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Titel: Ergänzende Anmerkungen zum Artikel von Andreas Zumach zur neuen Atom- und Raketen-Konfrontation
Datum: 14. Februar 2019 um 9:54 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufrüstung, Friedenspolitik
Verantwortlich: Albrecht Müller
Der gestern veröffentlichte Artikel von Andreas Zumach “Europa droht hochgefährlicher atomarer Rüstungswettlauf” widmet sich zu Recht der Frage des weiteren Umgangs mit der drohenden Spirale der Aufrüstung mit Raketen und Atomwaffen. Auch der Appell an beide Seiten, zur Vernunft zu kommen und der Rat an die Friedensbewegung, sich bei diesem Thema zu engagieren, sind angebracht. Aber mich stört eine Schlagseite. Außerdem ist die Lage heute nicht mit jener in den achtziger Jahren vergleichbar, als die Friedensbewegung erfolgreich gegen die Nachrüstung demonstrierte. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Versetzen Sie sich einmal in die Lage von Russen, die den Artikel von Andreas Zumach lesen. Ich stelle mir dabei einige konkret vor, die mir seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation begegnet sind, zum Beispiel: die Leiterin und das Kollegium eines Gymnasiums in Moskau, oder der stellvertretende Chef des renommierten Kurchatow-Instituts, oder russische Journalisten und die russischen Partner der nunmehr 30 Jahre währenden Partnerschaft der Städte Kursk und Speyer. Das waren und sind allesamt differenziert denkende Menschen und zudem engagiert für ein freundschaftliches und friedliches Verhältnis zu uns.
Sie würden vermutlich alle anmerken, im Artikel von Andreas Zumach würde die Geschichte so dargestellt, als wären der Westen und Russland in gleicher Weise schuld an der neuen Konfrontation. Ganz konkret auch bei der Verletzung des INF-Vertrages. Wer hat denn mit der Stationierung neuer Raketen angefangen, würden sie fragen? Die Russen? Das war doch der Westen in Rumänien und Polen – obendrein verbunden mit dem dummen Argument, die Raketen würden dort aufgestellt, um sich gegen Raketen des Iran zu wehren.
Die stellvertretende Leiterin des Gymnasiums in Moskau, die den Austausch mit Schülern und Lehrern in Köln und im südpfälzischen Annweiler pflegte, würde schreiben: Wir haben unsere ganze Hoffnung darauf gesetzt, dass solche Partnerschaften leben und gedeihen. Jetzt merken wir – nicht bei unseren deutschen Schul-Partnern, sondern bei der Politik – dass man mit uns nichts mehr zu tun haben will und uns stattdessen mit Sanktionen überzieht. Wir hatten gehofft, der Westen würde einsehen, dass auch Russland zu Europa gehört. Jetzt erleben wir, dass eine Grenze zwischen Finnland im Norden und dem Süden am schwarzen Meer gezogen wird. Alles westlich davon gehört nach den Vorstellungen des Westens zu Europa, alles östlich davon ist Feindesland. Mit diesem neuen Aufbau von feindlichen Gefühlen haben doch nicht wir Russen begonnen?
Russland hat die Hand ausgestreckt bis hin zur Selbstverleugnung. Schauen Sie sich doch einmal das Umfeld der Rede des russischen Präsidenten im Deutschen Bundestag vom September 2001 an. Putin hat dort die enge Zusammenarbeit angeboten – in einem großen gemeinsamen Raum von Wladiwostok bis nach Lissabon. Er hat dies getan, obwohl der Westen zwei Jahre zuvor mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg in Jugoslawien schon gegen alle Regeln einer sinnvollen Kooperation verstoßen hat. Putin hat gemeinsame Sicherheit und großräumige Zusammenarbeit angeboten, obwohl zu jenem Zeitpunkt die NATO schon auf mehrere Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes ausgedehnt worden war: Am 12. März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei.
Zwischen unseren führenden Personen war am Ende der Blockkonfrontation vereinbart worden, dass die NATO allenfalls bis einschließlich der DDR ausgedehnt werden sollte. Dann hat man im Westen alles darauf angelegt, um jedes Volk von USA und Kanada bis zur russischen Grenze in dieses Militärbündnis einzubeziehen. Das widersprach auch allen Vorstellungen, die von damals noch progressiven Parteien wie der SPD entwickelt worden waren, nämlich beide Militärblöcke, den Warschauer Pakt und die NATO, zur Disposition zu stellen. Gemeinsame Sicherheit – das war doch unser gemeinsames Projekt. Dieses Projekt hat nicht Russland, sondern der Westen vom Tisch gefegt.
Der Westen hat nicht nur die NATO, sondern auch die Europäische Union bis an die Grenze Russlands hin auszudehnen versucht. Das wäre ja noch nicht schlimm, wenn man Russland einbezogen hätte. Aber die Ausdehnung war von vornherein von einem anderen Geist geprägt. Vom Geist imperialen Denkens.
Dieses imperiale Denken ist von US-amerikanischen Strategen offen formuliert und in Büchern niedergeschrieben worden. Hat man sich im Westen eingebildet, die für Russland verantwortlichen Politikerinnen und Politiker würden das überhören und überlesen wollen? Und können?
Meine russischen Freunde würden fragen:
“Hat man wirklich geglaubt, in Russland habe man vergessen, dass der Westen versucht und versucht hat, unser Volk zu regieren? Lesen Sie doch einmal nach, was die kanadische Wissenschaftlerin und Journalistin Naomi Klein über dem Umgang mit Russland in Zeiten des Präsidenten Jelzin geschrieben und belegt hat. Das war der Versuch des direkten Eingriffs auf die innere Entwicklung unseres Volkes und Landes. Der Westen hat uns Russen das Selbstbestimmungsrecht verweigert.
Das alles kann man doch nicht vergessen, wenn man über die neue Konfrontation der Raketensysteme nachdenkt? Das hängt doch zusammen?!
Glauben Sie wirklich, unsere russischen Politiker und Militärs würden dieses nicht mitbekommen? Glauben Sie wirklich, das russische Volk würde den imperialen Anspruch des Westens auf uns und unsere Ressourcen als eine freundschaftliche Geste betrachten?
Haben die politisch entscheidenden Personen und die Meinungsmacher im Westen schon einmal überlegt, was die aggressive Haltung und das entsprechende Verhalten wie etwa die Investitionen von 5 Milliarden US-Dollar in den Regime Change in der Ukraine bei uns auslöst? Der Westen fördert damit die nationalistischen und reaktionären und auf Militär und Aufrüstung setzenden Kräfte in Russland. So wie der Westen in guten Zeiten, damals als noch Menschen wie Willy Brandt für die politische Gestaltung verantwortlich waren, mitbedacht hat, was die Konfrontation für die innere Entwicklung in unserem Land, in Russland auslöst und dass man deshalb Konfrontation abbauen muss, um friedliche Gefühle und Denken intern in Gang zu setzen, so geschieht heute das Gegenteil. Der westliche Feindbildaufbau und die neue Konfrontation führen dazu, dass bei uns in Russland jene Kräfte an Boden gewinnen, die von Freundschaft und Zusammenarbeit mit dem Westen sowieso nichts halten.
Außerdem: Wenn man ein Land mit Sanktionen überzieht und deutlich darauf abzielt, es ökonomisch zugrunde zu richten, dann wird sich ein Volk doch wehren und Politiker und Militärs, die dagegen aufstehen, verlieren nicht, sondern sie gewinnen an Sympathie. Das kann auch in Russland so kommen.
Dies alles muss man doch mit bedenken, wenn man sich Gedanken über die jetzige Konfrontation und die Raketen- und Atomrüstung macht. Man kann doch dann nicht nur darüber sprechen, was mit den Atomraketen zu geschehen hat und wie man deren Produktion und Installation bändigt. Man muss doch sehen, in welchem Umfeld die Aufkündigung des Raketenvertrages durch die russische Seite geschehen ist. Erstens mal haben wir damit nicht angefangen und zum zweiten sehen einflussreiche politische Kräfte in Russland gute Gründe dafür, den Westen wirklich abzuschrecken. Das müssten wir nicht tun, wenn wir Vertrauen in den Westen haben könnten. Aber unser Vertrauen ist so oft enttäuscht worden, dass wir leider wirklich nur auf Waffen setzen können. Das ist entsetzlich, das wissen wir, aber es bleibt uns gar nichts anderes übrig.”
Die Raketen und die Atomwaffen stehen nicht auf einer Insel. Sie sind eingebettet in die gesamte Konstellation und diese Gesamtkonstellation ist auf Konfrontation getrimmt. Nicht von den Russen, sondern vom Westen.
Aus all diesen Gründen nutzt ein Appell gegen Raketenaufrüstung wenig. Wir müssen zurückkehren zur Zusammenarbeit. Es ist schlimm, dass schon soviel Porzellan zerschlagen und Vertrauen zerstört und Misstrauen gesät worden ist. Wir fangen sozusagen neu an wie damals 1961 nach dem Bau der Mauer.
Damit wir aber neu mit einer neuen Entspannungspolitik beginnen können, muss auf westlicher Seite jeder Gedanke an Regime Change in Russland getilgt werden. Nur wenn sich das Denken, nur wenn sich Geist und Gefühl gegenüber Russland auf westlicher Seite grundlegend ändern, werden wir wieder Wege zur Zusammenarbeit, zur Abrüstung und zum Frieden finden. Der Westen muss vor allem runter vom Pferd, auf dem geschrieben steht: “Wir sind die Guten”. Und er muss endlich seine rassistischen Gefühle gegenüber den Russen begraben.
Andreas Zumach erinnert an die Friedensbewegung der achtziger Jahre und hält ihr zugute, das INF-Abkommen von 1987 mit erwirkt zu haben. Er setzt darauf, dass sich ähnliches wieder begeben könnte. Dabei sollte man bedenken, dass der damalige Stein des Anstoßes, die Nachrüstung, ganz anders eingebettet war als heute. Die Nachrüstung und der Doppelbeschluss erfolgten in einer Zeit, die insgesamt von der Entspannungspolitik und von einer umfassend geltenden Abneigung gegen Kriege geprägt war. Damals, 1980, hat zum Beispiel die Kanzlerpartei, die SPD, im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf mit einer großen Anzeige gepunktet, die überschrieben war: “Nie wieder Krieg!”. Heute halten Politiker der gleichen politischen Partei Kriege für führbar und für einen Teil der Politik. Ihre Kollegen im konservativen politischen Spektrum tun das ohnehin. Und die NATO und die USA und Großbritannien und Frankreich sowieso. Leider sind auch Teile des Volkes und viele Meinungsführer in den Medien und in der Wissenschaft auch schon entsprechend umgetrimmt. Nur so lässt sich erklären, dass die heutige Friedensbewegung in ihrem Kampf gegen Rüstung, Atomraketen und Drohneneinsatz sehr viel weniger Menschen mobilisieren kann als in den achtziger Jahren. Das sollte man bedenken, wenn man die Friedensbewegung für die Rettung des INF-Vertrages mobilisieren will.
Wie auch immer: Betrachten wir den Artikel von Andreas Zumach als Anstoß und das, was hier aus russischer Perspektive zusätzlich aufgeschrieben worden ist, als notwendige Ergänzung eines Beitrags zur Friedenspolitik in Europa.
Titelbild: servickuz/shutterstock.com
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