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Titel: „Europäischer Mindestlohn“ – SPD-Wahlkampfschlager mit Macken

Datum: 18. Januar 2019 um 13:00 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Europäische Verträge, SPD, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Die Forderung nach einem „Europäischen Mindestlohn“ erlebte diese Woche ein Revival. Hubertus Heil will das Thema zum Kern der kommenden deutschen Ratspräsidentschaft machen, Katarina Barley sieht darin gar die zentrale Wahlkampf-Forderung für die anstehenden Europawahlen. Leider verschweigen die Genossen aber noch, wie sie diese prinzipiell ja gute Idee eigentlich umsetzen wollen. Laut Lissabon-Vertrag hat die EU nämlich gar keine Kompetenzen bei der Lohnfindung und eine Änderung der Europäischen Verträge übersteigt die Kompetenzen der SPD dann doch bei weitem. Von Jens Berger

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dass Lohndumping innerhalb der EU ein großes Problem ist und dass unterschiedliche nationale Lohnuntergrenzen dieses Problem zur Zeit sogar verschärfen, sollte unumstritten sein. Schon in den frühen 1990ern drängte daher die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten auf die Einführung vergleichbarer Mindestlöhne. Vergleichbar heißt in diesem Kontext freilich nicht vergleichbar in der absoluten Höhe, sondern vergleichbar in der Relation zum Lohngefüge. Wäre ein Bruttostundenlohn von 10 Euro für Hochlohnländer wie Dänemark, Luxemburg, Schweden, Irland oder die Niederlande im Zweifel viel zu gering, wäre er in weniger produktiven Volkswirtschaften wie Bulgarien, Rumänien oder den baltischen Republiken viel zu hoch. Als brauchbarer Maßstab bietet sich daher das nationale Lohngefüge an. In der – keinesfalls neuen – Debatte wird meist mit Ankerwerten in Höhe von 50 bis 60 Prozent des Durchschnittseinkommens gearbeitet – wobei man hier natürlich auch aufpassen muss, welcher Durchschnitt gemeint ist. Zwischen Brutto-, Netto-, Median-, Durchschnitts- oder Äquivalenzeinkommen gibt es teils große Unterschiede.

Die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes geben eine Ahnung vom Spielraum, in dem sich die momentanen Mindestlöhne innerhalb der EU bewegen. In absoluten Zahlen geht dies – immer bezogen auf den Monatslohn bei Vollzeitbeschäftigung – von 261 Euro in Bulgarien bis zu 1.999 Euro in Luxemburg. Deutschland liegt mit 1.498 Euro im oberen Mittelfeld, was für den Export-Vizeweltmeister mit seiner hochproduktiven Volkswirtschaft jedoch erstaunlich wenig ist. Dies wird deutlich, wenn man nicht die absoluten Zahlen, sondern die Relation des Mindestlohns zum Durchschnittseinkommen betrachtet. Hier liegt Deutschland dann mit 48% sogar nur im unteren Mittelfeld, während Länder wie Slowenien (64%), Portugal (64%), Frankreich (62%) und Ungarn (60%) die Liste anführen.

An dieser Stelle werden die Ankerwerte interessant. Würde nämlich die EU – rein hypothetisch – den unteren Wert von 50% als Maßstab nehmen, müsste Deutschland lediglich leicht nachbessern, während zahlreiche Länder wie Frankreich ihren Mindestlohn sogar sehr massiv senken müssten. Nur der oberste diskutierte Ankerwert von 60% würde überhaupt auf EU-Ebene eine sinnvolle Verbesserung darstellen.

Welchen Ankerwert sich die SPD für einen europäischen Mindestlohn vorstellt, verschweigt sie bislang noch. Es ist jedoch schon ein wenig zynisch, dass die SPD nun über den Europawahlkampf den viel zu geringen deutschen Mindestlohn thematisiert, den sie ja selbst in dieser Höhe umgesetzt hat. Die SPD will also im Grund im Europawahlkampf ihre eigenen Versäumnisse auf nationaler Ebene thematisieren, ohne Ross und Reiter beim Namen zu nennen. Und dabei war Gerhard Schröder doch so stolz, den „besten Niedriglohnsektor Europas“ geschaffen zu haben.

Daran wird sich auch nach den Europawahlen nichts ändern. Denn absurderweise hat sich die SPD ein Thema ausgesucht, das überhaupt nicht in der Kompetenz der EU liegt. Artikel 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Lissabon-Vertrag) klammert in Absatz 5 nämlich das „Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht“ ausdrücklich aus dem Kompetenzbereich der EU aus. Die Defizite des Lissabon-Vertrags wurden ja ausgiebig diskutiert und die SPD hat ihn stets verteidigt. Eine Änderung der Europäischen Verträge ist im Grund unmöglich, da dies eine erneute Ratifizierung des Vertragswerks durch sämtliche Mitgliedsländer erfordern würde. Wenn die SPD nun den Eindruck erweckt, ein Problem anzugehen, für das sie gar nicht das passende Werkzeug besitzt, ist dies nicht sonderlich überzeugend.

Dennoch muss man klar sagen, dass die Idee eines „europäischen Mindestlohns“ grundsätzlich natürlich zu begrüßen ist. Ob dabei das nationale Durchschnittseinkommen der optimale Bezugswert ist, ist jedoch bereits fraglich. Denn wenn – wie beispielsweise in Deutschland – das Lohnniveau auch im mittleren Bereich im Vergleich zur Produktivität zu niedrig ist, würde sich dies durch Bezugnahme des Durchschnittseinkommens auf den Mindestlohn übertragen.

Dieses komplexe Thema zeigt bereits, wie machtlos die EU eigentlich in ökonomischen und sozialen Fragen tatsächlich ist. Und dies nicht immer aus schlechtem Grund. Die größten Gegner eines europäischen Mindestlohns sitzen in den Gewerkschaftszentralen der skandinavischen Länder. In Schweden, Finnland und Dänemark gibt es nämlich keinen gesetzlichen Mindestlohn, da die allermeisten Arbeitnehmer ohnehin gewerkschaftlich organisiert sind und fast alle Arbeitsverträge einer Tarifbindung unterliegen, die im Rahmen der Tarifpartnerschaft von den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ausgehandelt wurde und die unteren Löhne in der Regel deutlich über den Mindestlöhnen der anderen EU-Staaten liegen. Dass die Schweden kein gesteigertes Interesse daran haben, ihre – guten – Löhne künftig in Brüssel aushandeln zu lassen, ist nur all zu verständlich. Erstaunlich ist in diesem Kontext, dass der DGB sich zusammen mit den osteuropäischen Gewerkschaftsverbänden so sehr mit einem europäischen Mindestlohn anfreunden kann.

Warum die SPD sich ausgerechnet ein Thema für den Europawahlkampf heraussucht, bei dem sie gar keine Möglichkeiten einer sinnvollen Umsetzung hat und das zudem die eigenen Versäumnisse derart deutlich aufzeigt, ist ein offenes Rätsel. Wahrscheinlich haben die PR-Profis der Partei den „Mindestlohn“ als einzigen Punkt im jüngeren politischen Vermächtnis der SPD ausgemacht, mit dem man überhaupt noch für die Partei werben kann. Also will man den angeblich größten Erfolg der jüngeren Parteigeschichte auf nationaler Ebene nun auf die europäische Ebene hieven. Das Projekt 15 nimmt Form an.

Titelbild: Christos Georghiou/shutterstock.com, Montage: NachDenkSeiten.de


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