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Titel: Auf dem Weg zu einem neuen Sozialstaat?
Datum: 7. Februar 2019 um 9:00 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Sozialstaat, SPD
Verantwortlich: Redaktion
Was die SPD ändern muss, wenn sie Hartz IV tatsächlich hinter sich lassen will. Mit den sog. Hartz-Gesetzen wurden zahlreiche Verschlechterungen für Langzeiterwerbslose, Geringverdiener/innen und Arbeitsuchende eingeführt. Folgende neun Regelungen müssten zurückgenommen, abgeschafft bzw. geändert werden, wenn man „Hartz IV hinter sich lassen“ möchte, was sowohl Andrea Nahles wie auch Robert Habeck als Vorsitzende der SPD und der Bündnisgrünen für ihre Parteien seit Kurzem in Anspruch nehmen. Nahles möchte Hartz IV in ein „Bürgergeld“ (so nennt die FDP ihr Konzept eines Grundeinkommens, das nicht bedingungslos ist) umwandeln und schlägt mehrere Änderungen vor, die zur Belebung der Diskussion über eine Erneuerung des Sozialstaates beitragen, jedoch nicht befriedigen können. Von Christoph Butterwegge[*].
Mehr als zwei Drittel aller Erwerbslosen befinden sich heute im Hartz-IV-Bezug und bloß noch ein knappes Drittel im Versicherungssystem. Immer mehr Erwerbslose erhalten nie Arbeitslosengeld (I), sondern fallen gleich in Hartz IV.
Deshalb müssen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (I) und die Rahmenfrist über die ab 1. Januar 2020 geltenden 30 Monate verlängert werden, während die Anwartschaftszeit von zwölf (bzw. unter bestimmten Voraussetzungen sechs Monaten) verkürzt werden sollte, um bei einer größeren Zahl der Erwerbslosen den sofortigen Fall in die Grundsicherung zu verhindern.
Dies war der harte, materielle Kern von Hartz IV, dem heute öffentlich kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es gab im Jahr 2004 ca. 2,2 Millionen Bezieher/innen von Arbeitslosenhilfe, die für Kinderlose 53 Prozent und für Eltern mit unterhaltsberechtigten Kindern 57 Prozent ihres letzten Nettogehalts vor der Entlassung betrug. Dass sich die Kinderarmut seit 2004 fast verdoppelt hat, ist wesentlich auf die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und den Bruch mit dem Lebensstandardsicherungsprinzip des bundesrepublikanischen Sozialstaates zurückzuführen.
Andrea Nahles hat die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe in der FAZ (v. 17.11.2018) zwar zu Recht als den „Urfehler von Hartz IV“ bezeichnet, zieht daraus aber keine Konsequenzen, sondern bietet als Scheinlösung nur die Verlängerung des Arbeitslosengeld-I-Bezugs für 50-Jährige und Ältere sowie die Einführung des „Arbeitslosengeldes Q“ (Leistungsverlängerung im Falle einer beruflichen Weiterbildung oder Umschulung) an. Will man „nicht hinter Hartz IV zurück“, also keine Lohnersatzleistung wie die Arbeitslosenhilfe einführen, kann man den Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen auch durch ein im Extremfall bis zur Rente gezahltes Arbeitslosengeld (I) sichern, dessen Höhe sich gleichfalls nach dem letzten Nettoentgelt richtet. Wie bei der früheren Anschluss-Arbeitslosenhilfe im Prinzip unbefristet anspruchsberechtigt müsste sein, wer nicht ein höheres Lebensalter, sondern nur eine bestimmte Mindestversicherungsdauer aufweist. Denn warum soll jemand, der Ende 40 ist, jahrzehntelang beschäftigt war und Beiträge gezahlt hat, nach kurzem Bezug von Arbeitslosengeld (I) genauso wenig Unterstützung erhalten wie jemand, der noch nie berufstätig war?
Besonders kinderreiche Familien leiden darunter, dass mit dem Inkrafttreten von Hartz IV die wiederkehrenden einmaligen Leistungen, etwa für die Reparatur einer Waschmaschine und die Anschaffung eines Fahrrades oder eines neuen Wintermantels für schnell gewachsene Kinder, weggefallen sind.
Einerseits müssten die Regelbedarfe deutlich erhöht werden, was Andrea Nahles ablehnt; andererseits sollten jene Beihilfen wiedereingeführt werden, die geeignet sind, bedürftigen Eltern und ihren Kindern in besonderen Fällen zu helfen. Wenig sinnvoll wäre eine Kindergrundsicherung, deren Konzept Nahles bis zum Ende 2019 vorlegen will, zumindest dann, wenn sie nicht einkommensunabhängig gezahlt würde. Denn eine Familien- und Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, die Kinder unabhängig von der materiellen Situation ihres Elternhauses besserstellen will, würde noch mehr Geld kosten als eine zielgenaue Unterschützung von Leistungsbedürftigen. Nahles suggeriert mit Sätzen wie „Der Umbau des Hartz-IV-Systems in ein Bürgergeld kostet nicht viel“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 6.2.2019), dass ein neues, partnerschaftliches, solidarischeres und menschlicheres Sozialstaatsmodell, wie die SPD es propagiert, beinahe zum Nulltarif zu haben ist. Mehr soziale Gerechtigkeit und einen besseren Zusammenhalt muss sich eine reiche Gesellschaft wie die deutsche jedoch schon etwas kosten lassen.
Wenn das Jobcenter darauf besteht, muss eine medizinisch-technische Assistentin deshalb jetzt im Getränkemarkt und ein Betriebstechniker als Pförtner arbeiten, wenn sie nicht ihren Anspruch auf Unterstützung einbüßen wollen. Möglich wurde es auch, dem mehr als ein Jahr arbeitslosen Diplomingenieur einen 1-Euro-Job aufzudrängen, um seine Arbeitswilligkeit zu testen. Warum soll dieser, wenn er staatliche Transferleistungen erhält, eigentlich nicht – dem Motto „Fördern und Fordern“ gemäß – einen öffentlichen Park fegen oder in einer Schule bei der Essensausgabe helfen? Nun, ganz einfach deshalb, weil das nicht seiner Ausbildung entspricht, für ihn entwürdigend ist und oft dazu führt, dass ein für die entsprechenden Tätigkeiten besser geeigneter Arbeitnehmer seine Stelle verliert.
Aus diesen Gründen muss der Berufs- und Qualifikationsschutz wieder im Sozialgesetzbuch verankert werden.
Von den immer noch 4 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher(inne)n sind 1,2 Millionen gar nicht arbeitslos, sondern „Aufstocker/innen“, die so wenig verdienen, dass sie von ihrem Lohn nicht leben können. Nicht zuletzt wegen dieser Bestimmungen hat Hartz IV hierzulande den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen, in dem fast ein Viertel aller Beschäftigten tätig sind und der mittlerweile das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- und Kinderarmut sowie für spätere Altersarmut bildet. Mehr als 100 Milliarden Euro hat der Staat seit 2005 an Erwerbsaufstocker/innen gezahlt und damit letztlich Unternehmen subventioniert, die Lohndumping betreiben.
Deshalb müssen die Zumutbarkeitsregelungen entschärft, dürfen Hungerlöhne vom Staat nicht mehr gesetzlich legitimiert und die Kosten dafür sozialisiert werden.
Die rigide Sanktionspraxis der Jobcenter hat sich ebenso wenig bewährt wie die den Leistungsberechtigten oktroyierte Eingliederungsvereinbarung. Schon durch eine Sanktionsdrohung wird massiver Druck auf die Betroffenen ausgeübt, der sie teilweise in die Resignation und in die Depression treibt. Indem man junge Menschen im Extremfall zur Obdachlosigkeit verurteilt, führt man sie nicht etwa „auf den rechten Weg“ zurück, sondern veranlasst sie höchstens, sich auf ungesetzliche Weise durchs Leben zu schlagen.
Die unsägliche Rohrstock-Pädagogik längst vergangener Zeiten hat in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts nicht zu suchen, denn mit alttestamentarischer Strenge bewirkt man keine Verhaltensänderung im positiven Sinne, sondern oft genug das Gegenteil. Sanktionen sind nicht bloß inhuman und verfassungswidrig, sondern auch kontraproduktiv. Sie müssen von den politisch Verantwortlichen so schnell wie möglich beseitigt werden, falls das Bundesverfassungsgericht diese nicht durch sein in Kürze anstehendes Urteil dazu zwingt. Der bisherige, sanktionsbewehrte Zwang zur Erwerbstätigkeit für alle Bewohner/innen sollte entfallen, aber durch eine moralische Pflicht zur Erwerbstätigkeit für jene Menschen ersetzt werden, die dazu aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation, gesundheitlichen Verfassung und psychischen Konstitution fähig sind. Sanktionen sind entbehrlich, weil die Menschen unter den genannten Voraussetzungen arbeiten, um sich selbst zu verwirklichen, sich nützlich zu machen und/oder der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Andrea Nahles lehnt nur die härtere Sanktionierung von Unter-25-Jährigen und die Verweigerung der Übernahme von Wohnkosten, aber nicht Sanktionen als solche ab.
Damit verbunden waren teilweise bis in den Intimbereich von Hartz-IV-Bezieher(inne)n hineinreichende Auskunftsersuchen, Kontrollmaßnahmen und Überwachungspraktiken von Sozialdetektiven der Jobcenter, zu denen sich Andrea Nahles bisher ebenso wenig äußert wie zu der später erfolgten Beweistlastumkehr für zusammenwohnende Personen.
Eine ausgeweitete Sippenhaft darf es nicht geben, weshalb die Bedarfsgemeinschaft aus dem Sozialgesetzbuch zu streichen ist. Auch müssen Volljährige einen eigenen Haushalt gründen können, ohne die Erlaubnis des Jobcenters einzuholen.
Langzeiterwerbslose mussten selbst eine der Altersvorsorge dienende Kapitallebensversicherung und/oder eine selbstgenutzte Immobilie, die sie besaßen, veräußern, bevor sie Arbeitslosengeld II erhalten konnten. Später wurde das Altersvorsorge-Schonvermögen für Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifacht und auch der Besitz einer selbstgenutzten Eigentumswohnung bzw. eines Eigenheims ermöglicht.
Andrea Nahles und die SPD wollen das Schonvermögen weiter erhöhen. Dies erscheint zweckmäßig, obwohl davon eher besser situierte Leistungsberechtigte profitieren, während vor allem in den ostdeutschen Bundesländern viele Antragsteller/innen überhaupt kein Vermögen besitzen, das geschont werden könnte. Robert Habeck schlägt vor, dass 100.000 Euro, der Altersvorsorge dienende und staatlicherseits geförderte Versicherungsansprüche sowie selbstgenutztes Wohneigentum anrechnungsfrei bleiben. Aufgrund der bürgerlichen Wählerklientel von Bündnis 90/Die Grünen ist Habeck an dieser Stelle äußerst großzügig und schießt bei der Anhebung des Schonvermögens über das Ziel eines auch die Mittelschicht vor Standardlebensrisiken schützenden Sozialstaates hinaus.
Alle diese Verschlechterungen, zu denen sich Andrea Nahles nicht geäußert hat, müssen rückabgewickelt werden, um Hartz IV überwinden und ein neues Sozialstaatsmodell begründen zu können. Ziel muss eine soziale Grundsicherung sein, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient, weil sie armutsfest, bedarfsdeckend und repressionsfrei ist. Armutsfest wäre eine solche Mindestsicherung unter der Voraussetzung, dass ihr Zahlbetrag zusammen mit den Miet- und Heizkosten, die nicht pauschaliert werden dürfen, zumindest im Bundesdurchschnitt über der Armuts(risiko)schwelle der Europäischen Union läge: Das sind laut dem Mikrozensus 2017, der umfassendsten Sozialstatistik der Bundesrepublik, für einen Alleinstehenden 1.000 Euro. Bedarfsdeckend zu sein heißt bei der sozialen Mindestsicherung, dass spezifische Bedarfe, etwa im Fall einer Behinderung, geltend gemacht werden können. Schließlich sollte die soziale Mindestsicherung ohne Sanktionen auskommen, wenngleich eine moralische Verpflichtung fortbesteht, dass seinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit selbst sicherstellt, wer dazu gesundheitlich, psychisch und aufgrund seiner beruflichen Qualifikation in der Lage ist.
[«1] Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich hat er sein Buch „Armut“ in einer aktualisierten Neuauflage bei PapyRossa (Köln 2019) veröffentlicht. 2018 sind seine Bücher „Hartz IV und die Folgen“, „Grundeinkommen kontrovers“ sowie „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ erschienen.
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