurde, seit drei Jahren vom Fernsehkanal 1+1 ausgestrahlt wird. Dieser Fernsehkanal gehört Kolomoiski.
Selenski werde, um sich eine politische Machtbasis in der Ukraine aufzubauen, zwischen verschiedenen Kräften lavieren müssen, meinen Beobachter. Ihn als Marionette eines Oligarchen zu bezeichnen, sei zu einfach.
Poroschenko will weiterkämpfen
„Ich verlasse meinen Posten, aber nicht die Politik“, erklärte Poroschenko am Wahlabend vor seinen Anhängern. Viele von ihnen hatten Tränen in den Augen, als der Wahlverlierer in einer emotionalen Rede die Erfolge seiner eigenen Präsidentschaft lobte. „Der neue Präsident wird eine sehr starke Opposition haben,“ erklärte Poroschenko.
Für Poroschenko geht es nicht nur um das politische Überleben, sondern auch um die Abwehr von möglichen Strafverfahren gegen seine Person. Beobachter in der Ukraine wollen nicht ausschließen, dass gegen den Wahlverlierer, der in mehrere Korruptionsfälle – auch im Zusammenhang mit Offshore-Firmen – verwickelt ist, Strafverfahren eröffnet werden.
Nicht ausschließen kann man auch, dass sich der Wahlverlierer in einem Strafverfahren wegen dem Verlust der Krim vor Gericht verantworten muss.
Um einer solche Entwicklung vorzubeugen, versucht sich Poroschenko jetzt offenbar als unabkömmlich für das Wohlergehen der Ukraine zu inszenieren.
Dem Wahlsieger bot er Hilfe bei seiner Arbeit an. Die EU und die Nato forderte Poroschenko auf, der Ukraine nach dem Wahlsieg von Selenski „zu helfen“.
Die „Frankfurter Allgemeine“ meint, Selenski müsse „bescheiden sein“ und die Hilfe von erfahrenen Politikern annehmen. Er habe ja keinerlei politische Erfahrung.
Selenski – am Wahlabend von Journalisten auf das Hilfsangebot des Wahlverlierers angesprochen – reagierte souverän. „Ich werde Poroschenko um Hilfe bitten, wenn ich Hilfe brauche. Warum nicht?“
Als seine wichtigsten Ziele bezeichnete Selenski am Wahlabend die Fortführung des Minsker Friedensprozesses, die Beendigung des Krieges im Donbass und die Rückholung aller ukrainischen Kriegsgefangenen und auch der 24 ukrainischen Seeleute, die sich wegen der Überschreitung der russischen Grenze in der Meerenge von Kertsch in russischer Haft befinden.
Poroschenko mit Jesus verglichen
Wie weit sich die ukrainische Führung um Poroschenko in ihren nationalistischen Kurs verrannt hat, zeigte eine Äußerung des Vorsitzenden des ukrainischen Sicherheitsrates, Aleksandr Turtschinow. Er ist einer der Architekten des Sturzes von Präsident Viktor Janukowitsch im Februar 2014. Turtschinow verglich Poroschenko mit Jesus Christus. Schon vor 2.000 Jahren hätten die Menschen von Christus eine schnelle Verbesserung ihrer Lebenslage erhofft. Wie damals hoffe „der Großteil der Menschen heute, ihr Leben nicht durch harte Arbeit, sondern durch ein Wunder zu verbessern“.
Die „Mehrheit der Menschen“ glaube offenbar, man könne „die brutalen äußeren Feinde nicht zum Preis der Vereinigung, zum Preis von äußersten Anstrengungen und Verlusten besiegen, sondern auf ´merkwürdige Weise´ mit überzeugenden Argumenten und dem Charisma eines weiteren Leaders.“
Christus sei nicht auf diese Erde gekommen, „um zu unterhalten, zu füttern oder zu heilen, sondern um uns die Freiheit zu bringen“. Natürlich meinte Turtschinow nicht die Freiheit, eine abweichende Meinung zu äußern, sondern die Freiheit vor jeglichem russischen Einfluss auf die Ukraine.
Selenski will für die Nato werben
Wahlsieger Selenski steht vor keiner leichten Aufgabe. Er hat keinen Parteiapparat und keine eingespielte Mannschaft hinter sich. Allerdings befinden sich unter den Personen, die Selenski am 18. April in einer Fernseh-Talk-Show als „sein Team“ vorstellte, erfahrene Juristen, Hochschullehrer und ehemalige Minister, die in den Kabinetten von Juschtschenko und Jazenjuk gedient haben.
Beobachter halten es für nicht ausgeschlossen, dass Selenski die Werchowna Rada auflöst und vorgezogene Neuwahlen einleitet. Im Vorwege von Neuwahlen könne er eine Partei aufbauen. Der Wahlgewinner kann sich in der Werchowna Rada noch auf keine Koalition stützen.
Eine Koalition mit der Fraktion des Russland-freundlichen Oppositionsblocks in der Werchowna Rada hat Selenski ausgeschlossen.
Seine besten Wahlergebnisse erzielte der Polit-Neuling im vorwiegend russisch-sprachigen Süden und Osten der Ukraine. Der Wahlsieger ist gegen nationalistische Übertreibungen und das kommt in diesen Gebieten gut an. Am Freitag im Olimpiski-Stadion sprach Selenski – als es um den Donbass ging – nicht von „Separatisten, die Russland finanziert“, sondern von „Aufständischen“, was ihm sofort Kritik von hohen ukrainischen Militärs einbrachte. Selenski entgegnete, er habe ein Wort benutzt, das auch auf der Website von Petro Poroschenko benutzt wird.
Das geplante neue Sprachgesetz, welches Ukrainisch zur einzigen Sprache des Landes machen soll, will Selenski nochmal überarbeiten. Die ukrainische Sprache in den Medien will er nicht über Quoten stärken, sondern über Steueranreize.
Einreiseverbote gegen russische Künstler will der Wahlsieger lockern. Sein Freund, der russische Rock-Musiker Andrej Makarewitsch, „der Putin kritisiert“, müsse in die Ukraine einreisen können.
Was das Verhältnis zu Russland und zu den abtrünnigen Gebieten in der Ostukraine betrifft, kommen von Selenski widersprüchliche Aussagen. Zu Beginn des Wahlkampfs plädierte er für Verhandlungen mit Russland. Wenige Tage vor der Wahl erklärte er dann in einem Interview mit Journalisten auf die Frage, ob Putin für ihn persönlich ein Feind sei: „Natürlich“.
Die Menschen in den abgespaltenen Gebieten um Donezk und Lugansk will er mit einem „Informationskrieg“ davon überzeugen, dass die Ukraine „sie braucht“ und die Menschen in den abgespaltenen Gebieten „die Ukraine brauchen“.
Ein Referendum zum Nato-Beitritt der Ukraine soll es nach dem Willen von Selenski erst geben, wenn ausreichend darüber informiert wurde, dass die Nato „kein Tier ist“. Er selbst werde die Menschen davon überzeugen, dass die Nato „niemanden frisst“.
Genugtuung in Moskau
Die russischen Medien und der Kreml hielten sich während des Wahlkampfs in der Ukraine mit Bewertungen der Kandidaten zurück. Offenbar wollte man niemandem Anlass geben, Russland der Einmischung zu bezichtigen.
Das Schweigen wurde erst am Wahlabend gebrochen. Der Vorsitzende des Duma-Komitees für Auswärtige Beziehungen, Leonid Sluzki, sprach von einer „vollständigen politischen Niederlage“ Poroschenkos. „Keine ausländischen Berater, keine antirussischen Provokationen halfen Poroschenko, seinen Posten zu behalten.“ Nun müsse man die ersten Schritte des Wahlgewinners abwarten, um beurteilen zu können, „ob er wirklich ein ´Diener des Volkes´ in der Ukraine ist oder ob er eine Politik im Interesse des ´Washingtoner Parteikomitees´ fortsetzen wird.“
Konstantin Kosatschow, Leiter des Komitees für internationale Beziehungen des russischen Föderationsrates erklärte, der Wahlsieger müsse „den Willen des ukrainischen Volkes verstehen, dass es nun reicht, mit Russland zu streiten und die Nato an uns heranzuziehen.“ Wenn Selenski diese Erwartung der ukrainischen Bevölkerung verstehe, werde Russland „positiv reagieren“.
Poroschenko demütigte den Herausforderer
Selenski hatte die Forderung von Poroschenko nach gemeinsamen Wahlkampfdebatten immer wieder hinausgeschoben. Offensichtlich wollte der politische Neuling, der noch kein ausgearbeitetes Programm hat, es dem Amtsinhaber nicht erleichtern, sich vor den Fernsehkameras als erfahrener Politiker mit internationalen Verbindungen zu präsentieren.
Als es dann am Freitagabend vor 20.000 Zuschauern zu der einzigen gemeinsamen Wahlkampfdebatte im Kiewer Olimpiski-Stadion kam, hielt Poroschenko seinem Herausforderer mit lauter Stimme Unerfahrenheit vor. Das sei eine große Gefahr für die Ukraine, die sich im Krieg befinde.
Einer der Schlüsselsätze des Amtsinhabers lautete, „würden sie sich in ein Flugzeug setzen, in dem der Pilot erst noch lernen muss?“
Selenski stellte zahlreiche kritische Fragen an Poroschenko, wie es komme, dass das ärmste Land Europas einen reichen Präsidenten hat und warum Poroschenko sein Versprechen von 2014, den Krieg zu beenden, nicht eingehalten hat. Dass Poroschenko auf all diese Fragen nicht antwortete, brachte dem Herausforderer Pluspunkte.
Die ukrainische Justiz eilt dem Machtwechsel voraus
In der ukrainischen Justiz, die bisher immer treu an der Seite der Macht stand, begann unmittelbar vor der Stichwahl eine Neupositionierung. Zwei Beispiele seien hier genannt.
Auf Initiative von Poroschenko wurde im Dezember 2016 die Privatbank, die größte Bank der Ukraine, wegen Zahlungsunfähigkeit nationalisiert. Die Bank gehörte dem ukrainischen Oligarchen Igor Kolomoiski. Dieser befand sich nach dem Maidan in einem Konflikt mit Poroschenko, der den wirtschaftlichen Einfluss von Kolomoiski beschneiden wollte.
Am 18. April hat nun überraschend ein Kiewer Gericht entschieden, dass die Verstaatlichung der Privatbank ungesetzlich war.
In der Nacht auf den 16. April wurde die wegen eines angeblichen Staatsstreich-Versuches inhaftierte ehemalige Kampfpilotin Nadeschda Sawtschenko freigelassen. Freigelassen wurde auch Wladimir Ruban, der sich in der Frage des Gefangenenaustausches mit den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk einen Namen gemacht hatte und ebenfalls wegen des angeblich geplanten Staatsstreiches hinter Gitter gebracht wurde.
Das Gericht lehnte es ab, die Haftstrafen der beiden Personen zu verlängern. Die Freilassung gilt bis zum nächsten Gerichtstermin am 7. Mai.
Die politische Zukunft der Ukraine bleibt ungewiss. Doch es macht Hoffnung, dass die Bevölkerung in der Ukraine sich nicht willenlos dem nationalistischen Kurs unterordnet, sondern mit einer Proteststimme einem Mann zum Sieg verholfen hat, der mit kritischen Positionen und sozialen Forderungen in den Wahlkampf zog.
Ulrich Heyden, 21.04.19, Moskau
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