Am Donnerstag und Freitag dieser Woche findet eine Konferenz der Europäischen BildungsministerInnen in Budapest und Wien statt. Thema ist der Bologna-Prozess. Dieser hatte im vergangenen Jahr zahlreiche Studierende, SchülerInnen und Beschäftigte auf die Straße getrieben. In der Folge sind Studien erschienen, die zu dem Ergebnis kommen, dass alles nicht so schlimm sei. Ein Leser der NachDenkSeiten hat sich die Methodik zweier Studien genauer angesehen und kommt zu interessanten Ergebnissen. Albrecht Müller.
Der Bildungsstreik im Jahr 2009 hat die Befürworterinnen und Befürworter der derzeitigen Umsetzung der Bolognareform an den Hochschulen kalt erwischt. Allzu offensichtlich haben Studierende und SchülerInnen Probleme artikuliert, die aller schönen Propaganda entgegenstehen: Es ist eben nicht alles besser, sondern im Gegenteil vieles schlechter geworden als vorher. Dabei hätte die Reform einiges Potential gehabt – dazu hätte man sich jedoch auf die bedingungslose soziale Öffnung der Hochschulen und auf die Debatte über einen Bildungs- und einen Praxisbegriff einlassen müssen. Beides ist nicht geschehen, und bei allen kleineren Nachbesserungen, die in der Folge des Bildungsstreiks stattfinden, wird dies auch nicht geschehen.
Um aus der Defensive herauszukommen bedarf es daher einer positiven Wendung der öffentlichen Debatte. Kaum verwunderlich also, dass in jüngster Zeit Studien veröffentlicht wurden, in denen mehr oder weniger deutlich Entwarnung gefunkt wurde. Betrachtet man die Studien näher, dann ergeben sich jedoch erhebliche methodische Zweifel – anhand von zwei Studien sei das im Folgenden exemplarisch aufgezeigt.
INCHER-Studie
In einer Pressemitteilung zur Vorstellung der ersten Ergebnisse einer Absolventenstudie des Internationalen Zentrums für Hochschulforschung der Universität Kassel (INCHER-Kassel) vom Oktober 2009 heißt es: „‘Bachelor geht doch!‘ lautet die Antwort des Kasseler Projektteams auf kritische Stimmen, die die Akzeptanz des Bachelorabschlusses auf dem Arbeitsmarkt in Frage stellen und dessen Nützlichkeit sowohl für Studierende als auch für das Beschäftigungssystem bezweifeln.“ Damit sollte Entwarnung gemeldet werden – die protestierenden Studierenden und alle anderen KritikerInnen des neuen Systems übertreiben wohl maßlos. Doch auf welche Grundlagen stützt sich das INCHER? So ganz genau weiß man das noch nicht, denn die eigentliche Studie ist der Öffentlichkeit bis heute nicht zugänglich. Das ist ein ungewöhnliches Vorgehen, da Überprüfbarkeit bekanntlich zu den wichtigsten wissenschaftlichen Grundstandards gehört. Allerdings ist inzwischen eine Teilstudie [PDF – 522 KB] veröffentlich worden, und diese lässt tief blicken.
- Zunächst: Die Arbeitsmarktintegration der FH-Bachelor und FH-Master ist (mit dem FH-Diplom verglichen) verläuft besser als bei den entsprechenden Studiengängen an den Universitäten. Nur: Es sind im Sample lediglich 485 FH-Bachelor und 203 FH-Master enthalten. Teilt man diese noch auf verschiedene Fachrichtungen und Hochschulen auf, dann bleibt vermutlich keine den methodischen Standards genügende Fallzahl übrig. Auf dieser Grundlage Aussagen über Einkommensniveaus zu machen, ist also zumindest problematisch.
- Am fragwürdigsten ist jedoch die Auswertung der Antworten der Befragten. Gefragt wurde auf einer Skala von 1 („in sehr hohem Maße“ / „sehr zufrieden“ / „sehr gut“) bis 5 („gar nicht“ / „sehr unzufrieden“ / „sehr schlecht“). Man kann demnach unterstellen, dass eine „3“ ein „teils-teils“ ist, also weder besonders gut, noch besonders schlecht. Das INCHER sieht das offensichtlich fallweise anders. Gefragt danach, ob die erworbenen Qualifikationen bei der derzeitigen Tätigkeit zum Einsatz kommen, wertet das INCHER die Antworten 1 bis 3 als „Ja“! Wie hoch der Anteil der Zustimmung zu den Kategorien 1 und 2 ist, wird dem Leser und der Leserin leider verschwiegen. Bei der Berufszufriedenheit wird das Vorgehen allerdings umgedreht: hier wird nur 1 und 2 als hohe Zufriedenheit gewertet. Dass das INCHER offensichtlich irgendwann selbst nicht mehr wusste, welche Interpretation denn nun die richtige sei, zeigt die Frage nach der Angemessenheit der beruflichen Situation: Im Text wird erläutert, dass die Antworten 1 bis 3 als „Ja“ gewertet werden, unter der Tabelle heißt es dagegen, dass 1 und 2 als „Ja“ gewertet werden. Es mag vielleicht kleinkariert erscheinen, es wäre jedoch interessant zu erfahren, wie häufig denn jeweils „3“ angekreuzt wurde und ob die Zufriedenheit beim neuen Studiensystem geringer ausfällt, wenn man die Antwort 3 eben als „teils-teils“ werten würde.
- Bei der Frage nach der Dauer der Beschäftigungssuche werden nur die „Erfolgreichen“ nach 1,5 Jahren betrachtet, also diejenigen, die 1,5 Jahre nach dem Abschluss in einem regulären Beschäftigungsverhältnis stehen. Es wird aber nicht angegeben, wie viele Personen noch immer nach einem Arbeitsplatz suchen. Und es ist unklar, welche Arbeitsplätze (z.B. Branche, Aufgabenspektrum, Platz in der betrieblichen Hierarchie) die Personen innehaben. Es wird auch nicht mit Methoden für zensierte Daten gearbeitet, also mit Methoden, die eine Schätzung der Dauer der Beschäftigungssuche unter Einbeziehung der noch nicht erfolgten Berufseintritte ermöglicht.
- Die einseitige Ergebnisinterpretation wird besonders im Fazit deutlich: „Die Ergebnisse der KOAB-Absolventenbefragung 2009 können die Befürchtungen über eine fragliche Akzeptanz der universitären Bachelor-Absolventen im Allgemeinen nicht stützen.“ Zu diesem Ergebnis für AbsolventInnen des universitären Bachelors kommen die AutorInnen wie folgt: Ein Unterschied von z.T. mehr als 10 Prozentpunkten wird als unproblematisch angesehen. Im Fazit liest man hierzu Formulierungen wie „ein wenig ungünstiger“, gaben „etwas seltener“ an und es gab „etwas schlechtere“ Einschätzungen. Mit derartigen Beschreibungen versehen werden etwa die Antworten auf die Frage, ob die im Studium erworbenen Qualifikationen tatsächlich im Beruf verwendet werden können (73 zu 84 Prozent), die Frage, ob der Bildungsabschluss dem geforderten Qualifikationsniveau entspricht (74 zu 81 Prozent im Durchschnitt) und die Frage, ob die berufliche Gesamtsituation der Ausbildung angemessen ist (76 gegenüber 86 Prozent im Durchschnitt). Weiter heißt es: „Das Einkommen der universitären Bachelor-Absolventen liegt im Durchschnitt etwa 20 Prozent unter dem von Master-Absolventen und von traditionellen Absolventen. Dies kann angesichts der Unterschiede in der Studiendauer und der beabsichtigten Stufung als normal betrachtet werden.“ Dass der Mittelwert, der gewählt wurde, ein ziemlich fragwürdiger Maßstab ist („Bill Gates und sein Chauffeur sind im Durchschnitt Millionäre“), sollte auch dem INCHER bekannt sein. Interessanter wären Dezile oder wenigsten Quartile gewesen.
- Grundsätzlich kritisch angemerkt sei, dass die Daten nicht nach Geschlecht getrennt ausgewiesen werden. Das ist vor dem Hintergrund der Debatte um einen Geschlechterbias bei der Umsetzung der Reform kaum zu erklären. Zumal eine Auswertung nach Geschlecht heute gängige Praxis ist, um mögliche strukturelle Auswirkungen identifizieren zu können.
Die INCHER-Studie hätte genutzt werden können, Probleme der neuen Studienstruktur aufzuzeigen. Stattdessen werden die Ergebnisstufen ziemlich willkürlich zusammengefasst und z.T. erhebliche Abweichungen als „etwas seltener“ klassifiziert. Wenn man die Daten so interpretiert, dann kann man eben auch schreiben: „Bachelor – geht doch“. Interessanter wäre aber zu erfahren, wem eine Reform nutzt, die offenbar keinerlei Verbesserungen gebracht hat.
Bachelor-Studierende – Erfahrungen in Studium und Lehre
Die zweite Studie, die hier genannt werden soll, stammt u.a. vom Konstanzer Hochschulforscher Tino Bargel [PDF – 4.4 MB]. Die Kritikpunkte sind vergleichsweise geringfügig, aber wenigstens zwei sollen dennoch genannt werden:
- Auch diese Studie weist die Daten nicht nach Geschlecht aus.
- In der Studie heißt es, dass an Universitäten die Bachelorstudierenden weniger Zeitaufwand für ihr Studium hätten als die Diplomstudierenden. Die Arbeitsüberlast war bekanntlich eines der zentralen Themen der Proteste. Der entsprechende Wert der Bachelorstudierenden wird auch nach Fachrichtung ausgewiesen, wobei es – wenig überraschend – starke Schwankungen bei der Arbeitsbelastung gibt. Für die Diplomstudiengänge werden die Fachrichtungen jedoch nicht ausgewiesen, so dass sich folgende Frage aufdrängt: Ist die Zusammensetzung der Studierenden nach Fachrichtung oder der angestrebte Studienabschluss ausschlaggebend für den Unterschied bei der Arbeitsbelastung? Durch die nicht gleichzeitige Umstellung der Studiengänge kann es ohne weiteres sein, dass die zeitaufwendigen Studienfächer noch überproportional häufig dem alten System folgen.
Entgegen dem INCHER wird hier nicht wild interpretiert, aber die Frage, was wirklich gemessen wird, bleibt leider offen.
In der Tat sind viele Wirkungen der neuen Studienarchitektur noch nicht abzuschätzen. Und in der Tat ist es hilfreich, hierzu auch Daten zu bekommen. Wenig hilfreich ist aber die methodische Unklarheit (wie bei der Studie aus Konstanz) bzw. der höchst fragwürdige Umgang mit Daten und die schwer nachzuvollziehende Interpretation wie beim INCHER. Schön wäre es, wenn endlich eine Überprüfbarkeit der Ergebnisse ermöglicht würde.