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Titel: Demontage des Sozialstaates, Umverteilung und selbst gelegte Eier – Einblicke in und Ausblicke für Österreich.
Datum: 6. Februar 2019 um 10:36 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Interviews, Länderberichte, Sozialstaat, Steuern und Abgaben
Verantwortlich: Redaktion
Im Eiltempo schreitet unter der türkis-blauen Regierung der Umbau der Alpenrepublik voran. Mit schrillen rechtsnationalen Tönen werden nicht nur Minderheiten zusehends ausgegrenzt, auch die sozialpolitischen und ökonomischen Entscheidungen drohen die Gesellschaft zu zerreißen. Während massive Leistungskürzungen auf wirtschaftlich schwache Transferempfänger zielen, soll die angedachte Steuerreform Unternehmer und Kapitaleigner „entlasten“. Norbert Wiersbin sprach für die NachDenkSeiten mit dem Wiener Nationalökonomen Otmar Pregetter[*] über die aktuellen Entwicklungen.
Im ersten Teil des Interviews geht es um die Demontage des Sozialstaates, die Verwerfungen am Arbeitsmarkt, die geplante Steuerreform und den Ruf nach einer schlagkräftigen Opposition. In den folgenden zwei Teilen unterzieht Otmar Pregetter das Finanzsystem einer kritischen Analyse, um abschließend auf die mögliche Klammer einzugehen, die Neoliberale und die neue Rechte zusammenhält. Einblicke in und Ausblicke für Österreich.
Demontage des Sozialstaates
Innerhalb eines Jahres hat die aktuelle Regierung bereits schwere Verwüstungen im Sozialstaat angerichtet. Als Stichworte nenne ich: Angriff auf die Arbeiterkammern, Umstrukturierung der Krankenkassen, Familienbonus, Notstandshilfe, Mindestsicherung. Welche sozialen und auch volkswirtschaftlichen Folgen erwartest Du als kritischer Ökonom, wo soll – besser: wo wird das alles enden?
Das was Österreich derzeit erlebt, ist die Adaptierung von Schröders Hartz IV. Das bedeutet: Schaffung eines großen Niedriglohnsektors, der in Deutschland inzwischen bei ungefähr 27% liegt, in Österreich nach den letzten Zahlen der Statistik Austria bei ca. 15% (Ende 2017). Tendenz stark steigend. Es geht um die Etablierung von Lohndumping als wirtschaftspolitische Maxime. Dazu muss man wissen, dass es bereits zwischen 1998 und 2015 spürbare Reallohnverluste in Österreich gab. Mit einer gleichzeitigen massiven Abwehr von Vermögenssteuern – die in diesen Tagen ja sogar die neue Vorsitzende der SPÖ, Pamela Rendi-Wagner, selbst in einer Phase der Hochkonjunktur stark in Zweifel zieht. Das ist nichts anderes als das, was Schröder seit 1998 in Deutschland gemacht hat. Mit einer zunehmenden Prekarisierung der Arbeit werden die Mindestsicherungsbezieher und Arbeitslosen als „Sozialschmarotzer“, „Faulenzer“, „Langschläfer“ usw. diffamiert.
Das politische Ziel liegt dabei darin, genau diese Zielgruppe als Feindbild für die untere Mittelschicht bis hinein in die obere Mittelschicht aufzubauen, was mit dem Slogan: „nur wer was leistet, soll auch mehr Netto vom Brutto haben“ massenmedial kommuniziert wird. Die politische Kunst besteht in einer Spaltung der Gesellschaft, wobei das Credo lautet: Alle gegen „die da unten“.
Ökonomisch betrachtet muss man festhalten, dass Österreich im Gegensatz zu Deutschland keinen Handelsbilanzüberschuss von ca. 9 % des BIP hat, sondern seit Jahrzehnten ein Handelsbilanzdefizit einfährt. Deutschland hat durch das Lohndumping einen Preisvorteil gegenüber den anderen europäischen Ländern von ca. 15 %, Österreich hingegen zwischen 3 und 5 %. Das heißt, dass Österreich ungleich mehr von einer starken Binnenkonjunktur abhängt als Deutschland.
Österreich hängt im Export zu ca. 37% von deutschen Aufträgen ab und wenn in Deutschland die Konjunktur abreißt – was zu erwarten ist – dann wirkt sich das zeitverzögert (9-12 Monate) auf Österreich aus. Trotz alledem ist eine Debatte um einen Mindestlohn nicht in Sicht. Das alles sind keine rosigen Aussichten für die Volkswirtschaft.
Steuerreform
Konsequent ins Bild der Umverteilung von unten nach oben passt ja nun auch die geplante Steuerreform. Kanzler Kurz hatte noch im Wahlkampf versprochen, Arbeitnehmer und Unternehmen um die stattliche Summe von 14,5 Milliarden Euro zu entlasten. Nun rechnen nach Vorlage der ersten Regierungsentwürfe Kritiker nach und ermitteln gerade einmal 6 Milliarden an Entlastung. Wie schätzt Du das Regierungsvorhaben ein, kann das hilfreich für die österreichische Volkswirtschaft sein?
Danke für den aufgelegten Elfmeter: Kein Mensch redet mehr über das Wahlversprechen von 12 bis 14,5 Milliarden Einsparung. Die Medien schweigen sich zu Tode und das Kurzzeitgedächtnis der Wähler verkürzt sich immer weiter – insbesondere bei den Kurz-Denkern.
Die jetzt diskutierten ca. 6 Milliarden sollen sich (Konkretes liegt noch nicht vor) in 50% für Arbeitnehmer und 50% für die Unternehmer aufteilen. Dies klingt so „gerecht“, ist es aber nicht, weil die einen 50 Prozent auf ca. 4,4 Mio. unselbständige Erwerbstätige – die anderen aber nur auf ungefähr 330.000 Unternehmen aufgeteilt werden. Die Unternehmer sind also um das 10-fache besser dran!
Die Regierung plant die Körperschaftssteuer von 25 auf 20% zu senken, was ca. 2 Milliarden ausmacht (in Deutschland beträgt diese inkl. der Gewerbesteuer fast 30% der Gewinne). Weitere 500 Millionen beträgt die Einsparung bei der AUVA (Allgemeine Unfallversicherung). Diesen Teil tragen dann die Arbeitnehmer, z.B. indem sie sich privat versichern lassen müssen. Das ist klassische Umverteilung.
Auch der seit Monaten so „hochgejubelte“ Familienbonus, der ca. 1,5 Milliarden ausmachen soll, ist pure Umverteilung von Arm zu Reich: Bei einem Einkommen von 1200 Brutto/m. bekommt eine Familie mit drei Kindern pro Jahr 258 € pro Kind, macht für drei Kinder 774 €. Bei einem Einkommen von 3000 brutto/m beträgt der Bonus 1500€ pro Kind, also für drei Kinder 4500€. Fazit: Eine Familie, die ca. nur ein Drittel einer besser verdienenden Familie an Arbeitseinkommen erzielt, erhält nur ein Sechstel des Bonus der höher verdienenden Familien. Das als „sozial gerecht“ den Menschen zu verklickern, ist ungefähr so, wie wenn ein notorischer Hendldieb auf frischer Tat ertappt wird und der allen Ernstes einem Polizisten erklärt, dass er das geklaute Hendl gerade gekauft habe.
Vollmundig verkündigt die Regierung, keine neuen Steuern einzuführen – fast gleichzeitig wird aber laut über eine neue Digitalsteuer öffentlich nachgedacht.
Der größte Schmäh jedoch liegt in der billigen Propaganda, man höre nun nach Jahrzehnten des Schuldenmachens damit auf. Im selben Atemzug veröffentlicht die Statistik Austria, dass das Defizit 2018 bei 1,1 Mrd. liegt – und das bei höheren Steuereinnahmen von 3,5 Milliarden Euro! Der Begriff „Defizit“ scheint im Sprachsatz der Regierung nicht vorzukommen, man richtet sich seine kleine Welt, so wie sie einem gefällt.
Ausblick
In den sozialen Medien mehren sich die Stimmen, die davon ausgehen, dass Kurz in der zweiten Jahreshälfte 2019 Neuwahlen anstreben wird. Begründet wird diese Spekulation damit, dass er darin die einzige Chance sehen dürfte, seine Amtszeit über 2022 hinaus zu verlängern. Schließlich würde für viele Österreicher erst mit der Arbeitnehmerveranlagung anfangs 2020 deutlich, wohin die Reise mit Türkis-Blau für sie geht: In den sozialen Abstieg, verbunden mit erheblichen Einkommensverlusten und gekürzten staatlichen Transferleistungen. Noch reitet Kurz ja – wenn wir den Umfragewerten Glauben schenken wollen – auf einer Sympathiewelle durch das Wahlvolk.
Die Spekulationen zu Neuwahlen diesen Herbst könnten sich aus einigen Gründen als real erweisen. Die da wären: Beim nächsten großen antidemokratischen Sager von Innenminister Herbert Kickl könnte er nicht mehr tragbar sein. Da alle demokratischen Gruppen (wie z.B. die Caritas, die Richtervereinigung, die Rechtsanwaltskammer, der Verfassungsgerichtshof bis hin zum Bundespräsidenten) sich inzwischen dagegen auflehnen. Das heißt, das Hirn der FPÖ würde Vizekanzler Strache herausgeschossen werden. Und das dürfte die FPÖ nicht überleben und die ÖVP als Anlass nehmen, Neuwahlen zu provozieren. Hinzu kommt, dass Kurz bis Herbst 2019 sicher noch auf einer Zustimmungswelle reitet und die Opposition bis jetzt kein Anzeichen gibt, massiv dagegenhalten zu können.
Wie steht es denn um die Opposition, gibt es aktuell überhaupt ernstzunehmende politische Kräfte, die diese ganzen Entwicklungen aufhalten könnten? Was muss auf dieser Seite jetzt passieren?
Völlig d’accord, die Opposition ist praktisch nicht existent. Zwar wurde mittlerweile der 6. Misstrauensantrag gegen Kickl eingebracht, aber von einer substantiell angriffigen Oppositionspolitik ist die SPÖ ebenso weit entfernt wie die ehemalige Liste Pilz (der neue Name ist JETZT) als auch die NEOS (ein Anhängsel des Industriellen Haselsteiner).
Die einzige Opposition – wenn man den Namen ernst nimmt – ist die Wiener SPÖ. Sie hat mit Peter Hacker (amtsführender Stadtrat und u.a. zuständig für die Mindestsicherung und soziale Belange) einen äußerst kompetenten Vorkämpfer für den sozialen Zusammenhalt in ihren Reihen. Er fährt eine geschliffene soziale Kante der Argumentation und kann locker jedem Kontrahenten von Kurz abwärts Parole bieten. Der Mann kann auch Kanzler: JA !
Derzeit scheint ja nur die Zivilgesellschaft die Opposition zu vertreten. Gibt es Tendenzen der Vereinigung, ähnlich der Gelbwesten in Frankreich? Welche Macht hat der Druck der Straße?
Welche Macht der Druck der Straße hat, das sieht man in Frankreich bei den Gelbwesten. In nur acht Wochen haben sie den Präsidenten Macron , der ja nur die Milliardäre vertritt, in die Regierungsunfähigkeit getrieben. Mittlerweile sind 80% der Franzosen gegen ihn und auch wenn er zu ein paar vernachlässigbaren Zugeständnissen bereit war, kann sich wohl niemand vorstellen, dass er die weiteren drei Jahre massiv gegen das Volk regieren kann.
Mit der Demo gegen den 12-Stundentag im Herbst 2018 haben die Gewerkschaften ein starkes Zeichen gesetzt. Die ca.130 Tsd. Demonstranten –inklusive meiner Person – sind nicht zu vernachlässigen. Mit der Ankündigung eines „heißen Herbstes“, der dann leider in einem lauen Lüfterl mündete, haben die Gewerkschaften viel von diesem aufkommenden Schwung verpuffen lassen: leider!
Die aufkeimenden Donnerstagsdemonstrationen, die zwischen 5 und 10 Tsd. Teilnehmern schwanken, sind eine lebendige Fackel gegen die unsoziale und erzkapitalistische Politik von Türkis-Blau. Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für Welternährungsfragen, nannte diese Demonstrationen völlig zu Recht die „Ehre Österreichs“.
Auch die Künstler sind aus dem Winterschlaf erwacht. Aufstehen ist nicht das Wort, sondern Widerstand. Widerstand gegen einen Versuch Kickls und der FPÖ, die illiberale Demokratie über verbale Hintertüren einzuführen. Ich denke, dass dies erst der Anfang einer hoffentlich langen und permanenten demokratischen und sozialen Bewegung sein könnte, die ähnlich den Gelbwesten in Frankreich völlig parteiungebunden agiert und sich von niemandem mehr einschüchtern lässt.
Kurz eröffnete nach der Regierungsklausur Mitte Jänner mit seinem „Langschläfer-Sager“ den Wahlkampf um Wien (2020).
„Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen”
Und weiter: In Wien gebe es 13 Prozent Arbeitslose, das sei drei Mal so viel wie in Tirol und doppelt so viel wie bundesweit, sowie immer mehr Obdachlose. 2015 wurde die ÖVP zertrümmert und erreichte nur mehr 9,2% der Stimmen. Könnte sich diese Kampfansage an alle Wiener vom Bundeskanzler als Rohrkrepierer herausstellen und muss man sich auf einen 2-jährigen Wahlkampf einstellen?
Bei der letzten Wien-Wahl erreichte die ÖVP das schlechteste Ergebnis: Sie wurde im Duell zwischen Häupl und HC Strache total aufgerieben und landete bei sehr bescheidenen 9,2%, stimmt !
Ich denke, das war ein schwerer politischer Fehler. Unter #Wienstehtauf formierten sich viele Leute, um sich über die Aussage des Kanzlers lustig zu machen. Viel Häme ergoss sich über die „Rotzbuben in Türkis“ – wie sie von einigen alten ÖVPlern intern tituliert werden. Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich und jener mit Tirol am allerwenigsten: In Wien leben ungefähr 20 % aller Österreicher – aber Wien erwirtschaftet mit 90 Mrd. ca. 25% der österreichischen Wirtschaftsleistung! Auch das BIP/Einwohner liegt in Wien um 20% über jenem von Oberösterreich. Nicht so schlecht für ein Land mit so vielen Langschläfern.
Dass Wien, als zentrale Metropole, die meisten Asylsuchenden anzieht, ist klar, zumal sie hier die besten Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten vorfinden.
Es ist auch nicht besonders schlau, Wien wegen der höheren Arbeitslosigkeit an den Pranger zu stellen, weil es ca. 200.000 Einpendler gibt (wovon insbesondere das Land Niederösterreich, das „schwärzeste“ Bundesland Österreichs, stark profitiert) und die Stadt um mehr als 180.000 Personen in den letzten 10 Jahren wuchs. Mit seinem Langschläfer-Sager hat sich Kurz selbst ein Riesenei gelegt: gratuliere!
[«*] Otmar Pregetter promovierte in Nationalökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien und studierte auch in Berkeley, California und der Cornell University, N.Y. State in den USA. Danach arbeitete er zehn Jahre in internationalen Konzernen –überwiegend in Führungsverantwortung. Nebenbei unterrichtete er an der Uni Innsbruck und arbeitete als Lehrbeauftragter an Fachhochschulen. Danach machte er sich als Unternehmensberater für Tourismus/Handel selbständig. Er ist Co-Autor des Bestsellers „Das Ende des Geldes“ (Wien 2011). Als Kommentator fungierte er in zwei internationalen Dokumentationen von SERVUS TV: 2013 – Gier, Wirtschaftskrise mit System und 2017 – Das schleichende Ende des Bargeldes. Er bloggt u.a. im Freitag, der Wochenzeitung von Jakob Augstein.
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