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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Mord im Reisfeld
Datum: 23. November 2018 um 9:50 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Vor neun Jahren, am 23. November 2009, wurden 58 Menschen – darunter 32 Medienleute – in der südphilippinischen Provinz Maguindanao im Rahmen eines Vorwahlkampfs buchstäblich exekutiert. Die Spuren dieses Massakers führten geradewegs zum Präsidentenpalast Malacañang. Bis heute bleibt dieses Verbrechen ungesühnt und das Gros der Täter auf freiem Fuß. Von Rainer Werning[*].
Der 23. November 2009 ging in die Annalen der Philippinen als Schwarzer Montag ein. An jenem Tag wurden 57 Menschen[1] Opfer eines Massakers – unter ihnen 32 Medienleute –, das in dieser Bestialität und kaltschnäuzig exekutierten Art ein Novum darstellte. Die Nation war zutiefst erschüttert. Besorgte Personen aus Medien, Universitäten, Kirchen und NGO wähnten ihr Land bereits auf dem Weg zu einem „failed state“ („gescheiterten Staat“).
Orchestriertes Verbrechen
An jenem 23. November 2009 hatte sich in der südphilippinischen Provinz Maguindanao ein Konvoi von Anhänger/innen des Politikers und Vizebürgermeisters von Buluan, Esmael Mangudadatu, auf den Weg in die Provinzhauptstadt Shariff Aguak gemacht. Dort wollten sie in einem Büro der staatlichen Wahlkommission (Comelec) fristgerecht die erforderlichen Unterlagen für Esmaels Kandidatur als Gouverneur bei den Wahlen im Mai 2010 einreichen. Gerade weil dieser Spross des Mangudadatu-Clans wusste, dass Shariff Aguak samt Umgebung seit knapp einem Jahrzehnt vom rivalisierenden Clan der Ampatuans als exklusive politische, militärische und wirtschaftliche Domäne reklamiert worden war, hatte er entschieden, dort nicht persönlich aufzukreuzen. Stattdessen wollte er gemeinsam mit seiner Frau und anderen weiblichen Verwandten und Bekannten in Begleitung mehrerer Journalist/innen und zwei Menschenrechtsanwältinnen die Reise antreten und die Dokumente den Verantwortlichen übergeben.
Doch auf dem Weg zu ihrem Fahrtziel wurde die Reisegruppe von über 100 Bewaffneten blockiert, aus den Wagen gezerrt, schrecklich zugerichtet und buchstäblich hingerichtet. Esmael Mangudadatu und seine engsten Berater hatten sich von der Überlegung leiten lassen, dass die andere Seite wenigstens Frauen kein Haar krümmen und die Präsenz zahlreicher Vertreter lokaler und regionaler Medien respektieren würde. Eine fatale Fehleinschätzung. Bevor der Konvoi seine Todesfahrt begann, hatte Esmael Mangudadatu bei den verantwortlichen Kommandeuren der Streitkräfte (AFP) und Polizei (PNP) mehrfach um Personenschutz gebeten – vergeblich. Diese Einheiten inklusive paramilitärische Hilfstruppen der Civilian Volunteer Organizations (CVO) fühlten sich wesentlich einer Person loyal verbunden – Datu Andal Ampatuan Sr., in Personalunion Provinzgouverneur, Patriarch und Chef seines Clans, dessen Tentakeln weit über die Region hinausreichten.
Dass dieses Massaker von langer Hand vorbereitet und geplant worden war, ist durch zahlreiche Zeugenaussagen belegt und unbestritten. Die Mörder hatten sogar Vorkehrungen getroffen, um schnellstmöglich die Spuren ihrer Tat zu verwischen. Ein zuvor eigens an den Tatort beförderter Bagger hatte bereits Erdlöcher freigeschaufelt, um darin den gesamten Konvoi – die Wagen samt Insassen – zuzuschütten. Dies gelang den Tätern nur teilweise, weil sie vorzeitig flüchteten, nachdem Überlebende und Zeugen des Massakers per Handy um Nothilfe gebeten hatten.
Staatlich sanktioniertes Kriegsherrentum
Die Ampatuans brüsteten sich stets damit, verwandtschaftliche Wurzeln in Arabien zu haben und verdienten sich durch ihren Spross Datu Mamasapano Ampatuan die ersten politischen Sporen. Dieser nämlich hatte Mitte der 1930er Jahre einen Beraterposten in der US-dominierten Kolonialadministration erhalten. In den 1990er Jahren war Andal Ampatuan Sr. Vizebürgermeister und Bürgermeister seines Ortes und gewann im Jahre 2001 – mit Unterstützung der Mangudadatus – gegen den Herausforderer Zacaria Candao die Gouverneurswahl in Maguindanao. Seitdem benannten die Ampatuans mehrere Orte in der Provinz nach ihren Vorfahren und Kindern. Bürgermeister in Datu Unsay und Hauptbeschuldigter des Massakers ist Datu Andal Ampatuan Jr., während weitere Clanmitglieder insgesamt ein Drittel aller Gemeinden und Städte Maguindanaos als feudale Land- und Warlords regierten und sie ihrer direkten Kontrolle unterworfen hatten.
Ein anderer Spross der Großfamilie, Zaldy Ampatuan, hatte es überdies im Herbst 2005 geschafft, als damals gerade mal 38-Jähriger zum jüngsten Gouverneur der Autonomen Region in Muslim Mindanao (ARMM)[2] aufzusteigen. Datu Michael Mastura, ehemals Kongressabgeordneter des ersten Distrikts in Maguindanao und selbst Mitglied einer alteingesessenen, angesehenen Moro-Familie, brachte das Treiben von Andal Ampatuan Sr. auf den Punkt: „Er ist wie ein Pharaoh – und so nennen die Leute ihn auch. Wer gegen seinen Willen handelt, sollte sich das vorher sehr genau überlegen.” Demgegenüber starteten die Mangudadatus ihre politische Karriere in Maguindanao, als die Nachfolgerin von Marcos, Präsidentin Corazon C. Aquino (1986-92), den Patriarchen der Familie, Datu Pua Mangudadatu, 1986 als Bürgermeister von Buluan, Maguindanao, einsetzte. Zu der Zeit unterhielten die beiden Clans noch freundschaftliche Beziehungen.
Während der Präsidentschaftswahl im Mai 2004 hatte sich Maguindanaos Gouverneur Andal Ampatuan Sr. als verlässlichster Regionalverbündeter von Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo (2001-2010) erwiesen. Mit seiner tatkräftigen Hilfe gewann Frau Arroyo erdrutschartig; massiver Betrug und Fälschungen in großem Stil kennzeichneten diese Wahl. Ampatuan hatte dafür gesorgt, dass der Arroyo-Herausforderer, der überaus populäre Ex-Schauspieler Fernando Poe Jr., weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen landete. In einigen Orten wurde dermaßen krass manipuliert, dass Poe dort nicht einmal eine einzige Stimme für sich verbuchen konnte. Nicht anders verhielt es sich bei den Senatswahlen im Sommer 2007, als das Arroyo nahestehende Senatorenteam sämtliche Stimmen einheimste und die Opposition eine vernichtende Schlappe erlitt. Schließlich waren die Ampatuans der Präsidentin stärkster Stützpfeiler ihrer Partei in Mindanao, der Koalition aus Lakas-Kampi-CMD/Christian Muslim Democrats.
Straffreiheit als Staats„tugend“
„Welche Sorte Tier sind diese Killer? Wir sind schockiert und wütend. Dies ist unbeschreiblich und zutiefst verabscheuenswürdig. Dies ist ein bestialischer Akt der widerwärtigsten Art. So etwas habe ich bislang noch nicht erlebt – brutalste Rücksichtslosigkeit im Namen von Macht. Es ist dies ein Affront gegen jedwede Form von Menschlichkeit.” Diese erste Reaktion auf das Massaker aus dem Munde der damaligen Vorsitzenden der staatlichen Menschenrechtskommission (CHR)[3], Leila de Lima, sprach den meisten Filipinos aus dem Herzen.
De Lima war es auch, die die zuvor von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch sowie die vom UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Hinrichtungen und willkürliche Exekutionen, Professor Philip Alston, geäußerte Kritik an der Amtsführung der Arroyo-Regierung aufgegriffen hatte und ein Ende praktizierter Politik der Straffreiheit forderte.
Seit dem Amtsantritt von Frau Arroyo Ende Januar 2001 bis zum Massaker in Maguindanao waren über 1.300 Menschen Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen geworden und über 200 Personen waren „spurlos verschwunden“. Allesamt Opfer des staatlichen Aufruhrbekämpfungsprogramms „Oplan Bantay Laya“ („Operationsplan Freiheitswacht“), das darauf abzielte, Regimegegner – in erster Linie linke Aktivisten, vermeintliche Kommunisten oder „Terroristen“ – ins Visier zu nehmen und „auszuschalten“. Während der neunjährigen Amtszeit Arroyos ist keiner der Täter, die in Kreisen staatlicher Sicherheitskräfte vermutet wurden, zur Rechenschaft gezogen, geschweige denn gerichtlich belangt oder abgeurteilt worden.
Die ersten Reaktionen seitens der Regierung auf das Massaker waren – gelinde formuliert – befremdend. Zwar wurde es als „barbarisch“ verurteilt. Doch der AFP-Sprecher, Oberstleutnant Romeo Brawner, und Arroyos Pressesprecher Cerge Remonde sprachen lediglich von einem „Vorfall”. Lorelei Fajardo, die stellvertretende Pressesprecherin der Präsidentin, zitierte ihre Vorgesetzte mit den Worten: „Das ist ein Vorfall zwischen zwei Familien in Mindanao. Wir sind davon nicht betroffen“.
Wenig später war man im Präsidentenpalast Malacañang um Schadensbegrenzung bemüht und dekretierte den 26. November 2009 im Gedenken an die Opfer des Massakers kurzfristig zum nationalen Trauertag. Jesus Dureza, damals Regierungsberater für den Friedensprozess in Mindanao, flog eigens nach Maguindanao, um den Ampatuan-Clan zur Kooperation bei der Aufklärung des Massakers zu bewegen. Zeugen dieses Treffens berichteten, die Atmosphäre hätte eher der einer familiären Teeparty geglichen. Dureza begleitete sodann Andal Ampatuan Jr., den Hauptverdächtigen des Massakers, nach Manila, wo dieser der Nationalen Untersuchungsbehörde (NBI) überstellt wurde.
Auf Anraten von Dureza und anderen Arroyo-Vertrauten verhängte die Präsidentin sodann zeitweilig das Kriegsrecht über die beiden Provinzen Maguindanao und Sultan Kudarat sowie über Cotabato City, dem Sitz der ARMM-Regierung, und beauftragte ihren Innenminister Ronaldo Puno, einstweilen deren Amtsgeschäfte zu übernehmen. Der PNP-Chef, Generaldirektor Jesus Verzosa, „beurlaubte” mehrere hochrangige regionale Polizeibeamte, die bei dem Massaker zugegen waren. Frau Arroyos ehemaliger Verteidigungsminister, Gilberto Teodoro, gerade frisch gekürter Spitzenkandidat der herrschenden Lakas-Kampi-CMD bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2010, holte daraufhin unverzüglich die Mangudadatus in sein Boot, während zuvor drei Mitglieder des Ampatuan-Clans aus der Partei ausgeschlossen wurden.
Gangstertum auf Gegenseitigkeit
Diese Maßnahmen schürten den Unmut in der Bevölkerung, immer lauter erschallte der Ruf nach Arroyos Rücktritt. Die damals in Umfragen unbeliebteste Politikerin nach Marcos war in zahlreiche Korruptionsaffären verwickelt. Mit Hilfe ihrer Seilschaften überstand sie mehrere Amtsenthebungsverfahren und verdankte ihren Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2004 einzig der Manipulation seitens der staatlichen Wahlkommission (Comelec). Deren Chef, Virgilio Garcillano, hatte dafür gesorgt, dass Frau Arroyo die Wahl auch mit dem von ihr gewünschten Stimmenvorsprung gewann. Pikanterweise war das inkriminierende Telefongespräch, in dem die Präsidenten ihren Freund „Hello Garci“ um eben diese Schützenhilfe gebeten hatte, von Sicherheitskräften aufgezeichnet worden.
Im Sog des von ihr stets bewunderten US-Präsidenten George W. Bush (2001-09) hatte Frau Arroyo während ihrer Amtszeit alles daran gesetzt, Dissens zu kriminalisieren und Kritiker in die Nähe von „Terroristen“ zu rücken. So hatte die Präsidentin beispielsweise im Juli 2006 die Exekutivorder 546 unterzeichnet, die es lokalen Beamten und Politikern gestattete, privates bewaffnetes Personal im Kampf gegen den „Terrorismus“ als „Verstärkungselement“ der staatlichen Sicherheitskräfte einzusetzen. Eigentlicher Anlass dazu bildete, wie Jaileen F. Jimeno in einer Anfang September 2008 veröffentlichten Studie des Philippinischen Zentrums für investigativen Journalismus (PCIJ) recherchiert hatte, ausgerechnet ein Wochen zuvor missglückter Anschlag auf Andal Ampatuan Sr. in Shariff Aguak.
Einen Anschlag auf ihren treuesten Gefolgsmann und politischen Stallgefährten in Mindanao wollte die Präsidentin partout nicht ungesühnt lassen. Immerhin verkörperten die Ampatuans langjährig ihre verlässlichste Klientel im Süden des Archipels. Die Existenz des einen Lagers war ohne die des anderen nicht denkbar – ein politisches Gangstertum auf Gegenseitigkeit.
Postskript
Bis heute ist keiner der Angeklagten verurteilt worden. Der Hauptverdächtige des Ampatuan-Clans ist zwischenzeitlich verstorben. Andere wurden auf Kaution freigelassen. Die Inhaftierten genießen privilegierte Haftbedingungen und werden vom Gefängnispersonal mit Glacéhandschuhen behandelt. Etwa 80 Tatverdächtige sind noch immer nicht gefasst worden. Ein halbes Dutzend Personen, die gegen die Ampatuans vor Gericht aussagen wollten, wurden ermordet. Rechts- und Staatsanwälte, die gegen den Clan ermittelten, wurden eingeschüchtert oder massiv bedroht.
Als sei nichts geschehen, hat sich indes einer der früheren Anwälte der Ampatuans, Salvador Panelo, nach ganz oben vorarbeiten können. Panelo ist heute in Personalunion Rechtsberater des seit Sommer 2016 amtierenden Präsidenten Rodrigo Duterte und dessen Pressesprecher. Ex-Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo ist seit Juli 2018 Sprecherin des Repräsentantenhauses und somit die Nummer Vier in der politischen Hierarchie des Landes – nach dem Präsidenten, der Vizepräsidentin und dem Senatspräsidenten.
Die Chancen sind denkbar schlecht, dass ausgerechnet unter Dutertes Präsidentschaft eine umfassende Aufklärung – geschweige denn eine rechtskräftige Verurteilung von Straftätern – erfolgt. Nationale wie internationale Menschenrechtsanwälte hat Duterte mehrfach öffentlich rüde beschimpft und ihnen mit wiederholtem „fuck you“ signalisiert, was er letztlich von ihnen hält.
Weiterführende Lektüre
[«*] Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler & Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, befasst sich u.a. seit 1970 intensiv mit den Philippinen. Zur Jahreswende erscheint das von ihm ko-herausgegebene Handbuch Philippinen in mittlerweile 6., aktualisierter und erweiterter Auflage (regiospectra Verlag, Berlin).
[«1] Die sterblichen Überreste eines 58. Todesopfers konnten nicht gefunden werden.
[«2] Die ARMM mit Hauptsitz in Cotabato City entstand im August 1989 und umfasst heute die Provinzen Lanao del Sur, Maguindanao, Basilan (ohne die Hauptstadt Isabela City), Sulu und Tawi-Tawi.
[«3] Die CHR hat beratende, keine exekutive Funktion; sie kann lediglich Untersuchungen einleiten und durchführen sowie Empfehlungen aussprechen. Frau de Lima wurde im Sommer 2010 als Justizministerin in das Kabinett von Präsident Benigno S. Aquino III berufen. Als Kritikerin des seit Sommer 2016 amtierenden Präsidenten Rodrigo Duterte wurde sie, die im selben Jahr einen Senatssitz errang, beschuldigt, mit Drogengeldern ihren Wahlkampf finanziert zu haben. Seit Anfang 2017 sitzt de Lima im Gefängnis und wartet auf die Eröffnung des gegen sie vorbereiteten Hauptverfahrens.
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