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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Kapitalismus, Marktwirtschaft und Staat
Datum: 26. Februar 2010 um 11:51 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Neoliberalismus und Monetarismus, Wertedebatte
Verantwortlich: Albrecht Müller
Ein anregender Beitrag von Dr. Hans Bleibinhaus, München. Er ist Diplom-Volkswirt und hat vielerlei Erfahrungen als Mitarbeiter der Stadt München gesammelt. Albrecht Müller
Kapitalismus
Das besondere am kapitalistischen System ist seine eindeutige und rechenbare Zielsetzung: die Maximierung des Gewinns in einer bestimmten Periode. Je nach Geschäftsgrundlage ist diese mal länger, mal kürzer: Geschäfte und Gewinne, die umfangreiche Investitionen, etwa den Bau von Fabriken, zur Voraussetzung haben, werden in der Regel langfristig geplant. Wertpapierspekulationen sind oft Tages-, ja Minutengeschäfte.
Diese eindeutige und in Rechengrößen ausdrückbare Zielsetzung ist ein großer Vorteil gegenüber anderen Wirtschaftssystemen, in deren vergleichsweise komplexen Zielsetzungen ethische und soziale Wertungen, in Sonderheit Vorstellungen von einem „Allgemeinwohl“ enthalten sind.
Entscheidend ist, dass im Kapitalismus neben der Gewinnmaximierung kein anderes, auch nicht als Nebenziel gilt. Das ist kein Widerspruch zu der Tatsache, dass Kapitalisten als Personen alle möglichen guten oder schlechten Eigenschaften aufweisen können: Ihre persönliche Variante von Gewinnmaximierung hat nichts mit dem System an sich zu tun.
Dies zeigt sich vor allem dann, wenn es darum geht, den Rahmen der Gewinnmaximierung in der Auseinandersetzung mit Gewerkschaften, Konkurrenten, Kunden und dem Staat zu erweitern. Da wird auch der frömmste Kapitalist einen niedrigeren Lohnsatz einem höheren vorziehen und weniger Konkurrenz, weniger kritische Kunden und geringe Steuerlasten mehr schätzen als das jeweilige Gegenteil.
Die Tendenz des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist eindeutig: Die dem Maximalgewinn Grenzen setzenden Gegenkräfte werden nicht einfach hingenommen, sondern in aller Regel auf rationale Weise, d.h. mit verhältnismäßigen Mitteln bedrängt, bekämpft und aus dem Weg geräumt. Kommt der Kapitalist mit Glacéhandschuhen zurecht, erübrigen sich gröbere Methoden.
Humanistische und sozialethische Normen sind systemfremde Begriffe:
In Demokratien mit gefestigter Rechtsstaatlichkeit werden Tarife vereinbart, wo nicht, werden Gewerkschafter schon mal erschossen.
Die Konkurrenz wird je nach Lage der Dinge durch Innovationen in Technik, Organisation und Marketing bekämpft oder vermittels gröberer Maßnahmen bis hin zu Korruption und Gewalt drangsaliert, bis sie auf der Strecke bleibt oder aufgesogen werden kann.
Die Kunden werden so lange mit allerlei Vorspiegelungen und Versprechen geködert, bis eine entsprechend starke Marktstellung erreicht ist und dann nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert.
Der Staatsmacht wird durch Lobbyismus, Parteien- und Abgeordnetenfinanzierung, Medienkampagnen und Korruption so lange zugesetzt, bis sie vollkommen von Kapitalinteressen durchdrungen ist und die Gesetzgebung ausschließlich nach deren Interessen erfolgt.
In einer funktionierenden Demokratie, mit einer souveränen, dem Allgemeinwohl dienenden Staatsmacht und annähernd gleichrangigen Gegenkräften auf der Seite der Gewerkschaften, der Konkurrenten und der Konsumenten ist der Kapitalismus darauf angewiesen, seine Produktivkräfte im wesentlichen nur mit Hilfe ständiger Erneuerungen und Verbesserungen zu entwickeln und kann unter diesen Umständen wie kein anderes Wirtschaftsystem ungeahntes, auch nachhaltiges Wachstum und breit gestreuten Wohlstand hervorbringen.
Ein deregulierter Kapitalismus hingegen entwickelt eine ebenso ungeahnte Zerstörungskraft und führt über menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse, Lohndumping, Steuerverweigerung und Umweltzerstörung zu einem politischen Regime, das „zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung“ alle Mittel einsetzt, um die Bevölkerung ruhig zu stellen. Beispiele hierfür gibt es nicht nur in der Vergangenheit und nicht nur in so genannten Drittländern mehr als genug: autoritäre Präsidialregime, Einparteienregierungen, Militärdiktaturen und Faschismus. Ihr Ende ist stets die wirtschaftliche Katastrophe – häufig erst nach Krieg oder Bürgerkrieg
Gelingt es dem globalisierten Kapital, seine eigenen Regeln der Ausbeutung von Mensch und Natur weltweit durchzusetzen, ist die Zerstörung der Lebensgrundlagen einer menschlichen Zivilgesellschaft nicht mehr aufzuhalten.
Marktwirtschaft
Eine funktionierende Marktwirtschaft ist ein geradezu geniales System der Steuerung der Produktion, Verwendung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen.
In der Theorie sorgt eine Vielzahl von annähernd gleichstarken Anbietern, dass man prinzipiell nur durch Neuerungen und Verbesserungen des Angebots auf Dauer Gewinn erzielen kann. Auf der Gegenseite gibt es so viele Nachfrager annähernd gleicher Kaufkraft, dass keiner seinen Kunden oder Lieferanten erpressen kann. Der Zustand vollständiger Information aller Marktteilnehmer sorgt dafür, dass niemand irrtümlich handelt oder übervorteilt werden kann.
Das Problem ist leider, dass selbst dann, wenn die Welt nur aus gutwilligen und fairen Partnern bestehen würde, dieser Idealzustand niemals erreicht werden kann. Es handelt sich um ein rein theoretisches Modell, tauglich allerdings für Feststellungen über den Grad der Abweichungen einer real existierenden Marktwirtschaft vom Idealfall und für Hinweise zu ihrer ständigen Verbesserung.
Die Aufrechterhaltung eines optimalen Zustandes der Marktwirtschaft ist Aufgabe des Staates. Gesetze sind notwendig, um den Drang des Kapitals nach marktbeherrschenden Stellungen, nach Lohndumping, nach Verbrauchertäuschung, Steuerhinterziehung und hemmungsloser Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in Grenzen zu halten.
Der erste Theoretiker der Marktwirtschaft, Adam Smith, hat bereits 1776 erkannt und beschrieben, dass es keine größeren Gegner des marktwirtschaftlichen Systems gibt, als die Unternehmer. „Leute aus demselben Gewerbe“, schreibt er, „treffen selten zusammen – und sei es zum Frohsinn und zur Erholung – ohne dass die Unterhaltung mit einem Komplott gegen die Allgemeinheit oder mit einem Plan zur Erhöhung der Preise endet.“
Je mehr sich ein Staat auf moralische Appelle, freiwillige „compliance“-Regeln verlässt und auf Selbstbeschränkung und Selbstregulierung hinausredet, um so mehr wird offenbar, wie abhängig er bereits vom Kapital ist.
Staat
Dem Kapitalismus soziale Schranken zu setzen und eine funktionierende Marktwirtschaft zu sichern, ist Aufgabe des Staates. Nicht etwa ein linker Ökonom, sondern der erzliberale Alexander Rüstow fordert „einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört.“
Ein solcher Staat soll dafür sorgen, dass Gewinnmaximierung im Rahmen rechtsstaatlicher und sozialverträglicher Grenzen möglich ist und die Funktionsfähigkeit der Märkte soweit als irgend möglich gewährleistet oder durch staatliche Organisationen (z.B. des Gesundheitswesens, des Bildungssystems, der Arbeitslosigkeits- und Altersvorsorge usw.) substituiert wird.
Lenin hat darüber gelacht, und wie Karl Marx den bürgerlich-demokratischen Staat als dazu unfähig, weil schieres Werkzeug der Kapitalisten angesehen und den Weg der Revolution gewählt. (Das Ergebnis ist bekannt, wobei allerdings nicht zu übersehen ist, dass auch eine ursprünglich kommunistische, autoritäre Staatsmacht in der Lage ist, für eine phänomenale ökonomische und soziale Entwicklung zu sorgen.)
Wenn jedoch – im Gegensatz und als Widerlegung der pessimistischen Einschätzung von Marx und Lenin – der Staat in einer freiheitlichen und sozialen Demokratie seinen ökonomischen Aufgaben gerecht werden will, muss er unabhängig und bereit sein, rational im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln.
Er muss entscheiden können, wie – grosso modo – das wirtschaftliche Ergebnis zustande kommen und zwischen Investition und Konsumtion aufgeteilt werden soll. Das eine wirkt sofort auf Wachstum und Ressourcenverbrauch und das andere auf dem Umweg über steigende Kaufkraft. Man nennt das makroökonomische Steuerung.
Die fortwährende Kampagne der Unternehmer, Löhne, Steuern und Abgaben ausschließlich als Produktionskosten zu sehen und ihre Einkommen, d.h. Nachfrage generierende Wirkung zu ignorieren, ist kurzsichtig und führt zu wirtschaftlichen Krisen, ausgelöst durch ein Missverhältnis zwischen den vorhandenen Produktionskapazitäten und der wirksamen, mit hinreichend Kaufkraft ausgestatten Nachfrage des Staates und der privaten Haushalte. Über kurze Phasen hinweg kann der Außenhandel über die Schwächen der Binnennachfrage hinweg helfen. Eine Wirtschaftspolitik zur dauerhaften Erringung der „Exportweltmeisterschaft“ durch Kostensenkungen im Bereich der Löhne und Steuern freut zwar nicht nur die Exportindustrie, sondern alle davon profitierenden Unternehmen, führt jedoch durch die wachsende Verarmung privater Haushalte und des Staates auch ohne Spekulations- und Bankencrash zwangsläufig zur Krise des gesamten Systems.
Die Situation in Deutschland ist seit der „Agenda 2010“ der Regierung Schröder und erst recht seit dem Antritt der schwarz-gelben Regierung gekennzeichnet durch eine nahezu grenzenlose Willfährigkeit gegenüber kurzsichtigen Kapitalinteressen und deren Kostensenkungs- und Deregulierungskampagnen. Nationalstaat und Europäische Union schieben sich wechselseitig die Verantwortung für die „Alternativlosigkeit“ einer solchen Wirtschaftspolitik zu: Auf der einen Seite wird behauptet, nationale Regelungen seien wirkungslos, auf der anderen Seite kann man sich leider nur im Grundsatz, nie aber im Detail einigen. Da hier wie dort die Kapitalinteressen dominieren, ist es keine Übertreibung, hierin ein abgekartetes Spiel zu sehen.
Weder die Gewerkschaften noch die politische Linke haben es bisher vermocht, den positiven Wirtschaftseffekt höherer Löhne und angemessener Steuern überzeugend darzustellen. Der dominierende rechte Flügel innerhalb der SPD hat eine solche Diskussion gar nicht erst aufkommen lassen.
Das Heil des kapitalistischen Deutschland wird unverändert darin gesehen, den Exportüberschuss auf Kosten einer zunehmenden Verarmung privater Haushalte und steigender Staatsverschuldung in immer größere Höhen zu treiben.
Den Gipfel des ökonomischen Irrsinns und der sozialen Unmoral stellt derzeit das so genannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz dar, womit Steuergeschenke durch höhere Staatsschulden kompensiert werden.
Ein Ausweg ist vorläufig nicht abzusehen.
Der Kapitalismus dominiert. Die Hörigen der Finanzwirtschaft, der Konzerne und Verbände haben in allen Parlamenten die Mehrheit.
P.S. Die Zitate von Adam Smith und Alexander Rüstow finden sich bei:
Adam Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, Berlin 1976, Band. I, S. 168
Alexander Rüstow in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 187, S. 69
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