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Titel: Gesundheitsversorgung: „Der Mensch wird zum Werkstück“
Datum: 29. September 2018 um 11:30 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Gesundheitspolitik, Interviews, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Im November ist die Premiere eines Doku-Films, der einiges verspricht: In „Der marktgerechte Patient“ haben die Filmemacher Leslie Franke und Herdolor Lorenz die Gesundheitsversorgung in deutschen Krankenhäusern unter die Lupe genommen. Die Kernerkenntnis ihrer Arbeit bringt ein Arzt, den die beiden interviewt haben, mit den Worten auf den Punkt: „Die Frage ist nicht mehr, was braucht der Patient, sondern was bringt der uns?“ Anders gesagt: Für deutsche Kliniken steht nicht mehr der Erkrankte im Zentrum, sondern das Geld, das sich mit ihm verdienen lässt. Im Interview mit den NachDenkSeiten erklären Franke und Lorenz unter anderem, was „Fallpauschalen“ sind, was sie für Menschen bedeuten, die in ein Krankenhaus kommen und warum in vielen Krankenhäusern längst nicht mehr von Patienten, sondern von „Kunden“ gesprochen wird. Von Marcus Klöckner
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Sie haben gerade einen Dokumentarfilm, der sich mit unseren Krankenhäusern auseinandersetzt, auf die Beine gestellt. Wie lautet das Fazit aus Ihrer Arbeit mit dem Thema?
Leslie Franke: Seit der Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf „Fallpauschalen“ steht für deutsche Kliniken nicht mehr der kranke Mensch, sondern der Erlös aus seiner Behandlung im Vordergrund. Wie es Professor Giovanni Maio in unserem Film treffend ausdrückt: „Das Problem, was wir haben, ist im Grunde, dass das Denken dahin geht, dass man den Patienten nicht als einen Menschen betrachtet, dem es zu helfen gilt, sondern als einen Menschen, mit dem man etwas machen kann. Der Patient, der zum Mittel wird, der Patient, den man benutzt, um Erlöse zu optimieren. Die Frage ist nicht mehr, was braucht der Patient, sondern was bringt der uns?“
So schlimm?
Leslie Franke: Genauso. Es wird auch nur noch von einer Gesundheitswirtschaft gesprochen, aus der sich der Staat zunehmend herauszieht, alles soll der Markt regeln. Der Mensch wird zum Werkstück, das wie in einer Fabrik vorne eingefüllt, fließbandmäßig bearbeitet wird, um dann möglichst schnell wieder hinten ausgespuckt zu werden, um optimale Erlöse zu generieren.
Warum haben Sie den Titel „Der marktgerechte Patient“ gewählt?
Herdolor Lorenz: Insbesondere in den privaten Klinikkonzernen spricht man nur noch ungern vom Patienten (lat. „der leidende Mensch“), sondern vom „Kunden“, einem Begriff, der dem Menschen, der durch eine Krankheit aus der Bahn geworfen wurde, höchst verunsichert und verletzbar ist, kaum entspricht, aber doch exakt bezeichnet, worum es bei der Behandlung geht: um den Erlös. Deshalb lautet der Filmtitel „Der marktgerechte Patient“.
Was sind Fallpauschalen?
Leslie Franke: Seit 2004 hat Deutschland ein einzigartig marktgerechtes Finanzierungssystem für Krankenhäuser. Das DRG-System. Jeder Behandlungsfall wird einer Fallpauschale zugeordnet. Das heißt: Für jede Krankheit und die dazugehörige Diagnose gibt es einen grundsätzlich fixen Preis. Das Krankenhaus, das es schafft, hauptsächlich lukrative Fallpauschalen fließbandmäßig schnell mit geringstem Personalaufwand abzufertigen, erzielt Gewinne. Das Krankenhaus, das alle, auch nicht lukrative Behandlungen ermöglicht und sich optimal um den Patienten bemüht, ihn erst entlässt, wenn es sozial und medizinisch verantwortbar ist, macht garantiert Verluste. Es steht damit vor der Gefahr, geschlossen oder privatisiert zu werden.
Was sind denn die Auswirkungen dieser Fallpauschalen?
Herdolor Lorenz: Maximalversorger wie städtische und Landeskrankenhäuser haben eine Versorgungspflicht und müssten grundsätzlich alles anbieten, das heißt auch immer alles für Geburten, Notfall- oder Intensivbehandlung 24 Stunden bereithalten. Seit der Scharfstellung des DRG-Systems 2004 hat aber zum Beispiel ein Drittel der Geburtenstationen in Deutschland geschlossen, weil sich die kommunalen Krankenhäuser diese nicht lukrativen Abteilungen einfach nicht mehr leisten können. Genauso wie die Notaufnahmestation nur ein Verlustbringer ist, da jeder eingelieferte Patient, egal was mit ihm gemacht werden muss, nur mit einer Pauschale von 30 Euro abgerechnet werden kann. Die Folge davon ist, dass versucht wird, überall einzusparen, indem viele Bereiche wie Reinigung, Küche, Transport, Ergotherapie, etc. aus dem Mutterkonzern in Sub-Sub-Subfirmen ausgegliedert werden. Auch das Pflegepersonal ist in den letzten fünfzehn Jahren um 50.000 Beschäftigte abgebaut worden, obwohl die Patientenzahlen immer weiter angestiegen sind.
Dagegen können sich private Fachkliniken nur auf lukrative Fallpauschalen wie Herz oder Orthopädie spezialisieren. Deshalb sind besonders viele private Investoren eingestiegen wie Asklepios oder Helios. Seither gibt es in Deutschland mehr private Kliniken als in den USA.
Kleinere Krankenhäuser können in diesem Wettbewerb um die lukrativen Fallpauschalen aber nicht mehr bestehen und gehen zugunsten der großen bzw. privaten Krankenhäuser kaputt. Es läuft also alles auf eine Konzentration einiger weniger kommunaler Maximalversorger bzw. ÖPP privatisierter Kliniken und privater Fachkliniken hinaus, die mit dem Bedarf der Bevölkerung zum Beispiel in ländlicheren Regionen nichts mehr zu tun haben.
Es geht also nur ums Geld und nicht um den Menschen?
Leslie Franke: Wir erleben den gnadenlosen Wettbewerb privater Fachkliniken und öffentlicher Krankenhäuser um lukrative Operationen. Aus der Perspektive von Fallbeispielen sehen wir zum Beispiel, wie Rückenschmerzen sofort zur OP führen, weil die Klinik diesen lukrativen Fall dringend braucht. Behandlungen, die ein Abwarten und Beobachten verlangen – wie bei chronisch kranken Menschen und vielfach auch älteren Patienten – werden zunehmend nicht mehr realisiert, weil diese nicht entsprechend vergütet werden. Ganze Fachrichtungen sind dadurch in Gefahr.
Grundsätzlich kann man sagen, dass es nicht mehr um den Bedarf der Menschen geht, sondern nur noch um die Einnahmen, die ein Krankenhaus generieren kann aus seinen Patienten. In der Folge leiden Patienten wie Beschäftigte darunter. Die einen, weil sie immer unadäquater versorgt, die anderen, weil sie durch die Überlastung immer öfter krank werden. Ein Großteil der Pfleger arbeitet keine 100 Prozent mehr, weil sie das physisch und psychisch nicht mehr aushalten können und landet darüber natürlich auch in der Altersarmut.
Wie war denn Ihr Eindruck von den Ärzten? Wie gehen diese mit der Situation um?
Leslie Franke: Nicht nur Patienten leiden unter den Fallpauschalen, wenn sie einerseits unter- und andererseits überversorgt werden. Auch Ärzte sind Opfer dieses Vergütungssystems. Sie mussten es sich abgewöhnen, Diagnosen zu hinterfragen, sich wirklich Zeit für Patienten und Angehörige zu nehmen. Zuhören, Vertrauen aufbauen, Angst nehmen, erklären – für all das ist keine Zeit mehr, denn Zeit ist Geld. Nur der Eingriff entsprechend der Eingangsdiagnose wird bezahlt. Alles andere führt zu Defiziten. Und viele Ärzte verzichten irgendwann sogar auf eigene Einsichten. Gleichzeitig lockt man die derart gegängelten Mediziner immer mehr mit Boni – Zusatzzahlungen, nicht für außergewöhnliche Heilungserfolge. Nein, die gibt es nur für die Steigerung von Zahlen, von Fällen.
Gibt es denn keinen Widerstand?
Leslie Franke: Bundesweit stehen hauptsächlich PflegerInnen vielfach im Streik. Es haben sich Bündnisse für mehr Personal im Krankenhaus gegründet, die einen Volksentscheid für eine gesetzliche Personalbesetzung auf Landesebene durchsetzen wollen. Hamburg und Berlin haben die erste Phase schon erfolgreich geschafft und Bayern und andere Städte und Länder beginnen gerade damit.
Wie sehen Sie die Arbeit von Gesundheitsminister Jens Spahn bisher?
Herdolor Lorenz: Insgesamt eignet sich dieses marktorientierte Fallpauschalensystem überhaupt nicht für den Gesundheitsbereich, denn Daseinsvorsorge ist kein Produkt des Marktes. Und die Rumdoktorei an den DRGs kann keine grundsätzlichen Verbesserungen bringen. Oder wie der Präsident der Berliner Ärztekammer sagt: „Wären die DRGs ein Medikament, so müsste man sie mit sofortiger Wirkung vom Markt nehmen. Alle versprochenen Wirkungen sind ausgeblieben, und alle Nebenwirkungen sind eingetreten“. Deshalb sind die Maßnahmen von Jens Spahn nur eine Symptombehandlung. Nehmen wir die 13.000 zusätzlichen Pfleger. Die sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Alleine in Hamburg fehlen nach Ver.di-Berechnungen 7000. Gleichzeitig heißt es: „Ja, woher sollen wir die vielen Pfleger denn nehmen? Der Markt ist leergefegt !“ Das ist ein fatales Argument. Denn der Markt wäre nicht leer, wenn die Arbeitsbedingungen den Anforderungen entsprächen, genauso wie der Lohn. Denn dann würden sofort die meisten Beschäftigten, die jetzt auf Teilzeit sind, wieder auf Vollzeit gehen.
Und nicht vergessen, Herr Spahn ist schon ein besonderer Gesundheitsminister: Kaum ist der neue US-Botschafter im Land und ruft zur europäischen rechten Sammlungsbewegung auf, da lächelt das Ehepaar Grenelle schon gemeinsam mit dem Ehepaar Spahn in die Kameras. Er bezichtigte die Gegner des unsäglichen Paragraphen 219a, dass ihnen der Tierschutz wichtiger sei als menschliches Leben. Als er früher noch Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages war, hielt er seine Beteiligung an der Pharma-Lobbyfirma Politas trotzdem bis 2010 aufrecht. Gegen die Steuerberatungsfirma Pareton, an der er seit 2017 beteiligt ist, ermittelte die Staatsanwaltschaft, da sie ohne Lizenz tätig war; staatliche Startup-Zuschüsse musste er wieder zurückzahlen. Man kann kaum glauben, dass hier vom Bundesgesundheitsminister die Rede ist.
Was müsste sich denn ändern?
Leslie Franke: Das kann man sicher nicht in einem Wort ausdrücken. Also wie gesagt – die DRGs gehören abgeschafft, nicht reformiert. Aber es muss ein politischer Perspektivwechsel her. Und die ethisch-moralische Perspektive auf Krankheit sollte sich ändern. Gesundheitsversorgung muss wieder Daseinsvorsorge werden, das Heilen eines kranken Menschen wieder im Vordergrund stehen. Sicherlich müsste ein bundesweiter Krankenhausbedarfsplan aufgestellt werden. Privatisierte Krankenhäuser gehören wieder in kommunale Hand. Die gesetzlich festgelegte Länderfinanzierung der Investitionen müsste zu 100 Prozent erfüllt werden. Die Arbeits- und Lohnbedingungen der Beschäftigten im Pflegebereich entsprechend verbessert werden.
Wie sieht es mit den Patienten bzw. den Bürgern aus? Welche Möglichkeiten haben diese?
Herdolor Lorenz: Wir sollten uns alle die Frage stellen, was das für eine Gesellschaft ist, die ihre Schwächsten, die kranken Menschen, so im Stich lässt.
Gesundheitsversorgung geht uns alle an, sie betrifft Jede und Jeden. Aber handlungsfähig ist nur die/derjenige, welche/r die Ursachen und Zusammenhänge versteht. Deshalb möchten wir mit unserem Film „Der marktgerechte Patient“ über die grundsätzliche Problematik aufklären, damit in die Diskussion eingreifen, Argumente bereitstellen für eine menschenwürdige und soziale Gesundheitsversorgung für Beschäftigte und Patienten und gegen eine marktorientierte Gesundheitswirtschaft. Wir denken, es ist im Interesse von uns allen, wenn sich immer mehr Menschen für dieses Thema engagieren in Bürgerinitiativen, Bündnissen und Volksentscheiden.
Anmerkung: Der Film „Der marktgerechte Patient“ (www.der-marktgerechte-patient.org) wird laut Aussagen der beiden Filmemacher ausschließlich von Spenden engagierter Bürger finanziert und Spenden für das Projekt werden nach wie vor angenommen.
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