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Titel: “Spahns Gesetzentwurf: Eine Diskriminierung von seelisch erkrankten Menschen”

Datum: 28. Januar 2019 um 8:41 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik, Interviews
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Menschen mit psychischen Erkrankungen sollen sich, wenn sie einen Therapeuten besuchen möchten, zunächst begutachten lassen. So sieht es ein Gesetzesentwurf von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor. Dagegen laufen Psychotherapeuten Sturm. Innerhalb eines Monats haben gut 160.000 Personen eine Petition gegen den Gesetzentwurf unterzeichnet und die Psychotherapeutenkammer Niedersachsen (PKN) hat eine Resolution verfasst, in der es heißt, der Vorstoß von Spahn führe zu „einer Art Vorselektion von psychischen Störungsbildern“. Die PKN spricht von einer „unglaublichen Diskriminierung.“ Im NachDenkSeiten-Interview schildert Roman Rudyk, der Präsident der PKN, wo das Problem bei dem Gesetzentwurf liegt und erklärt, was eigentlich getan werden müsste, um Menschen, die rasch eine Psychotherapie benötigen, zu helfen. Von Marcus Klöckner.

Herr Rudyk, die Psychotherapeutenkammer Niedersachsen wendet sich in einer Resolution scharf gegen das Terminservice- und Versorgungsgesetz von Jens Spahn. Worum geht es?

Der Gesetzesentwurf zum TSVG ist ein sehr komplexes Gebilde, durch das eigentlich die Versorgung der Patientinnen und Patienten in Deutschland verbessert werden soll. Es enthält solche Regelungen wie die durchgängige (24/7) Erreichbarkeit der Terminservicestellen über die Rufnummer 116117, wie die Erhöhung der Mindestsprechstundenzeit von 20 auf 25 Stunden, aber darüber hinaus noch viel Weiteres. Die Ärzte sprechen davon, dass es von einem großen Misstrauen gegenüber ihrer Berufsgruppe geprägt ist und deutlich zu kleinteilig reguliert. Es könnte dazu führen, dass so manche Ärztin oder mancher Arzt aus dem System aussteigt, womit das Vorhaben das Gegenteil des Gewünschten bewirken würde.

Wir Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten teilen diese Kritik in weiten Teilen, sind aber insbesondere über einen Satz alarmiert, der erst im letzten Moment in den Gesetzentwurf kam. Es ist der §92 Abs. 6a, in dem festgelegt würde, dass im Bereich der Psychotherapie eine „gestufte und gesteuerte Versorgung“ eingerichtet werden soll, was den Wegfall des Erstzugangsrechts der Patientinnen und Patienten zum Psychotherapeuten bedeuten würde.

Warum ist es ein Problem, wenn Patienten sich zuerst begutachten lassen sollen?

Zum einen stellt dies eine Diskriminierung von seelisch erkrankten Menschen gegenüber somatisch erkrankten dar. Es ist kaum vorstellbar, dass, wenn jemand zum Augenarzt muss, er zuerst zu einem Gutachter muss, der dann darüber entscheidet, ob er dies darf. Es bläht das System auf und verursacht zusätzliche Kosten.

Für seelisch Erkrankte ist es aber eine besondere Herausforderung. Gerade für sie ist es oft eine große Hürde, sich überhaupt einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten anzuvertrauen. Wenn sie sich dann dazu durchgerungen haben und dies zu tun, dann entsteht in diesem Moment bereits eine wichtige Bindung, die für den weiteren Behandlungserfolg relevant ist. Hier jemandem zuzumuten, sich einem Menschen gegenüber zu öffnen, der nicht weiterhilft, sondern nur weiterschickt oder eben eine entsprechende Behandlung ablehnt, ist nicht zumutbar.

Wie bei jedem anderen Arztbesuch findet natürlich auch heute schon beim Psychotherapeuten zunächst eine Diagnostik statt, bevor mit den Patienten besprochen wird, ob und, wenn ja, welche Behandlung für ihn oder sie notwendig ist. Diese „Begutachtung“ gibt es also bereits, aber eben dort, wo dann ggf. auch die Behandlung stattfinden kann, wenn sie indiziert ist.

Was würden Sie denn vorschlagen? Wie kann man psychisch kranken Menschen helfen, dass sie schneller in eine Therapie kommen?

Durch die uns seit eineinhalb Jahren zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer sog. Sprechstunde und einer Akutbehandlung können wir schon schneller einen Erstkontakt sowie, wo nötig, schnelle darüberhinausgehende Hilfe anbieten. In den Fällen, in denen eine weiterführende ambulante psychotherapeutische Behandlung notwendig ist, bestehen allerdings in vielen Regionen noch immer deutlich zu lange Wartezeiten.

Um hier eine Veränderung herbeizuführen, sind ein Bündel von Maßnahmen notwendig. Das Zentrale dabei ist die Zulassung von weiteren Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für die ambulante Versorgung. Dazu muss die Bedarfsplanung überarbeitet werden. Das ist die Berechnungsmethode, mit der festgelegt wird, in welchem Bereich sich wie viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten niederlassen können. Gegenwärtig hat sie zwei wesentliche Schwächen.

Welche?

Zum einen ist sie abgeleitet aus einer sogenannten „Stichtagsregelung“. Das bedeutet, es wurde an einem Stichtag festgehalten, wie viele niedergelassene Psychotherapeuten gibt es und das wurde dann einfach als „ausreichend versorgt“ festgelegt. Es wurde aber nie geschaut, wie viel psychisch kranke Menschen gibt es und wie viele Psychotherapeutinnen müssen von diesen Zahlen abgeleitet zugelassen werden, um diese Menschen nach den heutigen wissenschaftlichen Standards zu behandeln.

Zum anderen gibt es je nach „Kreistyp“ sehr unterschiedliche Verhältniszahlen. Sie schwanken zwischen 3000 und 9000 Menschen auf einen Behandler. Dafür gibt es keinerlei fachliche Begründung. Dies führt insbesondere in ländlichen Regionen und in den Regionen, die an Großstädte grenzen, zu einer deutlichen Mangelversorgung.

Aber dagegen sträuben sich die Krankenkassen – wegen der Kosten, oder?

Wenn Menschen notwendige Behandlungen bekommen, dann verursacht das Kosten. Punkt.

Für die Krankenkassen kommt aus meiner Wahrnehmung hinzu, dass sie sich mit der Finanzierung von notwendigen Psychotherapien auch deswegen schwertun, weil für sie wenig einschätzbar ist, was in den Behandlungen passiert. Das hängt auch damit zusammen, dass die Erkrankungen oft sehr komplexer Art sind. Häufig besteht eine sogenannte Komorbidität, also das Auftreten von verschiedenen Krankheitssymptomen gleichzeitig. Auch sind Entstehungsgeschichte sowie Verlauf der Erkrankung und Verlauf der Behandlung von sehr vielen individuellen Faktoren abhängig. Krankenkassen mögen es verständlicherweise möglichst berechenbar.

Kann es sein, dass heute mehr Menschen bereit sind, einen Psychotherapeuten aufzusuchen? Und: Womit hat das zu tun?

Untersuchungen zeigen, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen nicht oder nur wenig zugenommen haben. Aber sie sind viel deutlicher in unser aller Bewusstsein und die Menschen, die an ihnen leiden, sind heute nicht mehr so stigmatisiert wie noch vor zwanzig Jahren, auch wenn hier noch viel zu tun ist. Zudem hat sich das Wissen darum, dass Psychotherapie bei psychischen Erkrankungen hilft, deutlich mehr verbreitet. Schließlich sind die Zusammenhänge zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen heute mehr bekannt und besser belegt. Zum Beispiel bei Rückenschmerzen wurde früher nur beim Orthopäden Hilfe gesucht. Heute wird eher schon genauer geschaut und manchmal ist dann die Psychotherapie die Behandlungsmethode, die mehr am Kern der Erkrankung ansetzt.


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