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Titel: Der Brexit braucht einen Buhmann
Datum: 10. Januar 2019 um 12:36 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Europäische Union, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik
Verantwortlich: Tobias Riegel
Parallel zu den aktuellen parlamentarischen Kämpfen um den EU-Austritt läuft die politisch-kulturelle Mythenbildung in Großbritannien auf Hochtouren: Es werden Erklärungsmuster gesucht, die den etablierten Politikbetrieb von der Verantwortung für die Brexit-Zuspitzung freisprechen sollen. Ein aufwendiger und irreführender Spielfilm lädt die Schuld für die Entwicklung nun vor allem einem Individuum auf. Von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Großbritannien sucht einen Schuldigen. Oder genauer – einige Gegner des Brexit versuchen sich aus der Verantwortung für die gesellschaftliche Zuspitzung zu stehlen: indem sie die selbst angerichteten sozialen Vorbedingungen des Brexit-Erfolgs leugnen und die Schuld für die Anti-EU-Stimmung allein dem genialischen Talent einzelner Propagandisten der „Leave“-Kampagne zuschreiben.
Der Mythos: Der Brexit ist das Werk einzelner Propagandisten
Während also Premierministerin Theresa May ums politische Überleben kämpft und das Parlament seit Monaten zur Bühne unwürdiger Taktik-Spiele wird, arbeiten parallel viele große Medien an der dominanten Erzählung von der durch bösartige Individuen in die Irre geführten Gesellschaft. Ausgeblendet wird in dieser Version, dass viele Brexit-Wähler erst durch eine langjährige wirtschaftsliberale Kürzungspolitik in die Position der unreflektierten Fundamental-Opposition gedrängt wurden – also nicht zuerst durch die „Brexiteers“, sondern schon viel früher durch die „etablierte“ Politik.
Potenziert wurde dieser Irrlauf vieler benachteiligter Briten durch den devoten Rückzug des einst „links“ genannten Lagers von der notwendigen EU-Kritik. Aus Angst, von den großen Medien in die „rechte“ Ecke gestellt zu werden, war die europäische „Linke“ viel zu lange sprachlos, angesichts der wirtschaftsliberalen Ausrichtung der EU. In Deutschland kann man neben Einzelpersonen eigentlich nur dem Wagenknecht-Flügel der Linkspartei bescheinigen, sich zu diesem Thema früh und vor allem konsequent genug positioniert zu haben.
Die Brexit-Kampagne hat Gräben vertieft – geschaffen wurden diese Gräben aber schon vorher
Hier sollen weder die Ziele noch die Strategie der Brexit-Kampagne über Gebühr verteidigt werden. Die polarisierende Kampagne hat mit schlimmen Ressentiments und Halbwahrheiten gearbeitet und generell das Irrationale gestärkt. Auch passt (ähnlich wie beim US-Präsidenten Donald Trump oder bei der AfD) die Brexit-Pose des Widerstandskämpfers nicht mit den teils neoliberalen politischen Forderungen zusammen. Das alles entlässt aber auf der anderen Seite die etablierten Politiker und Journalisten nicht aus ihrer Verantwortung, die sozialen Vorbedingungen für eine erfolgreiche Brexit-Kampagne geschaffen zu haben.
Vorläufiger Höhepunkt des medial-politischen Bestrebens, den Brexit nicht als Folge langjähriger Politik, sondern als raffinierten Coup ideologie-freier Hasardeure einzuordnen, ist der aktuelle und viel beachtete Spielfilm „Brexit: The Uncivil War“ von Toby Haynes. Man muss diese aufwendige Produktion auf zwei Ebenen betrachten. Formal und dramaturgisch ist es eine hervorragende Arbeit. Hauptdarsteller Benedict Cumberbatch gehört zu den begabtesten britischen Schauspielern seiner Generation. Wie er die Rolle des Brexit-Kampagnen-Chefs Dominic Cummings interpretiert, ist große Kunst seines Fachs. Insofern ist der Film handwerklich bemerkenswerte, fiebrige und unterhaltsame Kultur-Propaganda.
Allerdings ziehen sich die in vielen großen Medien schon lange verbreiteten Irreführungen auch durch diesen Film: Zum einen, die weitgehend unterschlagene Verantwortung der Kürzungspolitik. Zum anderen die falsche These, dass die genutzten Wahlkampf-Techniken – wie die dubiose Agentur „Cambridge Analytica“ – Alleinstellungsmerkmale von „Rechtspopulisten“ seien. Die Zuspitzung auf Cummings als den zentralen Buhmann ist zudem so durchschaubar, dass man froh ist, dass nicht auch noch Wladimir Putin ein Mittun am Brexit unterstellt wird.
Viele Feuilletons deutscher Zeitungen folgen nun dieser Darstellung von dem „Einzeltäter“ Cummings mehr oder weniger. So titelt die „Zeit“ etwa: „Der Brexit-Bereiter“. Und auch der Deutschlandfunk fokussiert etwas zu sehr auf Cummings als dem „Mastermind der Brexit-Kampagne“. Zwar nimmt der Sender sehr wohl ein „Ächzen tief unten in der britischen Gesellschaft“ wahr. Aber wer dieses Ächzen hervorgerufen hat, wird nicht angemessen verdeutlicht.
Kürzungspolitik bereitete „Brexiteers“ ein Feld, das zusätzlich von den „Linken“ geräumt wurde
Craig Oliver, der Kampagnen-Chef des „Stay“-Lagers, sagt im Film, die Brexit-Kampagne habe bereits vor Jahrzehnten begonnen, wie hätte er das in wenigen Wochen drehen sollen. Da ist etwas dran. Aber auch diese Rufschädigung der EU sowie Figuren wie der Politiker Nigel Farrage wurden erst durch große Teile des „Remain“-Lagers und ihre wirtschaftsliberale Politik möglich gemacht – also durch „EU-Verteidiger“. Cummings’ Filmcharakter gibt auf Olivers moralische Anklagen denn auch eine stimmige Antwort: „Wir haben die gesellschaftlichen Abgründe nicht geschaffen – wir haben sie nur sichtbar gemacht.“
Zwar weist der zuspitzende Film hier und da auch Grautöne auf und auf soziales Elend hin. Unterm Strich aber bleibt die falsche Botschaft: beim Brexit-Konflikt stemmten sich die „unschuldigen“ etablierten Politiker und Journalisten rechtschaffen als die „Guten“ gegen skrupellose Populisten. Diese Strategie ähnelt dem Vorgehen der Demokraten in den USA beim „Aufarbeiten“ des Trump-Siegs und zeigt Parallelen zur medialen Analyse des Aufstiegs der AfD in Deutschland.
Wähler-Spionage ist nur böse, wenn sie von „Populisten“ praktiziert wird
In dem Film und in der britischen Debatte spielt der technische Aspekt der Wähleranalyse durch neue Algorithmen und dubiose Firmen wie „Cambridge Analytica“ (CA) eine zentrale Rolle. Der Aspekt, dass solche vom Brexit-Lager genutzten Analysen ohne einen vorangegangenen langjährigen Wählerbetrug gar nicht fruchten könnten, wurde schon verdeutlicht. Die moralischen Anklagen gegen CA entbehren noch aus anderen Gründen nicht der Heuchelei, wie Jens Berger bereits zu dem Thema geschrieben hat:
„Bekanntheit erlangte CA vor allem durch die erfolgreiche Arbeit für die Brexit-Kampagne und die Arbeit für den damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. CA gehört zum Firmengeflecht des Hedge-Fonds-Milliardärs und Trump-Unterstützers Robert Mercer, der eng mit den rechten Politikern Steve Bannon (Breitbart) und Nigel Farrage (UKIP) befreundet ist. Man darf vermuten, dass CA heute komplett unbekannt wäre, wäre Mercer stattdessen mit Hillary Clinton und Tony Blair befreundet. Der Skandal ist nach Ansicht der großen Medien ja nicht, dass CA bestimmte Techniken nutzte, sondern dass ausgerechnet Donald Trump und die Brexit-Kampagne davon profitierten.“
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