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Titel: Serie zur Novemberrevolution ­– Teil 3

Datum: 7. Dezember 2018 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufrüstung, Demokratie, Gedenktage/Jahrestage, Innen- und Gesellschaftspolitik, SPD
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Vorbemerkung: Wir bringen auf den NachDenkSeiten in drei Teilen einen ausführlichen Text von Winfried Wolf zur Novemberrevolution, zur Bayerischen Räterepublik und zur aktuellen Debatte über diese Ereignisse. Der erste TeilSerie zur Novemberrevolution – Teil 1” hatte drei Ereignisse, die zum Verständnis der Revolution wichtig sind, zum Thema. In Teil 2Serie zur Novemberrevolution – Teil 2“ wurden drei Phasen der Revolution untersucht.
Der hier wiedergegebene Teil 3 geht ein auf die Bayerische Räterepublik, die hierzulande meist besonders verzerrt dargestellt wird.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Im Zeitraum 8.November 1918 bis 2. Mai 1919 standen in dieser noch stark landwirtschaftlich geprägten Region ebenfalls die Räte – und zwar Arbeiterräte und Bauernräte – und damit die Forderungen nach direkter Demokratie im Zentrum. Im Folgenden werden vier Gründe für das Scheitern der Revolution genannt: (1) die fehlende organische Führung bzw. die Zersplitterung der linken Kräfte, (2) die fehlende Ausarbeitung eines Gesamtkonzeptes der Rätedemokratie, (3) das Doppelspiel der SPD-Führung und deren enge Zusammenarbeit mit rechten Kräfte und (4) schließlich die unvorstellbare Brutalität, mit der Freikorps und Reichswehr gegen die Räte und gegen die Zivilbevölkerung vorgingen.

Schließlich warnt Winfried Wolf vor Projekten einer neuen Militarisierung, wie sie von der deutschen Bundeskanzlerin und von dem französischen Präsidenten ausgerechnet im Zusammenhang mit dem Gedenken an das Kriegsende vor 100 Jahren propagiert wurden.

Die Bayerische Räterepublik – Bauernräte inklusive

Die deutsche Revolution 1918-1920 gab es im gesamten deutschen Reich. Reichsweit hatten sich im November 1918 (und danach meist immer wieder aufs Neue) Arbeiterräte herausgebildet, die die lokale und oft die regionale Macht übernahmen. Dies führte zu bemerkenswerten regionalen Verdichtungen des revolutionären Prozesses mit lokalen Besonderheiten und oft mit unglaublich harten Auseinandersetzungen. Im Jahr 1919 (ab Februar) und im Jahr 1920 (ab Ende März) tobte in Deutschland ein umfassender Bürgerkrieg. Als Stichpunkte zu nennen sind hier die Räterepublik Bremen, die Kämpfe um Braunschweig, im Ruhrgebiet, in Sachsen, dann erneut im Ruhrgebiet, in Thüringen, Magdeburg, Chemnitz, im Erzgebirge, im Vogtland (dort, mit der Besonderheit des Kampfs von Max Hoelz, eines neuen Robin Hood.)[1]

Im März 1919 kam es in Berlin zu einem Generalstreik mit den Forderungen nach Demokratisierung des Heeres und Sozialisierung der Wirtschaft, der von allen Arbeiterparteien beschlossen wurde. Er wurde nach einer Woche abgebrochen. Es folgte, wie Mark Jones schrieb, „ein Crescendo der Gewalt, das alles übertraf, was seit Ausbruch der Moderne in irgendeiner deutschen Stadt oder Großstadt an Blutvergießen stattgefunden hatte.“ Nach Gustav Noskes eigenen Angaben wurden von den Freikorps-Männern 1200 Menschen, darunter Jugendliche, Frauen und Kinder, ermordet.[2]

In dieser Darstellung kann nicht dieses breite Spektrum der Revolution abgedeckt werden. Das ist auch nicht der Anspruch dieser Arbeit. Auf Bayern soll jedoch gesondert eingegangen werden. Es handelt sich immerhin um das einzige Land im Reichsgebiet, in dem ein Modell direkter Demokratie mit Arbeiterräten, gepaart mit einer parlamentarischen Regierung, zunächst erfolgreich war und in dem es eine Reihe anderer interessanter Besonderheiten gab.

Dass in Bayern die Uhren anders ticken, gilt in Deutschland als Allgemeingut. Allerdings ist damit heute in der Regel gemeint, dass es dort oft mehr als anderswo in Deutschland reaktionäre Tendenzen gibt und dass zum Beispiel die CSU traditionell deutlich rechts von ihrer Schwesterpartei steht. Was der CSU-Übervater Franz-Joseph Strauß in den 1970-er Jahren programmatisch sah, wenn er forderte, dass es rechts neben der CSU keine Partei mit Aussicht auf parlamentarische Repräsentanz geben dürfe. Und so tobte denn in der Münchner Öffentlichkeit Ende der 1960-er Jahre eine heftige Debatte, als eine Straße nach Kurt Eisner, dem ersten roten Regierungschef des Freistaats Bayern, benannt werden sollte. Der damalige bayerische Landwirtschaftsminister, Alois Hundhammer (CSU), argumentierte, Eisner sei „eine böse und verhängnisvolle Erscheinung der bayrischen Geschichte” gewesen. In Leserbriefen wurde Eisner mal eher freundlich als „Bohemien mit dem Sauerkrautbart”, überwiegend jedoch unfreundlich und hasserfüllt als „Tyrann“, „Bolschewist”, „Geiselmörder” und „Novemberverbrecher” bezeichnet.[3]

Die Negativtitulierungen treffen kaum die Gefühle, die die bayerische Bevölkerung in ihrer Mehrheit Eisner entgegenbrachte. Generell versetzt die Entwicklung in Bayern in den Jahren 1918/19 uns heutzutage vielfach ins Erstaunen. Hier fand die Revolution früher als anderswo im Deutschen Reich statt.[4] Sie war tiefer als im sonstigen Reich in der Bevölkerung verankert. Sie konnte sich so lang wie nirgendwo sonst im Reich an der Macht halten. Sie hatte zutiefst demokratischen Charakter. Und sie war, wie überall im Reich, gutmütig und vor dem Eingreifen der Konterrevolution großzügig. Sie vermied solange viele der Fehler, die in Berlin begangen wurden, wie ihr führender Kopf – Kurt Eisner – lebte.

In München hatte die Revolution bereits am 3. November begonnen, als dort tausend Matrosen aus dem österreichischen Hafen Pola (heute Pula) ankamen und mit Blick auf den Matrosenaufstand im Norden zurückgehalten wurden. Sie waren bald Teil der Revolution in Bayern. Am 7. November – ein Tag vor der Revolution in Berlin! – wurde der bayerische König davongejagt, ein Arbeiter- und Bauernrat gebildet, die „Republik“ ausgerufen und Kurt Eisner zum Ministerpräsidenten ernannt. Eisner griff den reichsweit weit verbreiteten Einheitsgedanken auf und erklärte: „Der Bruderkrieg der Sozialisten ist für Bayern beendet.“ Am 8. November bildete sich in München ein „Provisorischer Nationalrat“, unter anderem bestehend aus Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten. Eisner präsentierte diesem sein Kabinett, bestehend aus USPD- und SPD-Personal. Es gelang in München von Anfang an, die dort stationierten Truppen für die Revolution zu gewinnen oder zumindest zu neutralisieren. Sebastian Haffner:

„Die Münchner Revolution war komplett, durchgeführt in einem rasanten Alleingang und innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Kein Schuss war gefallen, kein Tropfen Blut vergossen. Und der Mann, der dieses Kunststück fertig gebracht hatte, gestern noch ein Niemand, hatte alle Fäden in der Hand.“[5]

Haffner ist überzeugt, dass „der wahre Gegenspieler Eberts […] nicht Liebknecht, [sondern] Eisner [war].“ Ihn interessierte Eisners

„Revolutionsmanagement in Bayern, das man meisterhaft nennen muss – auch wenn zweifelhaft bleibt, ob eine erfolgreiche Revolution in Bayern sich gegenüber einer siegreichen Gegenrevolution im übrigen Deutschland auf Dauer hätte halten können. Eisner war der einzige Mann in Deutschland, der mit scharfem Spürsinn erfasste, worauf die deutsche Revolution hinzielte, und ihr geschickte Geburtshilfe gab […] Eisner hatte, im Gegensatz zu Ebert, vom ersten Tag an einen klaren Blick für die internationale Lage des besiegten Deutschland und eine klare außenpolitische Konzeption: Er sah die Gefahr eines Diktatfriedens und suchte ihr zuvorzukommen durch eindrucksvolle Beweise des Bruchs mit dem Alten im Inneren.“[6]

Richtig ist, dass sich Eisner – ursprünglich ein Berliner Literat, ein Jude und ein Bilderbuch-Intellektueller – binnen weniger Tage zum bayerischen Volkshelden entwickelte. Unter Eisner konnten sich die Ideen von radikaler Demokratie, Volksherrschaft und Räten als Kontrollorgane gegenüber einem Parlament landesweit verankern – und dies in einer Region, die so stark wie kaum eine andere im Deutschen Reich weiterhin überwiegend landwirtschaftlich geprägt war. Der neue Staat in Bayern sollte nach Eisner nicht nur ein Arbeiterstaat, er sollte zugleich ein Bauernstaat sein. Nur in Bayern spielten Bauernräte in der Revolution eine größere Rolle.

Karl Schweizer legte 2018 eine umfangreiche, 200 Seiten starke, bebilderte Studie über die Novemberrevolution und die Räterepublik im (bayerischen) Lindau vor. Verfolgt man in dieser Arbeit das Revolutionsgeschehen, so ist man überrascht, wie viel Zustimmung die Forderungen, die in München formuliert wurden, auch in dieser Bodenseestadt – man ist geneigt zu sagen: tief in der bayerischen Provinz – fanden.[7] Klaus Gietinger führt seinerseits eine lange Liste von überwiegend ländlichen Orten in Bayern an, die sich dem Rätegedanken anschlossen.[8] All das dokumentiert, dass die Revolution keineswegs nur eine Sache der Stadtbevölkerung und auch nicht nur eine Sache der Arbeiterklasse war.

Eisner hatte auch ein gutes Gefühl für den Zusammenhang zwischen Revolution und Außenpolitik. Er warnte vor einem „Diktatfrieden“ und kritisierte die SPD-geführte Regierung in Berlin, weil diese sich in der Außenpolitik in die Tradition des alten Regimes stellte. „Einer Regierung, die alle Verantwortung der Vergangenheit mit übernommen hat“, drohe ein „furchtbarer Friede“.[9]

Die friedliche Revolution in Bayern währte ein gutes Vierteljahr. Am 21. Februar 1919 wurde Eisner von einem Nazi der frühen Stunde ermordet. Wenige Stunden später wurde der SPD-Führer Auer, zugleich der Innenminister und der zweitwichtigste Mann im Kabinett, ebenfalls ermordet. Die Regierung brach auseinander. Nach einer Zwischenperiode, in der mit einer all-sozialistischen Regierung unter dem SPD-Mann Johannes Hoffmann nochmals ein Kompromiss zwischen Räten und Parlamentarismus gesucht wurde, kam es am 5. April zur Spaltung. Jetzt – und erst jetzt – wurde eine (reine) Räterepublik ausgerufen. Die Regierung Hoffmann suchte sich im katholischen Bamberg einen Standort, der nicht von der Revolution umtost war und von wo die Konterrevolution angeleitet werden konnte. Die Räterepublik konnte sich zunächst mit einer Streitmacht, die improvisiert aufgestellt wurde und die sich als „Rote Armee“ bezeichnete, gegen rechte, bayerische Militärs durchsetzen. Daraufhin rief Hoffmann Reichswehrminister Noske und dessen Freikorps zu Hilfe. 20.000 Mann preußischer und württembergischer Freikorps rückten von Norden und Westen gegen die Räterepublik vor. Diese konnte sich noch wenige Tage in heftigen Kämpfen verteidigen. Als die Sieger am 2. Mai München eingenommen hatten, folgte, so Sebastian Haffner,

„ein ´weißer Schrecken´, wie ihn noch keine deutsche Stadt, auch Berlin im März [1919] nicht, erlebt hatte. Eine Woche lang hatten die Eroberer Schießfreiheit, und alles, was ´spartakusverdächtig´ – war – im Grunde die gesamte Münchner Arbeiterbevölkerung -, war vogelfrei. […] In diesem weißen Terror in München fällt ein unverkennbarer Zug von Sadismus auf. Gustav Landauer etwa, der hochgebildete Unterrichtsminister der ersten Räteregierung […] wurde im Hof des Stadelheimer Gefängnisses buchstäblich zu Tode getrampelt – nicht etwa in einer Stimmung der Wut, sondern in einer Art johlender Siegesfeier.“ [10]

Vier Gründe für die Niederlagen.
Oder: Wie die Revolution immer wieder zurückgeworfen und schließlich abgewürgt werden konnte

Die mehrfachen Niederlagen der Revolution in Berlin, München und im gesamten Reich werfen die Frage nach den Gründen auf. Zumal dieser Sieg der Konterrevolution und der alten Kräfte, die im Kaiserreich das Sagen hatten, tatsächlich von welthistorischer Bedeutung sind. Die Ereignisse in Deutschland im Zeitraum 1918 bis 1920 beförderten zunächst das Scheitern der Weimarer Republik und bereiteten die Machtübernahme durch die faktischen Nachfolger der Freikorps, die NSDAP, SA und SS im Januar 1933 vor.
Sodann gab es 1918-1923 in vielen Ländern – so in Österreich – Räte und in einigen Ländern (so in Ungarn, in der Slowakei und in der iranischen Provinz Gilan) kurzzeitige Räterepubliken. Die Entwicklung in Deutschland spielte hier überall eine wichtige Rolle und beeinflusste die politische Situation andernorts.

Vor allem trug die Niederlage der Revolution in Deutschland erheblich dazu bei, dass die Errungenschaften der Oktoberrevolution in Russland abgewürgt, der Prozess der Entdemokratisierung und der Stalinisierung sich beschleunigte und dass sich dort bis Ende der 1920-er Jahre eine Diktatur durchsetzte, die eine Perversion der sozialistischen Ideale darstellte. Klaus Gietinger: „Hätte die Novemberrevolution wenigstens in Teilen gesiegt, es hätte vermutlich keinen Hitler und vermutlich keinen Stalin gegeben. Und hunderte Millionen Menschen hätten länger und gut gelebt.“

Es waren im Wesentlichen vier Gründe, die für diese Niederlage verantwortlich waren: zunächst die fehlende Führung, sodann das am Ende unzureichend konkretisierte Konzept einer direkten Demokratie mit Rätestrukturen; des weiteren die Politik der SPD (oder deren Doppelspiel und Verrat) und schließlich die unvorstellbare Brutalität der Konterrevolution.

Erstens. Es gab keine bewusste Führung mit ausreichender Verbreitung und Verankerung im deutschen Reich.

Dass die Novemberrevolution primär ein spontaner Prozess gewesen sei, ist ebenso unwahr, wie die Behauptung, diese sei in starkem Maß von Spartakus beeinflusst gewesen. Die Revolutionären Obleute waren, wie beschrieben, eine klug handelnde, den Prozess in Berlin im November steuernde und später stark beeinflussende Gruppierung. Ihr Vorgehen und ihre Strukturen hatten einige Ähnlichkeit mit denen der Bolschewiki 1917 (was Richard Müller, Emil Barth, Ernst Däumig und Freunde allerdings wohl von sich gewiesen hätten). Es gab bei den Obleuten sicher personelle Schwächen – siehe das Missmanagement am 10. November im Zirkus Busch (Teil 2 dieser Serie). Es gab deutliche Fehlentscheidungen: Liebknecht als Volksbeauftragter auf dem Obleute-Ticket wäre sicher eine ganz andere Sache gewesen als Haase. An wichtigen Scheidepunkten der Revolution weigerten sich die Radikalen (Obleute, USPD, Spartakus), in Gremien zu gehen, in denen die Mehrheitssozialisten maßgeblich vertreten waren. Das waren offensichtlich fatale Fehlentscheidungen.

Die KPD beschloss auf ihrem Gründungsparteitag – entgegen den Forderungen von Luxemburg und Liebknecht –, die Reichstagswahlen im Februar 1919 zu boykottieren. Auch dies war wohl ein Fehler.

Doch vergleichbare Fehler, Schwächen und Schwankungen gab es in den Monaten Februar bis Oktober 1917 auch bei den Bolschewiki. Lenin war innerhalb „seiner“ Bolschewiki, als er seine „Aprilthesen“ (im April 1917) schrieb und mit diesen auf eine zweite Revolution hinarbeitete, in der absoluten Minderheit.

Das doppelte Manko – auch im Vergleich zu den Bolschewiki – war: Die Obleute waren auf die Hauptstadt beschränkt. Gleichzeitig war die radikale Linke mehrfach gespalten. Auf Reichsebene gab es auf Seiten der revolutionären Kräfte die heterogene USPD[11] und die radikale, oft ultralinke Spartakus-Gruppe. Die Obleute waren überwiegend mit der USPD verbunden; dies aber meist nur in lockerer Form. Als zum Jahreswechsel 1918/19 Spartakus aufgegeben und die KPD gegründet wurde, sprach alles für eine Vereinigung von KPD (Spartakus) und den Obleuten. Das war auch das Ziel von Luxemburg und Liebknecht. Der KPD-Parteitag wurde sogar unterbrochen, um eine solche Vereinigung in letzter Minute zu ermöglichen. Doch diese scheiterte – nicht zuletzt aufgrund von ultimativen Positionen Liebknechts: Dieser bestand u.a. darauf, dass der Name „Spartakus“ weiter im Namen und in Verbindung mit „KPD“ geführt werden müsse.

Die Räte agitierten oft, z. B. im Ruhrgebiet, parteiunabhängig, es gab dort eine starke syndikalistische Strömung.

Insgesamt waren damit die radikalen Kräfte auch in den großen Auseinandersetzungen im November und Dezember 1918, im Januar 1919 und im März 1920 gespalten.

Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (und in den Wochen danach die Ermordung anderer prominenter Radikaler, so diejenige von Kurt Eisner (USPD) und Eugen Leviné (KPD) in München und von Leo Jogiches (KPD), Hugo Haase (USPD) und Heinrich Dorrenbach (Volksmarinedivision) in Berlin) beraubte die radikale Linke ihrer führenden Köpfe.

Insbesondere die Morde an Luxemburg und Liebknecht waren strategisch geplant. Die beiden personifizierten die Kritik an der SPD-Führung seit dem SPD-Ja zu den Kriegskrediten. Sie analysierten von Beginn der Revolution an in Aufsätzen und Reden und ab dem 18. November 1918 täglich in der Roten Fahne das falsche Spiel, das die SPD-Führer trieben. Vor allem aber „verkörperten Liebknecht und Luxemburg wie niemand sonst in den Augen von Freund und Feind die deutsche Revolution. Sie waren ihre Symbole, und mit ihnen erschlug man die Revolution.“[12]

Zweitens. Es gab einerseits in der deutschen Revolution diesen begeisternden Gedanken von Räten. Andererseits wurde diese Idee einer direkten Demokratie nicht verallgemeinert, womit es erschwert wurde, dass sie massenwirksam wurde. Es handelte sich immer „nur“ um eine Idee, die weltweit und spontan aufgegriffen wurde (und dies auch noch in späteren Revolten, so beim Ungarischen Aufstand 1956 und in späteren sozialistischen Modellen, so im Rahmen der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien 1945 bis 1989 [13]).

In der deutschen Revolution 1918-1920 spielten die Arbeiterräte (anfangs die Arbeiter- und Soldatenräte) eine große Rolle. Sie wurden vielfach spontan gebildet. Dies erfolgte bereits in den Tagen vor dem 9. November in Norddeutschland und im Westen des Reichs. Sie waren aber auch ein zentrales Element in den strategischen Planungen der Revolutionären Obleute. Siehe deren Coup zur Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten und dem ersten Treffen dieser Räte im Zirkus Busch am 10. November in Berlin. Bei all dem spielten sicher die historischen Erfahrungen der Pariser Kommune und vor allem diejenigen der Russischen Revolution 1905 und der Oktoberrevolution 1917 eine große Rolle. Trotz einiger Versuche (z.B. seitens Müller und Däumig) wurde kein Gesamtkonzept dieses Rätemodells, das von den wesentlichen Kräften der Revolution mitgetragen worden wäre, entwickelt. Faktisch gab es zwei grundlegende Modelle: das Modell einer reinen Räteherrschaft (teilweise angelehnt an die Oktoberrevolution). Und das Modell, in dem die Räte als Körperschaft der arbeitenden Klassen ein Kontrollorgan gegenüber dem Parlament sein würden (dies scheint das Modell gewesen zu sein, das Kurt Eisner und teilweise Richard Müller und Ernst Däumig vorschwebte). In den „Richtlinien für die Aufgaben und das Tätigwerden der Arbeiterräte“, die im Januar 1919 auf der Vollversammlung der Groß-Berliner Arbeiterräte angenommen wurden, tauchen die Regierung (Volksbeauftragte) und eine Nationalversammlung bzw. ein Parlament allerdings nicht auf. Festgehalten wird: „Die Arbeiterräte sind die berufene Vertretung der werktätigen Bevölkerung. Sie haben die Aufgabe, die Neuordnung in Deutschland zu sichern und auszubauen. […] Das Ziel ihrer Tätigkeit muss die schleunige Sozialisierung des Wirtschafts- und Staatswesens sein.“[14]

Unbestritten scheint, dass es ursprünglich bei beiden Modellen mehrere Strömungen und Parteien geben sollte, die Kandidaten zur Wahl der Räte aufstellen würden und dass sich in den Räten die unterschiedlichen politischen Strömungen der arbeitenden Bevölkerung widerspiegeln sollten. Das war auch in den Räten in Russland 1917/18 der Fall. Dass es dort dann zum Ausschluss aller Strömungen, die in Opposition zu den Bolschewiki standen, kam, hat auch viel mit dem aufgezwungenen Bürgerkrieg und der Invasion von ausländischen Heeren zu tun. Es war aber auch ein schwerer Sündenfall der Führung der Bolschewiki um Lenin und Trotzki, der die spätere Stalinisierung begünstigte. Rosa Luxemburg hat diese Entscheidungen frühzeitig kritisiert und vor der Gefahr des Absterbens jeder Demokratie und des Entstehens einer Diktatur gewarnt.[15]

Auch wenn es auf den Rätegedanken gewiss kein deutsches Patent gibt, so waren die Räte als Teil des revolutionären Prozesses wohl in keinem anderen Land derart in der arbeitenden Bevölkerung verbreitet und verankert – und zugleich bei den Militärs und im Großbürgertum verhasst – wie in Deutschland 1918-1920.

Die heutige Linke und die demokratischen Kräfte hierzulande sollten angesichts der Erfahrungen der deutschen Revolution 1918-20 prüfen, inwieweit Räte als Struktur direkter Demokratie Bestandteil einer zukünftigen solidarischen Gesellschaft sein könnten.

Drittens. Der Verrat der SPD-Führung und der SPD-nahen Gewerkschaften spielte eine entscheidende Rolle bei der Niederlage der deutschen Revolution.

Das Doppelspiel der SPD war perfide und umfassend. Der Verrat fand in einer organisierten und fast gespenstisch zu nennenden Form statt. Klaus Gietinger findet den Begriff „Verrat“ unpassend, da die SPD-Führung ihre Absichten immer deutlich gemacht hätte. Man könne hier „nicht von Verrat sprechen, sondern einfach davon, dass sich da Führungspersonal der SPD und der Gewerkschaften bis hinein in die Kader der Provinz verbürgerlicht hatte.“[16] Ich tendiere dazu, den Begriff „Verrat“ weiter als moralische und politische Kategorie zu verwenden. Die Mehrheit der arbeitenden Menschen hielt die SPD auch Ende 1918 noch für eine Partei, die Arbeiterinteressen vertreten würde. Sie sah diese nicht auf Seiten der Konterrevolution. Teilweise gewann sie den Eindruck, diese habe sich geläutert. Anders kann man nicht erklären, dass die SPD bei der Reichstagswahl 1919 gegenüber den letzten vorausgegangenen Wahlen von 1912 zugelegt hat – und die USPD nur auf eher bescheidene 7,6 Prozent kam. Die Entwicklung des allgemeinen Bewusstseins verläuft – nicht zuletzt bedingt durch die bürgerliche Propagandamaschinerie – deutlich verlangsamt und oft sprunghaft.

Hinzu kommt: Dass es einen „Verrat“ der SPD-Führung im moralischen Sinn gab, war seit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 eine in Deutschland weit verbreitete Erkenntnis. Doch die hier beschriebene organisierte und vielfach bis zur Selbstverleugnung und Selbstzerstörung betriebene Form des Doppelspiels, diese intensive Zusammenarbeit zwischen SPD-Führung und Konterrevolution, überstieg wohl alles, was auch aufgeklärte Menschen im revolutionären Deutschland für möglich gehalten hatten. Wäre beispielsweise bereits während der Höhepunkte der Revolution aufgedeckt worden, dass es die ständigen Absprachen zwischen Ebert und Groener über die beschriebene geheime Telefonleitung gegeben hatte, hätte es also damals eine Art Wikileaks mit der entsprechenden Dokumentation, der Mitschrift, dieser Gespräche gegeben, so hätte dies zweifelsohne die Glaubwürdigkeit, die die SPD-Führung damals noch in weiten Kreisen der arbeitenden Klasse hatte, nachhaltig erschüttert.

Die Bourgeoisie jedenfalls kannte die weiterhin integrierende Kraft der Sozialdemokratie. Sie wusste, dass die Führungen von SPD und Gewerkschaften das Vertrauen der Massen hatten, dass es also große Chancen auf ein Funktionieren des Doppelspiels gab.

Und diese Bourgeoisie setzte noch vor Kriegsende bewusst auf die SPD und die SPD-nahen Gewerkschaften als ihre Retter vor der Revolution. In der Arbeit von Richard Müller wird ein einmaliges Dokument wiedergegeben, das dieses Langzeitdenken des deutschen Großbürgertums belegt. Es handelt sich um eine Rede von Dr. J. Reichert, des Geschäftsführers des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, die dieser am 30. Dezember 1918 vor einem internen Gremium der Unternehmer hielt und in der dieser über interne Debatten in den Industriellenkreisen vor Kriegsende wie folgt berichtet:

„Tatsächlich war die Lage schon in den ersten Oktobertagen [des Jahres 1918; W.W.] klar. Es kam darauf an: wie kann man die Industrie retten? Wie kann man auch das Unternehmertum vor der drohenden […] nahenden Revolution bewahren? Am 9. Oktober 1918 saßen im Stahlhof zu Düsseldorf eine Anzahl von Eisenindustriellen, die sich über diese Dinge unterhielten. Die Versammelten waren sich einig darüber, dass […] die Regierung des Prinzen Max von Baden […] bald gestürzt werden würde. […] Jedenfalls haben sich die Industriellen von einer schwachen Regierung keine Hilfe versprechen können. Blickte man weiter und fragte dann: kann vielleicht das Bürgertum künftig eine […] Hilfe […] werden, so musste man angesichts der […] häufigen Enttäuschungen […] sich sagen: Auf das Bürgertum ist […] in wirtschaftspolitischen Dingen leider kein Verlass. Einen überragenden Einfluss schien nur die organisierte Arbeiterschaft zu haben. Daraus zog man den Schluss: inmitten der allgemeinen Unsicherheit, angesichts der wankenden Macht des Staates und der Regierung gibt es für die Industrie nur auf Seiten der Arbeiterschaft starke Bundesgenossen.“[17]

Viertens. Die Brutalität, mit der die Konterrevolution gegen die revolutionären und demokratischen Kräfte vorging, ist in der Geschichte der modernen Gesellschaft und in der jüngeren deutschen Geschichte einmalig.

Es gab in Deutschland einen von den Rechten betriebenen und von der SPD-Führung orchestrierten langanhaltenden Bürgerkrieg. In diesem wurden Waffen eingesetzt, wie sie „eigentlich“ nur im Krieg und „eigentlich“ nur gegen eine vergleichbar ausgerüstete militärische Gruppe bzw. Armee zum Einsatz kommen. Die SPD-geführte Regierung und ihr Frontmann auf dem Gebiet Konterrevolution und Massaker, Gustav Noske, bauten binnen weniger Monate eine gigantische Bürgerkriegsarmee auf, die in erster Linie aus Freikorps-Einheiten bestand. Auf dem Höhepunkt dieses Bürgerkriegs gab es 68 anerkannte Freikorps mit – laut Noske – insgesamt vierhunderttausend Mann. Die Freikorps glichen eher Landsknechtstrupps; Gietinger spricht von „autoritär geführten Stoßtrupps mit hoher Zerstörungskraft; Kampfblöcke.“[18] Die Freikorps waren auf ihre Führer eingeschworen, die Mentalität der Freikorps-Männer war durchgehend reaktionär, teilweise noch monarchistisch eingestellt, überwiegend bereits rechtsextrem und faschistisch. Auch wenn sie von der SPD-geführten Regierung immer wieder zu Hilfe gerufen wurden, hassten die Freikorps-Männer nicht nur die Revolutionäre, sondern vielfach auch die SPD – und in jedem Fall die „Republik“. Finanziert wurden die Freikorps teilweise von Großunternehmern wie Hugo Stinnes, überwiegend aber aus der Reichskasse, also bis Mitte 1920 auf der Grundlage von Entscheidungen der jeweiligen SPD-geführten Regierungen. Nach den heutigen Begriffen würde man von einer halb-privaten Söldner-Armee nach Art der Blackwater-Einheiten im Irak-Krieg 2003ff sprechen. Die Freikorps-Männer waren Berufssoldaten auf Zeit, Job-Beschreibung „Bürgerkrieg; Straßenkampf; zu Liquidationen befähigt“. Vor allem waren diese Leute gut bezahlt. Dazu heißt es in einer Studie über den Gründer des ersten Freikorps, Georg Maerker:

„Während der Grundlohn im alten Heer 30 Mark im Monat betrug, erhielten die Freikorpsmitglieder zusätzlich fünf Mark am Tag; bei Einsätzen außerhalb des Reichsgebiets neun Mark pro Tag. Verheiratete und kinderreiche Männer bekamen noch zusätzlichen Sold. Das Geld erstattete die Reichsregierung. Bizarr musste manchen älteren Militärs die Verpflichtungsdauer und Kündigung erscheinen: Man verpflichtete sich für einen Monat mit vierzehntägiger Kündigungsfrist.“[19]

Angesichts eines kaiserlichen Heeres, das in den vier Weltkriegsjahren 13 Millionen Mann durchlaufen hatten, das bei Kriegsende mehr als fünf Millionen Soldaten zählte, das im Zeitraum November 1918 bis Frühjahr 1919 rasant auf bis wenige Hunderttausend Mann geschrumpft war und angesichts einer darniederliegenden Wirtschaft mit wenig Möglichkeiten für einen „anständigen“ Broterwerb, boten diese Freikorps höchst interessante Erwerbsmöglichkeiten. Das „Werben fürs Sterben“, das aktuell die Bundeswehr mit eher wenig Erfolg betreibt, stieß unter solchen Bedingungen auf fruchtbaren Boden.

Die Soldateska, die auf diese Weise aufgebaut wurde, hatte überwiegend ihr „Handwerk“ im Krieg gelernt. Viele der Freikorps-Männer hatten zuvor im Krieg jede Wertschätzung von Menschenwürde und Leben verloren. Dabei handelte es sich bei den Angehörigen der Freikorps fast immer um Menschen, deren extrem rechte – monarchistische und faschistische – Gesinnung die allgemeinen Verrohungstendenzen, zu denen es im Krieg kam, ergänzten. Der Freikorps-Offizier Friedrich Wilhelm von Oertzen schrieb:

„Man lebt nicht durch Jahre in unmittelbarster Nachbarschaft mit den tausend grausigen Gesichtern des Todes, ohne dass diese Nachbarschaft auf Lebensauffassungen und Lebensformen stärksten Einfluss ausübt. Die Anforderungen, die besonders die letzten Jahre des Krieges in jeder Beziehung an Frontoffiziere und Landser stellten, hatten für beide naturnotwendig eine neue Wertordnung im Gefolge, in der bürgerliche Tugenden und Lebensformen als für die Kriegsbedürfnisse unnötig oder gar hinderlich weit unten auf der Skala rangierten.“[20]

Mit entsprechender Geisteshaltung und Mordpraxis agierten die Freikorps in Russland, im Baltikum, in Polen… und in Deutschland. Haffner schreibt in seiner Bilanz des Terrors in München nach Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik, dass dem Agieren dieser Truppen „etwas vom Charakter einer fremden Invasion und Besetzung anhaftet. Die preußischen Freikorps fühlten und benahmen sich wie Sieger in einem eroberten Land.“

Klaus Gietinger zieht einen ähnlichen Vergleich und verbindet dies mit dem Vorausgegangenen und dem noch Kommenden:

„Der Vernichtungswille, den die kaiserliche Armee schon Chinesen, Hereros und Belgier hatte spüren lassen, wurde nun auf den inneren Feind konzentriert und durch den Mythos von der Abwehr des Bolschewismus zusätzlich aufgeladen. Oder, wie sich der Freikorps-Offizier, Erzberger-Mörder und späterer SA-Gruppenführer Manfred von Killinger ausdrückte: ´Krieg ist Gewalt, aber Bürgerkrieg ist Gewalt in höchster Potenz. Mäßigung, Duldsamkeit unsererseits, wäre Dummheit, nein, Verbrechen am eigenen Volk und Staat gewesen.“[21]

Macron und Merkel plädieren für Hochrüstung
… als Lehre aus dem Ersten Weltkrieg

Womit wir wieder bei des Bundespräsidenten Aussage vom 9. November 2018 sind, wonach die „gemäßigten Kräfte“, die SPD-Führung, einen „Kompromiss“ mit den „gemäßigten Kräften des Bürgertums“ gesucht und gefunden hätten.

Nein! Es gab eine solche Kompromisssuche nicht. Die Revolution scheiterte auch, weil die SPD elementare Grundwerte, für die sie damals und heute laut Programm eintritt, etwa für Frieden, mit Füßen trat und mit denjenigen Kräften zusammenarbeitete, die für den Ersten Weltkrieg die wesentliche Verantwortung tragen und die dann den Zweiten Weltkrieg vorbereiteten. Selbst für die Waffenstillstandsverhandlungen delegierte die SPD Leute, die Kriegsbefürworter waren. Dabei machte sich die deutsche Verhandlungsdelegation gegenüber den Siegermächten unglaubwürdig; die dann harten Bedingungen des Versailler Vertrags wurde bereits durch das Personal, das den Friedensvertrag auf deutscher Seite mit aushandeln sollte, begünstigt.[22]

Diejenigen, die, wie Steinmeier, die Novemberrevolution derartig umdeuten, fehldeuten und verleugnen, nutzen heute bereits wieder das Gedenken an diese Revolution mit deren radikalen Forderungen nach Entmilitarisierung und Frieden, um Militarisierung zu fördern und auf neue Kriege vorzubereiten. Der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin warben im November 2018 im Zusammenhang mit den Erinnerungsveranstaltungen zum Kriegsende für eine „Europa-Armee“.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung enthielt am 12. November 2018 einen Leitartikel, in dem ein fataler Bogen von den behaupteten Schlafwandlern des Jahres 1914 zur Forderung nach einer Militarisierung der EU 2018 ff gezogen wurde. Dort heißt es:

„Emmanuel Macron hat wiederholt den Bestseller des australischen Historikers Christopher Clark, ´Die Schlafwandler´, zitiert, um vor einem ungewollten Zusammenbruch der multilateralen Nachkriegsordnung zu warnen. […] Als brauche es noch eines Beweises, dass die Pax Americana sich dem Ende zuneigt, blieb der amerikanische Präsident Donald Trump dem Friedensforum in Paris ostentativ fern. […] Für Macron gilt mehr denn je die Äußerung der Bundeskanzlerin in einem Bierzelt in München, dass die Europäer ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen. Deshalb wirbt sie so unermüdlich um Unterstützung aus Deutschland für sein europäisches Projekt. […] Die deutsch-französische Beziehung braucht Symbole. Das Bild des französischen Präsidenten Francois Mitterand und des Bundeskanzlers Helmut Kohl, die sich über den Gräbern von Verdun die Hand reichen, hat […] sich im kollektiven Bewusstsein festgesetzt, weil ihr konkrete Taten […) folgten: die deutsch-französische Brigade, das Eurokorps, der Schengen-Raum und der Euro. […] Das Foto aus der Lichtung von Compiègne [wo es zuvor einen gemeinsamen Auftritt von Macron und Merkel gegeben hatte; W.W.], wird keine ähnliche Symbolkraft entfalten können, wenn der im Koalitionsvertrag vereinbarte ´Aufbruch für Europa´ weiter wie geduldig Papier in der Schublade bleibt.“[23]

Ein solches deutsches Plädoyer für eine neue Militarisierung und Hochrüstung, nunmehr mit einem Verbündeten, der über Atomwaffen verfügt, ist fatal. Die Behauptung, wonach die Menschen bei den beiden Friedensgesten in Verdun bzw. in Compiègne an Aufrüstungsprojekte denken bzw. sich eine neue Hochrüstung herbeiwünschen, ist absurd und infam. Dennoch ist der FAZ-Leitartikel bitterer Ernst, der zur neuen blutigen Wirklichkeit werden könnte. Zumal die jüngere Entwicklung des Kapitalismus mit einer drohenden neuen Finanz- und Wirtschaftskrise und einem bereits stattfindenden neuen Handelskrieg deutliche Parallelen zur Periode vor dem Ersten Weltkrieg aufweist.

Umso wichtiger ist eine Wiederinbesitznahme der Grundidee der Novemberrevolution mit den Forderungen nach Abrüstung, nach Frieden und nach umfassender und direkter Demokratie.

Die Sätze, die Sebastian Haffner vor einem halben Jahrhundert als Bilanz seiner Arbeit und der Novemberrevolution schrieb, haben auch heute Gültigkeit:

„Die Revolution war eine Ruhmestat. Ein Schandfleck ist der Verrat, der an ihr verübt wurde. Gewiss ist Revolution nichts, das man zum Vergnügen macht […] Jede Revolution ist ein schmerzhafter, blutiger […] Vorgang – wie eine Geburt. Aber wie eine Geburt ist jede gelungene Revolution zugleich auch ein schöpferischer, lebensspendender Vorgang. Alle Völker, die eine große Revolution durchgestanden haben, blicken mit Stolz auf sie zurück […] Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen. Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute.“[24]

Entreißen wir die verratene und verleugnete deutsche Revolution von 1918/19 dem Dunkeln! Rücken wir die Ideale von Frieden und Demokratie ins Licht!

Klaus Gietinger und Winfried Wolf veröffentlichten 2017 das Buch „Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am Ersten Weltkrieg erlöst.“ (Schmetterling Stuttgart). Er stützt sich in seinem hier veröffentlichten Text vor allem auf Klaus Gietinger, November 1918. Der verpasste Frühling (Nautilus, Hamburg 2018), Sebastian Haffner, Der Verrat – Deutschland 1918/19 (verschiedene Ausgaben verschiedener Verlage) und Richard Müller, Die Geschichte der Revolution (ursprünglich drei Bände; zuletzt Berlin 2011, Buchmacherei).


[«1] Max Hoelz begann 1919 als Aktivist des Arbeiter- und Soldatenrats in Falkenstein. Als auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt wurde, führte er mit einer kleinen Gruppe bewaffnete Aktionen durch, bei denen Lebensmittel beschlagnahmt, für das Requirierte Höchstpreise bezahlt und die Lebensmittel dann unter der verarmten Bevölkerung verteilt wurden. Hoelz führte diesen Privatkrieg mit erfolgreichen Umverteilungsaktionen von oben nach unten mehr als zwei Jahr lang und entwickelte sich zum Volksheld der Region, wenn nicht im Reich. Am Ende mussten 20.000 Mann Reichswehr eingesetzt werden, um ihn und seine bewaffnete Gruppe zu fassen. U.a. nach: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, a.a.O., S. 491f, und nach der Autobiographie von Max Hoelz (Vom „Weißen Kreuz“ zur „Roten Fahne“, Halle 1984).

[«2] Marc Jones hier zitiert nach Gietinger, November 1918, a.a.O., S.154; Opferzahlen dort S. 162. Zu Jones siehe Anmerkung 2 in Teil 1.

[«3] Spiegel 6/1969.

[«4] Eine Ausnahme bildet Württemberg. Hier war die Revolution zunächst aufgrund eines Missverständnisses bereits am 4. November 1918 ausgerufen worden – was u.a. in einen großen Streik in den Daimler-Werken mündete. Ein Obleute-Vertreter war zu früh von einem Obleute-Treffen in Berlin abgereist und hatte das falsche Datum übermittelt.

[«5] Haffner, a.a.O., S. 165.

[«6] Haffner, a.a.O., S. 165.

[«7] Karl Schweizer, Novemberrevolution 1918 – Räterepublik 1919. Sozialisten und Kommunisten in Lindau und Umgebung, , Lindau 2018.

[«8] Klaus Gietinger, a.a.O., S. 178. Nach der Ermordung Eisners war – so die Darstellung bei Haffner – „die Landbevölkerung in Massen in die Stadt geströmt; und die bayerischen Gebirgler mit ihren Gamsbärten und Lederhosen marschierten todernst und feierlich hinter dem Sarg dieses ermordeten Berliner Juden, von dem sie sich so gut verstanden gefühlt hatten.“ Haffner, a.a.O., S. 170.

[«9] Zitiert bei Haffner, a.a.O., S. 165.

[«10] Haffner, a.a.O., S. 173.

[«11] So erließen die Volksbeauftragten am 12. November 1918 eine Verordnung u.a. mit dem folgenden Wortlaut: „Zur Überführung des deutschen Wirtschaftslebens in den Frieden ist eine oberste Reichsbehörde unter der Bezeichnung […] Demobilisierungsamt […] errichtet worden. Mit der Leitung dieses Amtes ist der […] bisherige Oberstleutnant Koeth, Leiter der Kriegsrohstoffabteilung, beauftragt worden. […] Alle Zivil- und Militärbehörden werden aufgefordert, den Weisungen des Herrn Koeth […] Folge zu leisten.“ Richard Müller kommentierte wie folgt: „Durch diese Verordnung wurde Dr. Koeth zum Diktator der Wirtschaft gemacht, seine Vollmachten waren unbeschränkt. Sie hätten für jeden genügt, der die Sozialisierung sich zum Ziel seiner Arbeit setzte. Aber Dr. Koeth […] war der Vertrauensmann der Schwerindustrie. Es waren die Herren Hugo Stinnes, Generaldirektor Vögler, Geheimrat Ernst von Borsig, Geheimrat Deutsch u.a., die die Errichtung des Demobilisierungsamtes forderten und dafür auch gleich den Herrn Koeth mitbrachten.“ Müller, a.a.O., S. 276.

[«12] Sebastian Haffner, a.a.O., S. 149. S.H. fügt hier hinzu: „Das gilt für Karl Liebknecht noch mehr als für Rosa Luxemburg.

[«13] Auch Peter von Oertzen weist positiv auf diese späteren Räte-Modelle hin, so auf den Arbeiteraufstand in Ungarn 1956 gegen die stalinistische Diktatur und auf die „neben den politischen Vertretungskörperschaften stehenden Produzentenräte der jugoslawischen Verfassung“. A.a.O., S. 11.

[«14] In: Der Arbeiterrat, Nr. 1/1919, S. 8f; hier zitiert nach: Dieter Schneider / Rudolf Kuda, Arbeiterräte in der Novemberrevolution. Ideen, Wirkungen, Dokumente, Frankfurt/M. 1969, S.80. Es gab einen weitgehend gleichlautenden Vorschlag von R. Müller zur Funktion der Arbeiterräte, wiedergegeben ebenda, S.84ff. Die angenommenen „Richtlinien“ entsprachen demnach weitgehend einem Vorschlag von R. Müller. Allerdings haben Müller und Däumig ihre Rätevorstellungen später den Verhältnissen neu angepasst.

[«15] Luxemburg schrieb: „Lenin und Trotzki haben anstelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften [der verfassungsgebenden Versammlung, die nach der Oktoberrevolution von der bolschewistischen Regierung aufgelöst wurde; W.W.] die Sowjets als die einzig wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Land muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. […] Sozialistische Demokratie beginnt […] nicht erst im gelobten Land, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistische Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit […] dem Aufbau des Sozialismus.“ Diese Zeilen wurden zwar im Herbst 1918 geschrieben. Doch Luxemburg ließ sie – sicher auch aus Solidarität gegenüber der Russischen Revolution – nicht veröffentlichen. Sie erschienen posthum. Interessant ist, dass Luxemburg hier auch ein Rätemodell zu präferieren scheint, das ein Kontrollorgan gegenüber einem „klassischen“ Parlament ist. Zitat: Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, hier nach. R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 4, S. 362 und 363.

[«16] Klaus Gietinger, a.a.O., S. 200. K.G. unterstreicht dies mit einer Anmerkung, in der es heißt: „Dem Verfasser wird immer wieder ohne Beleg vorgeworfen, er huldige der Verrats-These, wie Luxemburg, Liebknecht oder Tucholsky.“ (A.a.O., S. 243).

[«17] Richard Müller, a.a.O., Dokumententeil, S. 337; hervorgehoben von W.W. Eine erstaunliche und für diesen Zeitpunkt äußerst kluge Einsicht, die Müller mit dem Satz kommentiert: „Nichts kann den Zustand der deutschen Arbeiterbewegung in der Revolution besser beleuchten als die Tatsache, dass ihre gefährlichsten Feinde Schutz und Hilfe vor der Revolution bei den Gewerkschaftsführern suchten und fanden.“ Ebenda.

[«18] Klaus Gietinger, a.a.O., S. 105.

[«19] Claus Kristen, Ein Leben in Manneszucht. Von Kolonien und Novemberrevolution. Der „Städtebezinger“ Georg Maercker, Stuttgart (Schmetterling) 2018, S. 162.

[«20] Friedrich Wilhelm von Oertzen, Die deutschen Freikorps 1918-1923, München 1936, hier zitiert bei: Claus Kristen, a.a.O., S.162f.

[«21] Gietinger, a.a.O., S. 107f.

[«22] Die maßgeblichen Vertreter Deutschlands bei den Waffenstillstandsverhandlungen waren Wilhelm Solf und Matthias Erzberger. Solf stand ab 1911 an der Spitze des Reichskolonialamtes und war der letzte kaiserliche Außenminister. Er war bis Ende 1918 im Auftrag der Regierung der Volksbeauftragten Mitglied der deutschen Delegation bei den Friedensverhandlungen. Matthias Erzberger war WK-I-Befürworter. Er hatte im Oktober 1916 im Haushaltsausschuss des Reichstags einen Antrag eingebracht, mit dem „jüdische Drückeberger“ im Heer ausfindig gemacht werden sollten. Es gab dann, wie beschrieben, die berüchtigte „Judenzählung“. Erzberger war nach dem Krieg Bevollmächtigter der Reichsregierung und Leiter der deutschen Waffenstillstandsdelegation. Diese personelle Kontinuität in der deutschen Außenpolitik kritisierte in München vor allem Kurt Eisner Ende 1918 und bis zu seinem Tod heftig.

[«23] Michaela Wiegel, Das Bild von Compiègne, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. November 2018.

[«24] Sebastian Haffner, a.a.O., S. 199f.


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