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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Schulen der Civil-Courage
Datum: 8. April 2010 um 8:35 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Kirchen/Religionen, Postwachstumskritik
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Angesichts von immer mehr Missbrauchsfällen an vielen Orten, in vielen Kontexten, verursacht von Personen, die zur Verhinderung berufen sein sollten, selbst aber zu Tätern, zu Mitwissern und zu Verschweigenden wurden, sage und fordere ich:
wir brauchen SCHULEN DER CIVIL-COURAGE! Von Otto Herz
Bevor ich zu den geforderten SCHULEN DER CIVIL-COURAGE Weiteres sage, möchte ich etwas anders anfangen und etwas weiter ausholen.
Der Club of Rome, 1968 von dem Industriellen Aurelio Peccei gegründet, ist ein feiner Club.
Ihm gehören handverlesene Personen aus der ganzen Welt aus Wissenschaft und Wirtschaft, aus Politik und Kultur an, wobei niemand ein offizielles hohes politisches Amt zur Zeit der Mitgliedschaft innehaben darf.
Weltberühmt ist der Club of Rome, quasi über Nacht, mit seinem Weltbestseller geworden, der auf Dennis L. Meadows zurückgeht und 1972 erschienen ist.
Der Titel: Limits of growth. – Grenzen des Wachstums.
Wachstum, so kurz gefasst der Inhalt, ist kein Lösungsmittel globaler Probleme, wie immer angenommen wurde und immer wieder behauptet wird, sondern ein Problem-Erzeugungs-Weg…
Die Welt war durch diese Botschaft Ende der 70iger Jahre des letzten Jahrhunderts schockiert. Der Menschheit wurde damit der mentale Boden, auf dem sie sich eingerichtet hatte, Wachstum heiße per se Wohlstand, unter den Füßen weggezogen.
Doch was nutzte der Schock – ausgelöst durch einen Welt-Bestseller?
Dieser Frage ging ein weiterer Bericht an den Club of Rome nach, der sieben Jahre später erschien, der aber eher kaum bekannt geworden ist.
Dieser neue Bericht beschäftigte sich mit der Frage von „Zukunft und Lernen“.
Denn es zeigte sich: selbst wenn Informationen weltweit verbreitet und auch aufgenommen werden, muss das noch nicht zu einem veränderten Handeln führen.
Der Mensch ist vorzüglich in der Lage, alles ihm durchaus bekannte Wissen zu vergessen und zu verdrängen und nicht zum Maßstab seines Handelns zu machen.
Sollte und soll etwas wirklich anders werden, dann müsste der Mensch und die Menschheit nicht nur wissen, dann müssen sie LERNEN.
Im Bericht „Zukunft und Lernen“ mit dem bezeichnenden Obertitel DAS MENSCHLICHE DILEMMA wird folgendes herausgearbeitet:
Die Menschheit lernte die längste Zeit in ihrer Geschichte nach dem Prinzip des SCHOCK-Lernens. Erst nach den größten Katastrophen widmete und widmet man sich deren Ursachen und versucht, die Folgen der Katastrophen zu beseitigen. Heute dürfen wir in diesem Zusammenhang zum Beispiel an HAITI denken…
Weil sich die Menschheit aber vielleicht zu viele Schocks nicht mehr leisten kann, es könnte ja mal ein letzter gewesen sein, plädiert der Club of Rome für einen Wandel des traditionellen Lernens hin zu einem innovativen Lernen, vom SCHOCK-Lernen hin zu einem ANTIZIPATIVEN Lernen.
Einem Lernen, das Gefahren vorausschauend erkennt, genau und hellsichtig in den Blick nimmt – und dann sich auf die Kompetenzen konzentriert, die dazu beitragen, dass entsprechende Katastrophen erst gar nicht mehr eintreten, zumindest Frühwarnsysteme geschaffen werden, um Katastrophen-Vermeidung rechtzeitig betreiben zu können.
Warum erinnere ich an diesen „Bericht für die achtziger Jahre“ – des letzten Jahrhunderts?
Zur Zeit ist die Welt der Pädagogik und weit über die Pädagogik hinaus, bis zum Papst und bis zu Präsidenten, im weitesten Sinne also, geschockt.
Missbrauch, Missbrauch, Missbrauch – gerade dort, wo Kinder und Jugendliche unterstützt und begleitet werden sollten und sollen, mit Vernunft und Zuversicht aufzuwachsen.
Priester und Pädagogen, gedacht als Anwälte für Kinder, werden zu den Schändigern der Kinder.
Auf „Erziehungs-Inseln“, seien es Familien, Sportvereine, Klöster oder Internate wurde und wird sicher auch derzeit bisweilen ersäuft, was gerade dort geschützt und gestärkt werden sollte:
Wachsamkeit und Achtsamkeit, Respekt und Rückenstärkung vor jeder Person und für jede Person. Je kleiner die Kinder, desto mehr.
Ich bin Schüler der Odenwaldschule. Die Jahre, in denen ich dort als „Industriestipendiat“ sein durfte, die Jahre 1962 – 1965, Jahre also vor denen, die jetzt als die „Jahre des Missbrauchs“ in die 100jährige Geschichte dieses europaweit ausstrahlenden Beispiels einer fortschrittlichen Reformpädagogik eingehen werden, diese Jahre und den Ort bezeichne ich für mich als die „Jahre und den Ort meiner zweiten Geburt“.
Es waren die Jahre meiner geistigen und sozialen Befreiung, es waren Jahre der Ermunterung und Ermutigung sich in lebensbejahender Weise in die gesellschaftlichenSchlüssel-Probleme und Schlüssel-Prozesse einzumischen. Empathisch und Emphatisch. Sach- und selbstkritisch. Immer im Geiste von welt-weit zu denkender Humanität und konkreter Solidarität im Kleinen und im Großen.
Meine Religionslehrerin hieß Trude. Sie wurde von den meisten geduzt. Sie war bald nach 1933 aus dem Hitlerdeutschland nach England emigriert und engagierte sich dort im Widerstand gegen den sich ausbreitenden Hitler-Faschismus in Deutschland. Sie hatte einen theologischen Aufsatz gegen das Hitlersche Führertum geschrieben. Fortan musste sie mit Repressalien rechnen. Da war es besser, rechtzeitig das Heimat-Land zu verlassen, bevor es den gewaltsamen Tod hätte bedeuten können.
Nach dem Ende des Schreckens, nach dem Ende des II. Weltkriegs kam Trude, wie mehrere andere meiner Lehrerinnen und Lehrer auch,aus dem Widerstand nach Deutschland zurück. Auf und an die Odenwaldschule. Das neue Deutschland, das demokratische Deutschland mit aufzubauen, aufzubauen durch Erleben im Zusammenleben, durch Lehren und Lernen, durch Erkennen und Handeln, das war ihr Hauptantrieb ihrer Pädagogikund der meisten Pädagogen, die ich nur bestens in Erinnerung habe.
Diese Karl-Barth-Schülerin Trude hatte mir, wie ich nach ihrem Tode erfuhr, ihre umfangreiche theologische Bibliothek mit vielen Schriften der Bekennenden Kirche vererbt.
So viel zur derzeit attackierten Nähe zwischen Lehrern und Schülern auf der Odenwaldschule, die aber absichtsvoll gerade nicht Schüler und Lehrer hießen, sondern Kameraden – ohne jede Kameraderie – und Mitarbeiter, gleich in welcher Rolle:ob in der Küche, ob in der Landschaftspflege, ob in Werkstätten, ob im schulischen Lehren und lernen, ob im Zusammenleben in der großen Schulgemeinde oder in deren Untergliederung, in so genannten „Familien“. Von Trude habe ich – signiert – DAS MENSCHLICHE DILEMMA erhalten. Den Bericht an den Club of Rome. Über Zukunft und Lernen.
Seit dieser Lektüre in den 80iger Jahren trete ich darum für ein vorausschauendes, für ein antizipatorisches Lernen ein; ich kämpfe gegen die Beschränkung auf das SCHOCK-Lernen.
Und was heißt das nun angesichts der SCHOCK-Wellen, die wegen Missbrauch, vor allem sexuellem Missbrauch der verschiedensten Art mit Schutzbefohlenen, durch die Republik rollen? Oft auch lüstern die Details sprachlich auskostend?
Schulen sind viel zu häufig Orte der Anpassung, ja, auch oft der Unterdrückung. Schon das Wort „unter-richten“ lässt mich immer an Untertanen denken … Ich versuche es daher zu meiden. In befreiender Pädagogik geht es um das Auf-Bauen, nicht um das unter- richten; natürlich schon gar nicht um das ab- richten, das freilich das Handlungsprinzip in den Diktaturen war und ist.
Es gibt sicher mehr Missbrauch durch zu große Ferne und zu große Distanz, Missbrauch durch Miss-Achtung, durch Gleichgültigkeit, denn durch zu große Nähe, die die Achtung und Achtsamkeit verletzt.
Natürlich darf nie der eine Missbrauch gegen den anderen ausgespielt und aufgerechnet werden. Missbrauch ist Missbrauch. Ihn in allen Formen zu verhindern ist unser Auftrag.
Wenn wir aber aus dem gegenwärtigen Schock-Lernen heraus und zu einem innovativen und antizipatorischen Lernen kommen wollen, dann brauchen wir SCHULEN DER CIVIL-COURAGE.
Was ich mit CIVIL-COURAGE meine habe ich auf Plakate und Postkarten gedruckt und versuche, sie vor allem auch in Schulen zu bringen.
Menschen
die hinsehen, statt wegzuschauen;
die den Mund aufmachen, wo andere Schweigen;
die sich einmischen, wo andere sich heraushalten;
die nicht nur im breiten Strom des Üblichen,
sondern auch bewusst gegen den Strom schwimmen;
die immer mal wieder bereit sind, selbst persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, um größere Nachteile für andere und für das Gemeinwesen zu verhindern;
solche Menschen zeigen CIVIL-COURAGE.
Es gibt schon solche Schulen der CIVIL-COURAGE.
(Wer sich dafür interessiert, kann sich gerne an mich wenden.)
Praktisch gehen sie so vor:
Diese Karte geht an eine Jury, mit Namen oder anonym. Die Jury prüft die Vorschläge. Meist sind es vor allem Vorschläge der Schülerinnen und Schüler. Denn niemand kennt so das wirkliche Leben einer Schule wie die Kinder und Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ggfs. recherchiert die Jury nach.
Dann gibt es eine – mindestens halbjährlich, in manchen Schulen vierteljährliche – öffentliche Auszeichnungsfeier, wo die, die den kleinen Mut im Alltag gezeigt haben, in Offenheit ausgezeichnet werden. Die Auszeichnung nehmen oft anerkannte, ja, prominte Personen von außerhalb der Schule vor.
Denn CIVIL-COURAGE ist ausgezeichnet und darum gehört sie auch ausgezeichnet. Nur so, durch das aktive Aufmerksammachen aller und durch die öffentliche Würdigung wird eine KULTUR DER CIVIL-COURAGE wachsen und sich verbreiten.
CIVIL-COURAGE ist die wichtigste Bürgerinnen und Bürgertugend.Sie ist aber immer auch die am meisten gefährdetste. Dass sie in Sonntagsreden gelobt wird verhindert nicht, dass sie in den Alltagen mit Füßen getreten wird.
CIVIL-COURAGE fällt nicht vom Himmel. Sie ist in unseren Genen auch nicht vorprogrammiert. Wir alle aber können sie lernen.
Zum Beispiel in und durch SCHULEN DER CIVIL-COURAGE. In und durch Schulen, in denen hingeschaut und nicht weggeguckt wird. In denen Minderheiten geschützt werden und Mehrheiten nicht nur bestimmen können. In denen das Prinzip des Lebens und Lernens auf gleicher Augenhöhe nicht missachtet, sondern gepflegt und kultiviert, aufgebaut und ausgebaut wird. In denen Widerstand, auch Einzelner, mehr gilt als das konforme Mitmachen der Vielen.
Nur so kommen wir heraus, dass Schocks erst entstehen müssen, die weitere Schocks nach sich ziehen.
Antizipation ist gefragt.
Sie ist viel wichtiger als die nachträgliche Bestrafung, von der wir doch wissen, dass sie wohl manches Gewissen beruhigen, aber nichts wirklich wieder gut machen kann.
Ich durfte dieses Denken und ein entsprechendes Handeln auf der Odenwaldschule meiner Zeit lernen. Durch endlose Diskussionen in diesem Soziotop, das nicht weltabgeschieden, sondern ungewöhnlich weltroffen war. Durch Diskussionen und Diskurse: ebenso kontrovers wie konstruktiv. Unter den Schülerinnen und Schülern. Unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Zwischen den Schülerinnen und Schülern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Wenn die gegenwärtigen Schock-Wellen, ausgelöst durch den schrecklichen und verbreiteten Missbrauch, dazu führen, dass der Geist der CIVIL-COURAGE zum bestimmenden Schul-Geist und zum Geist in vielen Ecken und Winkeln und vielleicht sogar auf den Straßen und Plätzen dieser Gesellschaft wird, dann hätten wir etwas gelernt.
Gelernt für eine bessere Zukunft.
Der Autor Otto Herz studierte nach dem Abitur Psychologie, Pädagogik, etwas Philosophie, etwas Theologie – in Hamburg und Konstanz. In Hamburg war er Initiator der Aktion “Student in die Betriebe”. 1967/68 war Otto Herz stellvertretender Vorsitzender des vds (verband deutscher studentenschaften). 1970 bis 1980 Mitarbeiter in der Universität Bielefeld. Er war beteiligt am Aufbau der Laborschule und des Oberstufen-Kollegs. 1980 bis 1982 Bundesvorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) und von 1981 bis 1984 letzter “Oberleiter” der Hermann Lietz-Schule, dem Gründungsinternat der Deutschen Landerziehungsheime. Danach ging Herz als wissenschaftlicher Mitarbeiter ans Institut für Interkulturelle Erziehung und Bildung, Freie Universität Berlin. Ab 1987 war er im Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest/NRW, tätig für das Projekt “Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule” (GÖS), für COMED e.V., den Verein zur Förderung von Community-Education, und war Leiter der Arbeitsstelle Praktisches Lernen, Universität Dortmund. 1993 bis 1997 Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Vorstandsbereich Schule. Seitdem ist er freiberuflich tätig.
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