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Titel: „Schienenverkehrsverhinderungspolitik“

Datum: 2. Oktober 2018 um 9:13 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Stuttgart 21, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen, Verkehrspolitik
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Winfried Wolf sprach am 29. September auf der Demonstration zu Stuttgart21 über die Bahnkrise, über die dazu führende Personalpolitik des Bundes und völlig illusionäre Vorstellungen von der Rolle der Digitalisierung. Das ist eine gute Übersicht über diesen Teil einer fehlgeleiteten Verkehrspolitik – mit Managern bei der Schiene, die mit der Schiene nichts am Hut haben. Albrecht Müller

Die neue BahnKrise
und das alte Monsterprojekt Stuttgart21

Winfried Wolf

Rede auf der Demonstration zu Stuttgart21 am 29. September 2018

Schön, dass wir heute einen angenehmen Ausläufer dieses langen Sommers erleben dürfen. Und es war ein heißer Sommer. Heiß oft sicher auch im Mahnwachenzelt! Von ganzem Herzen sage ich: Toll, dass ihr auch bei dünner Personaldecke in diesem neunten Sommer seit dem ersten Aufbau eines Mahnwachenzelts durchgehalten habt! Heiß war es oft in den Zügen – erneut gab es die berüchtigten Sauna-Züge, weil die Klimaanlagen kollabierten. Und es war auch ein heißer Sommer für das Top-Management der Deutschen Bahn. Deren Missmanagement wurde uns wie unter einem Brennglas verdeutlicht.

Und dann, am 9. September, versandte Bahnchef Richard Lutz auch noch den inzwischen berühmt-berüchtigten „Brandbrief“. Danach befände sich „die Bahn in einer schwierigen Lage“. Die Schulden des Bahnkonzerns stiegen auf das Rekordniveau von 19,7 Milliarden Euro an – 700 Millionen Euro mehr als im Jahr zuvor. Die Kosten in der Verwaltung des Bahnkonzerns hätten sich „seit 2015 um einen deutlichen dreistelligen Millionenbetrag erhöht“. Nun seien, um die „wirtschaftliche Stabilität“ des Konzerns zu erhalten, „einschneidende Maßnahmen“ notwendig.

Der Bahnchef ließ eine Ausgabensperre verhängen. Das gab es noch nie in 24 Jahren Geschichte Deutsche Bahn AG. Eine solche Maßnahme spricht tatsächlich für eine tiefe Krise des Bahnkonzerns.

Das kommt jetzt zwar alles etwas holterdipolter. Noch vor elf Wochen, am 25. Juli, sagte derselbe Bahnchef auf der Halbjahresbilanz-Pressekonferenz: „Einige Erfolge konnten wir bereits verbuchen [….] Die Richtung stimmt.“ Berichtet wurde von neuen „Fahrgastrekorden“. Damals, nochmals: vor gerade mal elf Wochen, zog Lutz die Bilanz, „dass „wir für das gesamte Jahr [2018] ein Ergebnis auf dem Niveau des Vorjahres erwarten.“

Doch jetzt ist alles anders. Brandbrief. Aufgabensperre. Und diese Top-Manager-Geste: „Wir haben verstanden!“. Und: „Wir werden liefern.“

Wir fragen da zurück: Haben die denn wirklich verstanden? Werden die wirklich liefern – und wenn ja, WAS werden die denn „liefern“? Machen wir doch die Probe aufs Exempel. Nehmen wir drei Beispiele dessen, was geliefert wird, unter die Lupe. Die Beispiele „neue Technik/Digitalisierung“; „neue Personalpolitik“ und „neues Sparen“.

Beispiel 1: Neue Technik

Lutz & Co tingeln derzeit durch die Lande und propagieren den Einsatz „modernster Technik“ und die „digitale Schiene“. Störungen im Bahnbetrieb mit einem „vor uns fahrenden Zug“? Kein Problem; O-Ton Lutz: „Mit der Digitalisierung gehen wir neue Wege, indem wir die Bahnstrecken durch den Einsatz von Drohnen optisch analysieren und die Bilder automatisiert auswerten.“ Krise im Bordbistro, z.B. „Kein Frischwasser an Bord“? Kein Problem! O-Ton Lutz: „ Roboter werden künftig die Frischwasserversorgung und andere zeitaufwendige Tätigkeiten übernehmen.“ [1]
Vor ein paar Tagen wurde uns mitgeteilt: In Hamburg werden in Bälde 23 Kilometer S-Bahnstrecke für 60 Millionen Euro Steuergelder auf „lokführerlosen Betrieb umgestellt“. Eberhard Happe – er war bei der Geißler-Schlichtung als Experte auf unserer Seite aktiv – hat ausgerechnet, dass man für dieses Geld – die Amortisierungskosten berücksichtigend – 50 Lokführer bezahlen könne.

Überhaupt. Das Ganze ist eine reine Schaufensterveranstaltung; ist, wie wir hier sagen, „a Lettegschwätz“.

In diesen Tagen besuchte der Lokführer Thilo Böhmer – er ist hier auf dem Platz mitten unter uns – in Berlin die Bahntechnik-Messe InnoTrans. Er gab sich dabei naiv und fragte im Führerstand der schönen neuen Züge die Hersteller, was sie denn „da gebaut“ hätten. Als die Firmen-Vertreter ihn im ersten Augenblick nicht so recht verstanden, ergänzte Thilo: „Naja, Herr Lutz erklärt doch öffentlich, dass ab 2022 die Züge ohne Lokführer fahren würden.“ Da sei dann „der Groschen gefallen“, und das Gelächter „recht groß“ gewesen.

Denn die Vertreter sämtlicher Fahrzeughersteller – seien es Siemens, Bombardier, Alstom oder Stadler – erklärten, dass an führerlose Züge „noch lange nicht zu denken“ sei. Dass in keiner der „Ausschreibungen davon die Rede“ sei, wonach in Bälde „auf den Führerstand und Lokführer verzichtet “ würde. Wohlgemerkt: Das sind die Ausschreibungen der Deutschen Bahn AG. Mit denen die Bahn-Oberen selbst demonstrieren, was sie vom eigenen Digitalisierungs-Gerede halten. Nämlich rein gar nichts. A Lettegschwätz, halt.

In Wirklichkeit wird mit dem Slogan von der „digitalen Schiene“ von der tatsächlichen Entwicklung bei der Bahn abgelenkt. Auch unter Lutz ist es so, dass das Schienennetz Jahr für Jahr geschwächt wird. Allein im ersten vollen Amtsjahr von Herrn Lutz – im Jahr 2017 – wurden 344 Weichen aus dem Netz herausgenommen. Die Zahl der Bahnhöfe wurde um 242 reduziert. Die Zahl der Haltepunkte wurde um 205 verkleinert. Und die bereits krass geschrumpfte Zahl der Gleisanschlüsse wurde nochmals um 4 abgebaut. [2] All das vor dem Hintergrund, dass es diesen Prozess seit mehr als 20 Jahren gibt. Dass die Zahl der Weichen seit 1995 mehr als halbiert, die Zahl der Gleisanschlüsse – der Industriegleise“, mit denen Unternehmen direkt am Gleisnetz angeschlossen sind – um mehr als 80 Prozent abgebaut wurde.

Diese Bahn hat ein Schienennetz, in dem es selbst auf den Hauptstrecken des Fernverkehrs eingleisige Abschnitte gibt. So zwischen
Rostock und Stralsund

  • zwischen Lünen und Münster
  • zwischen Friedrichshafen und Lindau
  • zwischen Wolfsburg und Braunschweig (Weddeler Schleife)
  • zwischen Leipzig und Geithain (-Chemnitz)
  • zwischen Lübeck und Bad Kleinen
  • zwischen Weimar – Jena – Gera – Gössnitz
  • zwischen (Aalen) – Goldhöfen – Crailsheim
  • zwischen Waldshut – Schaffhausen…

Usw. usf.

Ein konkretes Beispiel hier aus der Region: Es wird beklagt, dass es einen eingleisigen Gäubahn-Streckenabschnitt zwischen Horb und Tuttlingen gibt. Da hat die französische Militärregierung in Deutschland das zweite Gleis abgebaut. Das war allerdings 1946/47, vor gut siebzig Jahren. Und es war im Übrigen eine Antwort darauf, dass zuvor, 1940/41, die NS-Besatzer zwischen Belfort und Besancon das zweite Gleis demontiert hatten. Belfort – Besancon ist allerdings längst wieder zweigleisig. Doch hierzulande schafft man das nicht. Und so bleibt halt die Schiene zwischen Horb und Tuttlingen ein eingleisiger Flaschenhals, ob nun analog oder digitalisiert.

All diese Beispiele zeigen: Man könnte mit Investitionen in Höhe von wenigen hundert Millionen enorme Optimierungseffekte erzielen. Doch all das findet seit Jahrzehnten nicht statt. Und warum ist das so? Eine sachliche Antwort gibt es darauf nicht. Ist es Sabotage? Sicher jedenfalls handelt es sich objektiv um eine Schienenverkehrsverhinderungspolitik.

Beispiel 2: Personalpolitik – ein falscher neuer Finanzchef

Seit einem Vierteljahrhundert wird das Bahnmanagement immer mehr durchsetzt von Spitzenmanagern, die keinerlei Kenntnisse von Eisenbahn haben. Von Leuten, die sich nicht leidenschaftlich für die Schiene engagieren. Es fehlt ihnen schlicht eine corporate identity – eine Identifikation mit der Eisenbahn.

Mehr noch: Mit Heinz Dürr (1990-1997), Hartmut Mehdorn (1999-2009) und Rüdiger Grube (2009-2017) standen Personen an der Bahnspitze, die eng mit der konkurrierenden Autoindustrie und konkret mit dem Daimler-Konzern verbandelt waren.

Inzwischen kommen immer mehr Heuschrecken an Bord: Die McKinsey- und McBarclays-Manager. Und hier gibt es eine ganz heiße neue Personalie: Herr Alexander Doll.

Dieser soll ab Ende 2018 Finanzchef im Bahnkonzern werden. Er soll dann Richard Lutz in dieser Position ablösen. Lutz ist seit 2017 Finanzchef und Bahnchef in einer Person.

Doll war im Zeitraum 2001 bis 2009 in führenden Positionen bei der Schweizer Bank UBS tätig. Er fädelte damals in dieser Funktion den Verkauf des US-Logistikers Bax Global an die Deutsche Bahn AG ein. Sein Partner auf der anderen Seite hieß: Hartmut Mehdorn. Der wiederum verfolgte das Ziel, die Deutsche Bahn zum Global Player zu machen. Und dies war der erste große Einstieg der DB AG im Ausland. Der Deal erwies sich dann als Fehlschlag. Bax wurde zerschlagen; große Teile des Logistikers wurden mit Verlust wieder verkauft.

Bald darauf – in den Jahren 2005 bis 2008 – war Doll beim geplanten Börsengang der Deutschen Bahn engagiert. Erneut in UBS-Diensten. Und erneut war sein Gegenüber Bahnchef Mehdorn. Das scheiterte dann – erfreulicherweise. Wir konnten damals dabei behilflich sein.

Dann wechselte im Frühjahr 2009 Alexander Doll zur Investmentbank Lazard. Für diese Heuschrecke arbeitete er als Top-Banker vom Mai 2009 bis Dezember 2012. 2009 organisierte er den Verkauf des britischen Bus- und Bahnbetreibers Arriva an die Deutsche Bahn. Nun war sein Gegenüber Rüdiger Grube, der zuvor bei Daimler ja Mehdorns Büroleiter war. Grube verfolgte den gleichen Global-Player-Wahn. Arriva ist heute Teil des Bahnkonzerns – noch.

2012 wechselte Doll dann zur Barclay-Bank. Erneut eine skandalumwitterte Finanzgesellschaft. Dort agierte er zuletzt sogar als Chef der Bankgeschäfte in Deutschland, Schweiz und Österreich.

Und dann, im November 2017, wechselte Doll zur Deutschen Bahn. Er ist dort bis heute Chef der Logistik (Schenker) und Chef der Güterbahn (Cargo). Das „Handelsblatt“ schrieb am 8. November 2017 unverblümt: „Der Wechsel des Barclays-Deutschland-CEOs zur Deutschen Bahn mutet seltsam an.“

All das mag belegen: Doll ist ein erfahrener Banker. Doch mit Eisenbahn hatte der Mann nie etwas zu tun. Und nie etwas am Hut. Jetzt soll er auch noch Finanzchef des Bahn-Konzerns werden. Und hier soll er – als Antwort auf die Krise – einen Verkauf von Arriva bewerkstelligen.

Das ist ein fatales Interessensgeflecht: Der seit Ende 2017 amtierende neue Logistik-Vorstand und der für Ende 2018 als Bahnfinanzchef vorgesehene Mann ist demnach der alte Investmentbank-Partner von Ex-Bahnchef Mehdorn beim Milliarden-Deal in den USA und der alte Investmentbank-Partner von Ex-Bahnchef Rüdiger Grube beim Milliarden-Arriva-Deal.

Und dieser Herr Doll soll in Bälde als Finanzvorstand nun einen Arriva-VERKAUF (oder sogar einen neuen Anlauf zur Teilprivatisierung des Bahnkonzerns) vorbereiten. Raus aus den Kartoffeln, rein in die Kartoffeln. [3]

Wobei dieses Raus-Rein natürlich hoch lukrativ ist. Das sind Geschäfte, bei denen die beteiligten Banken hunderte Millionen Euro Gewinne machen. Und wer wird da auf der anderen Seite beteiligt sein? UBS? Lazard? Barclay? [4]

Es gibt derzeit viel Getöse um die Krise der Güterbahn – um DG Cargo. Doch kein Wort hören wir darüber, dass der Logistik- und Cargo-Chef seit einem Jahr eben dieser Alexander Doll ist. Er ist damit verantwortlich für die roten Zahlen bei DB-Cargo.

Doch wie wird darauf reagiert? Der Mann wird befördert – und soll DB-Finanzchef werden. Dabei ist er von derselben Großmannsucht besessen wie zuvor Mehdorn und Grube. Vor wenigen Wochen war Doll mit der Kanzlerin in Georgien. Um danach zu tönen: „Die zukünftige strategische Partnerschaft [der Deutschen Bahn AG] mit der Georgian Railways […] wird uns helfen, unsere Geschäfte weiter auszubauen…“

Das ist diese typische Kombination, die wir seit bald zwanzig Jahren von den Global-Player-Managern erleben: Im Ausland hui, im Inland pfui.

Beispiel 3: Sparen beim Kontakt mit den Kunden.

Und dann gibt es immer aufs Neue diesen fatalen Kontrast: Geld ist in fast unbegrenzter Höhe da für digitale Spielerei oder für die Global-Player-Großmannsucht.

Doch systematisch „gespart“ und falsch gekürzt wird am falschen Ort. Zum Beispiel beim direkten Kontakt mit der Kundschaft. Mehr als 4000 Bahnhöfe sind heute ohne Personal. Die sündhaft teuren Automaten, die da stehen, verstehen viele nicht. Oft sind sie defekt. Ab und an werden sie gesprengt. Ein Automat kostet so viel wie eine Vollzeitstelle.

Mehr als 2000 Bahnhöfe sind versifft, verpisst, verbrettert – eine Schande für den jeweiligen Ort. Es gibt tausende Kundenschalter, die nicht besetzt sind. Doch in den Reisezentren wird teure und nervtötende Elektronik zur „Steuerung“ der Warteschlangen eingesetzt.

Und wie sieht das mit den immer wieder aufs Neue vermeldeten „Fahrgastrekorden“ aus? In welchem Verhältnis stehen die zur Zahl der Beschäftigten?

Beispiel Nahverkehr. Hier gab es im Zeitraum 2013 bis 2017 einen Anstieg der Fahrgastzahl um 2,5 Prozent auf 1,93 Milliarden Fahrgäste. Gleichzeitig gab es im entsprechenden Bereich von DB Regio einen Abbau von 1227 Beschäftigten oder um 3,2 Prozent.

Beispiel Fernverkehr. Hier stieg die Zahl der Reisenden in derselben Vierjahresperiode 2013 bis 2017 um 8,6 Prozent (auf 142,2 Millionen). Doch die Zahl der Beschäftigten sank um 571 Vollzeitstellen oder um 3,3 Prozent. [5]

Und wie begründet die Deutsche Bahn diesen Abzug von Personal im Verhältnis zu der wachsenden Fahrgästezahl? Muss weniger kontrolliert werden? Das Gegenteil ist der Fall! Das Einlesen der wachsenden Zahl elektronischer Tickets ist deutlich zeitaufwendiger als das Knipsen der herkömmlichen Papier-Fahrkarte.

Muss weniger erklärt werden? Das Gegenteil ist der Fall. Bei der deutlichen Zunahme von Verspätungen kann das Zugpersonal oft die vielen Nachfragen nach Anschlüssen und neuen Verbindungen nicht beantworten.

Entsprechend reagierten die Bahngewerkschaften EVG und GDL und viele Bahnbeschäftigte wütend, als sie den „Brandbrief“ des Bahnchefs zur Kenntnis nahmen. Sie wurden nicht danach gefragt, was die Ursachen für die Krise sind. Ihre Vorschläge, wie es anders und besser für Fahrgäste und Beschäftigte laufen könnte, wurden ignoriert. Stattdessen wollen Lutz, Doll & Co. erneut McKinsey mit einer Studie beauftragen. Da weiß man, was dann herauskommt: Noch mehr Chaos im Betrieb und noch mehr Stress und Abbau bei der Belegschaft.

Und wozu wird bei all dem geschwiegen? Und wo wird nicht gespart? Welche Großbaustelle wird in dem Brandbrief großräumig umfahren?

Genau – Stuttgart21 taucht im Brandbrief und in den Debatten zur Bahn-Krise nicht auf.

Es war Claus Weselsky von der GDL, der als Reaktion auf den Brandbrief von Herrn Lutz und dessen Forderung nach massiven Einsparungen sagte: Er wisse, wo gespart werden könne – bei Stuttgart 21.

Und so lauten denn die einleitenden Sätze in dem „Appell zum Ausstieg aus Stuttgart21“, der pünktlich heute zur Untersetzung unserer Demo in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit einer Auflage von 300.000 Exemplaren veröffentlicht ist:

„Die Deutsche Bahn befindet sich in einer tiefen Krise. Beschlossen wurde eine Ausgabensperre. Doch bei dem teuersten Schienenprojekt, bei Stuttgart21, werden Jahr für Jahr hunderte Millionen Euro Steuergelder dafür ausgegeben, dass Kapazität abgebaut und gewaltige Risiken aufgebaut werden.“

So wie in diesem Sommer die Unfähigkeit des Bahn-Managements verdeutlicht wurde, so konkretisiert sich die zerstörerische Essenz der Bahnpolitik in diesem monströsen Projekt.

Ja, der Mann hat recht, wenn er sagt: „Stuttgart 21 ist die größte Fehlinvestition der Eisenbahngeschichte.“

Ja, auch der andere Herr hat auch recht, wenn er sagt: Die für S21 Verantwortlichen müssten sich entschuldigen, denn: „Die Kritiker [von Stuttgart 21; d. Verf.] hatten bisher in fast allen Punkten recht.“

Und ja doch, der Dame an der Spitze der Umweltorganisation ist voll und ganz zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Alle Verträge [bei Stuttgart 21; W.W.] sind aufgrund unfertiger Planungen, unzureichender Risikobetrachtungen und falscher Kostenschätzungen geschlossen worden. […]Getäuscht wurden […] die Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Volksabstimmung. Geschäftsgrundlage der Abstimmung war der von der Bahn zugesagte Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro […] Dieser Spuk muss nun endlich ein Ende haben.“

Das erste Zitat stammt von Winfried Hermann, dem Verkehrsminister des Landes. Das zweite Zitat stammt von Cem Özdemir, dem Vorsitzenden des Verkehrsausschusses des Bundestags. Das dritte Zitat stammt vom BUND und von Frau Dahlbender.

Doch alle drei gehen – bei all ihrer Verbalradikalität – nach dem Prinzip vor: links blinken, rechts abbiegen. Alle drei sagen sie: JETZT ist es für einen Baustopp zu spät. JETZT müssen wir weiterbauen.

Weiterbauen an der „größten Fehlinvestition in der Eisenbahngeschichte“. Weiter spinnen an all den Lügen und all dem Betrug. Weiter machen mit all dem „Spuk“.

Das ist schlicht pervers, skandalös, gespenstisch. Und vor allem ist das machtgeil. Diese Dame und diese Herren sind auf die weitere Alimentierung durch Staatsknete und auf eine weitere Hofierung durch die Herrschenden versessen. Nur deshalb plädieren sie für ein „Weiter so“ bei der Verschleuderung von Milliarden Euro an Steuergeldern. Für ein „Weiter so“ beim Abbau der Schienenkapazität um 30 Prozent. Für ein „Weiter so“ bei der Erhöhung vieler Risiken, die es mit S21 gibt, so das Risiko einer Überflutung der Innenstadt bei Starkregen.

Wisst ihr – ich sag mir da eins: Wenn die Betonmafia auf derlei Beistand, auf solche Speichelleckerei angewiesen ist, dann ist deren Position erheblich erodiert und wankend. Denn der Zusammenhang zwischen Brandbrief und Bahnkrise auf der einen Seite und Baustopp und S21-Ausstieg auf der anderen Seite liegt schon auf der Hand.

Und das sehen weiterhin viele, viele Leute im gesamten Bundesgebiet. Als Tom Adler von SÖS/Die LINKE plus, Albrecht Müller von den Nachdenkseiten und ich den neuen Appell zum Ausstieg aus Stuttgart21 am 31. Juli, also vor neun Wochen, im Namen von damals zwölf A- und B-Promis als Erstunterzeichnende erstmals auf den Nachdenkseiten veröffentlichten und zum Unterzeichnen und zu Spenden aufforderten, um den Appell in der FAZ publizieren zu können, da hat keiner von uns an diesen Erfolg geglaubt, den wir nun haben.

Dass wir in neun Wochen, über den Sommer hinweg

  • mehr als 50.000 Euro Spenden zusammenbekommen könnten
  • dass mehr als 2600 Menschen bundesweit den Appell unterstützen
  • dass wir bereits zur heutigen Samstags-Demo am 29. September den Appell in der FAZ gedruckt vorliegen haben könnten.

Und wie sah das heute in den ICE-Zügen aus; in den Erste-Klasse-Abteilen, in denen doch immer vier Zeitungen – das „Handelsblatt“, „Die Welt“, die „Süddeutsche“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ – gratis ausliegen oder verteilt werden? Ganz einfach und schlicht: Die FAZ fehlte; die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit der wunderbaren, im Vierfarb-Druck wiedergegebenen Anzeige und dem Appell zum Ausstieg aus S21 konnte der Erste-Klasse-Kundschaft an diesem Tag leider nicht zugemutet werden.

Und das Wunderbare dabei ist: NUR gut 14 Prozent der Spenderinnen und Spender sind Stuttgarter. Nur weitere 30 Prozent kommen aus dem „übrigen“ Baden-Württemberg. Nur insgesamt 44,5 Prozent derjenigen, die das finanzierten, sind aus Baden-Württemberg. Oder anders herum und besser gesagt: Mehr als 55 Prozent der Spenden kommen aus anderen Bundesländern – und sind dafür bestimmt, uns in unserem Kampf zu unterstützen. [6]

Es gelang uns also damit auch, die relative Isolation zu durchbrechen, in der sich die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 befindet – befindet aufgrund des medialen Boykotts. UND DAMIT AUCH eine neue Struktur zu schaffen von Menschen und Gruppen außerhalb der Region, um diese wunderbare, kreative und so wichtige Bewegung hier am Ort zu unterstützen.

Diese 2600 Leute werden also von uns noch das eine und andere Mal zu hören kriegen. Und wir werden von einigen von denen noch einiges zu sehen bekommen. Wir fordern ja alle, die den Appell in der FAZ lesen, dazu auf: „Schaut doch mal vorbei!“ Bei der Mahnwache! Bei einer Montagsdemo!

Die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 hat bundesweite Ausstrahlung. Sie ist dafür wichtig, dass sich vergleichbare Gruppen zusammenfinden und vernetzen. So wie wir mit dem arabischen Frühling und mit der Bewegung im Gezi-Park in Istanbul solidarisch waren, so wie wir solidarisch sind mit der demokratischen und der kurdischen Bewegung gegen das Erdogan-Regime , so wie wir solidarisch sind mit denen, die in diesen Tagen gegen den Staatsbesuch des Sultans aus Istanbul demonstrieren – so sind wir solidarisch mit den Tausenden, die im Hambacher Forst sich der klimazerstörerischen Politik widersetzen. Viele aus Stuttgart werden am Samstag, dem 6. Oktober, auch dort vor Ort sein.

Wir hier in Stuttgart demonstrieren seit neun Jahren: Kreativer Widerstand mit langem Atem gegen kapitalistische Zerstörung ist möglich.

Kohle bleibt unten! Bahnhof bleibt oben!
Stuttgart 21 ist und bleibt unterirdisch.
Kopfbahnhof heißt: ein Bahnhof mit Köpfchen.
Und wir bleiben – mit kühlem Kopf und heißer Leidenschaft – oben.


Anmerkungen:

[«1] Die Zitate stammen aus der Rede von R. Lutz auf der erwähnten Halbjahresbilanz der Deutschen Bahn AG, vom 25. Juli 2018.

[«2] Die exakten Zahlen nach Daten und Fakten 2017, eine Publikation der DB AG. 2016 gab es noch 66.935 Weichen; Ende 2017 waren es noch 66.591. 2016 gab es noch 3207 Bahnhöfe im Besitz der DB (Station und Service), Ende 2017 waren es noch 2962. 2016 gab es noch 2922 Haltepunkte; Ende 2017 waren es noch 2717. 2016 gab es noch 2371 Gleisanschlüsse (Industriegleise); Ende 2017 waren es noch 2367. (Dort Seite 27). Das war im Übrigen das Jahr, in dem die Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin – München den Betrieb aufnahm, weshalb die Betriebslänge des Schienennetzes sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten etwas (um 108 km) vergrößerte.

[«3] Auch aus meiner Sicht spricht viel für einen Verkauf von Arriva. So wie alles gegen die Global-Player-Orientierung spricht und alles gegen die Übernahme von Arriva 2009 sprach. Die Umstände des Zickzackkurses sind allerdings verdächtig. Und es ist völlig unklar, was die DB mit den Einnahmen von rund 4-5 Milliarden Euro, die ein Verkauf von Arriva bringen würde, machen würde.

[«4] Hier ist noch ein Detail interessant: Als Doll vor knapp einem Jahr von Lazard zum Bahnkonzern kam, hieß es in der Fachpresse, er müsse dabei „deutliche Einkommenseinbußen“ in Kauf nehmen. Ein Banker, der mit Eisenbahn nie etwas zu tun hatte, der jedoch höchst altruistisch auf ein paar Hunderttausende Euro Einkommen im Jahr verzichtet? Hallo? Warum läuten da keine Alarmglocken?

[«5] Angaben nach: Daten und Fakten, Deutsche Bahn AG, Ausgaben 2015 und 2017.

[«6] Die übrigen Bundesländer sind unter denen, die spendeten, wie folgt verteilt: Bayern = 7,8% // NRW = 7,4% // Hessen = 4,2 % // Berlin = 3,4% // Östl. Bundesländer [o. Berlin] = 3,0% // Niedersachsen = 2,9% // Rheinland-Pfalz = 2,5% // Schleswig-Holstein = 2,9% // Hamburg und Bremen = 1,8 % // Saar = 1,2% // Ohne Orte [Überweisungen von Personen, bei denen sich der Ort resp. das Bundesland nicht ermitteln ließ] 18,2%.

Die Rede wurde ohne „Beispiel 2“ (zur Personalpolitik und zur Person Alexander Doll) vorgetragen.


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