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Titel: 1989 ff.: Den Polen hat der Westen geholfen, Russland sollte zerstört werden. Mit den kriegstreibenden Folgen sind wir jetzt konfrontiert.
Datum: 24. Juli 2018 um 12:30 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Das ist der Kern eines BBC-Beitrages von Jeffrey Sachs. Er stammt aus dem Jahr 2014 und ist trotzdem hochaktuell. Der amerikanische Ökonom Sachs war 1989 und in den Folgejahren als Berater für Polen und Russland – namentlich Gorbatschow und Jelzin – tätig. Diesen BBC-Beitrag nachzulesen, lohnt sich auch heute noch, auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist, was Jeffrey Sachs sagt und beraten und getan hat. Das am 16.12.2014 erschienene Interview findet sich hier. Josefa Zimmermann hat es für die NachDenkSeiten übersetzt. Herzlichen Dank dafür. Aus meiner Sicht besonders wichtige Passagen sind gefettet. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Standpunkt: Warum das Weltgeschehen vom Ersten Weltkrieg und den Ereignissen von 1989 überschattet ist
Viele der heutigen globalen Probleme sind die Folgen schlechter und kleinlicher Entscheidungen, die am Ende früherer Konflikte getroffen wurden, schreibt Jeffrey Sachs.
Dies war ein Jahr großer weltpolitischer Jubiläen. Der Beginn des Ersten Weltkriegs jährt sich zum hundertsten Mal, ein Ereignis, das mehr als jedes andere die Weltgeschichte des letzten Jahrhunderts bestimmte. Wir feiern den 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, der das Ende des Sowjetimperiums und des Kalten Krieges eingeleitet hat. Doch dabei nehmen wir etwas wahr, das weit mehr ist als nur eine schmerzliche Erinnerung.
Wie William Faulkner bemerkte, ist die Vergangenheit niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Der erste Weltkrieg und der Fall der Mauer prägen bis heute unsere Realität. Die Kriege in Syrien und im Irak sind das Erbe des Ersten Weltkriegs und die dramatischen Ereignisse in der Ukraine finden im Schatten von 1989 statt.
1914 und 1989 sind Schlüsselmomente, entscheidende Wendepunkte der Geschichte, auf denen die nachfolgenden Ereignisse aufbauen. Wie sich große und kleine Nationen in solchen Schlüsselmomenten verhalten, ist maßgebend für die künftige Entwicklung von Krieg und Frieden.
Ich war direkt und persönlich bei den Ereignissen von 1989 anwesend und habe die Entwicklungen beobachtet – eine positive im Fall Polen und eine negative im Fall Russland. Und ich kann Ihnen sagen, dass ich während meiner Tätigkeit als Wirtschaftsberater in den Jahren 1989-92 immer mit Sorge das Jahr 1914 im Blick hatte. Diese Sorge habe ich auch heute.
Im Jahr 1919, am Ende des Ersten Weltkriegs, lehrte uns der große britische Ökonom John Maynard Keynes unschätzbare und bleibende Lektionen über solche Wendepunkte, über den Einfluss von Entscheidungen der Siegermächte auf die Wirtschaft der Besiegten und den Einfluss von Fehlentscheidungen der Mächtigen auf den Verlauf zukünftiger Kriege.
Mit verblüffenden Einsichten, mit Vorausschau und literarischem Gespür prophezeite Keynes 1919 in seinem Buch „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versailles“, dass der Zynismus und die Kurzsichtigkeit, die dem Versailler Vertrag zugrunde lagen, insbesondere die Verhängung von Reparationszahlungen gegen Deutschland und die nicht vorhandenen Lösungsansätze für die herannahende Finanzkrise der Schuldnerländer, die europäischen Volkswirtschaften zu einer anhaltenden Krise verurteilten und in der kommenden Generation tatsächlich den Aufstieg eines weiteren rachsüchtigen Tyrannen einleiteten.
Keynes’ Aufschrei ist einer jener bemerkenswerten Geniestreiche, die über Generationen wirken. Dieses Buch und seine Lektionen erwiesen sich als wegweisend für meine eigene Karriere als politischer Berater und Analyst.
Als frischgebackener Wirtschaftswissenschaftler fand ich mich vor 30 Jahren plötzlich vor der Aufgabe, dem kleinen, abgehängten Land Bolivien bei der Suche nach einem Ausweg aus einer wirtschaftlichen Katastrophe zu helfen. Keynes’ Schriften halfen mir zu verstehen, dass Boliviens finanzielle Krise in sozialen und politischen Zusammenhängen gesehen werden musste und dass Boliviens Gläubiger, die USA, sich nicht aus der Verantwortung stehlen durften.
Meine Erfahrungen in Bolivien 1985-86 führten im Frühjahr 1989 zu einer zweifachen Einladung nach Polen durch die letzte kommunistische Regierung und durch die Gewerkschaftsbewegung Solidarność, die ihr entschiedener Gegner war. Polen war wie Bolivien finanziell bankrott. Und Europa war 1989 wie 1919 an einem Wendepunkt seiner Geschichte.
Michael Gorbatschow war an der Macht in der Sowjetunion und er wollte Europa in Frieden und Demokratie vereint sehen. Es war der Wunsch dieses großen Mannes, sein eigenes Land in ähnlicher Weise zu einer neuen demokratischen Ordnung zu führen. In diesem bedeutsamen Jahr war Polen das erste Land in diesem Teil der Welt, das sich in Richtung Demokratie bewegte. Innerhalb kurzer Zeit wurde ich der erste ausländische Wirtschaftsberater der neuen polnischen Regierung. Ausgehend von Keynes setzte ich mich wieder für die Art von internationaler Hilfe ein, die ich für notwendig hielt, damit Polen den friedlichen und erfolgreichen Übergang zu einem postkommunistischen demokratischen System schafft.
Ich appellierte insbesondere an das Weiße Haus, an Downing Street Nr. 10, den Elysee-Palast und das deutsche Kanzleramt und forderte unvoreingenommene Hilfe für Polen als wichtigen Schritt zum Aufbau eines neuen vereinten und demokratischen Europa.
Für mich als Wirtschaftsberater waren es berauschende Tage. Manchmal schien es, als sei mein Wunsch dem Weißen Haus Befehl. An einem Morgen im September 1989 wandte ich mich an die US-Regierung wegen einer Milliarde Dollar für die Stabilisierung der polnischen Währung. Am Abend bestätigte das Weiße Haus das Geld. Kein Scherz, eine achtstündige Bearbeitungszeit von der Anfrage bis zum Ergebnis. Um das Weiße Haus von einer drastischen Schuldenstreichung für Polen zu überzeugen, brauchte ich etwas länger, wobei die Verhandlungen auf hoher Ebene etwa ein Jahr dauerten, aber auch dies erwies sich als erfolgreich.
Der Rest ist Geschichte, wie man sagt. Polen führte sehr tiefgehende Reformen durch, die teilweise auf Empfehlungen basierten, die ich mit ausgearbeitet hatte. Die USA und Europa unterstützten diese Maßnahmen mit rechtzeitiger und großzügiger Hilfe. Polens Wirtschaft begann sich zu erneuern und zu wachsen und 15 Jahre später wurde das Land ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union.
Ich wünschte, ich könnte an dieser Stelle mit meiner Geschichte vom Ende des Kalten Krieges aufhören und in glücklichen Erinnerungen schwelgen. Aber leider handelt sie nicht nur von den Erfolgen des Westens, zum Beispiel in Polen, sondern auch von einem großen Scheitern in Russland. Während die USA und Europa gegenüber Polen großzügig und planvoll agierten, war die Handlungsweise gegenüber dem postsowjetischen Russland eher mit den schrecklichen Fehlern von Versailles vergleichbar. Und wir tragen die Konsequenzen bis heute.
In den Jahren 1990 und 1991 bat mich die Regierung Gorbatschow angesichts der sich in Polen abzeichnenden positiven Ergebnisse um Beratung bei den Wirtschaftsreformen. Russland stand damals vor der gleichen finanziellen Katastrophe wie Bolivien Mitte der 1980-er Jahre und Polen 1989.
Im Frühjahr 1991 arbeitete ich mit Kollegen von Harvard und MIT zusammen, um Gorbatschow dabei zu helfen, vom Westen finanzielle Unterstützung zu erhalten als Teil seiner Bemühungen um politische und wirtschaftliche Reformen. Doch unsere Bemühungen waren ohne Erfolg – in Wirklichkeit sind sie vollkommen gescheitert.
Gorbatschow verließ im Sommer 1991 den G7-Gipfel und kehrte mit leeren Händen nach Moskau zurück. Als er ohne Erfolg nach Moskau kam, versuchte man ihn durch eine Verschwörung, den berüchtigten August-Putsch, zu stürzen, wovon er sich politisch nie wieder erholte. Nach dem Aufstieg Boris Jelzins und der anstehenden Auflösung der Sowjetunion bat mich Jelzins Wirtschaftsteam erneut um Hilfe, sowohl bei den technischen Herausforderungen der Stabilisierung als auch bei dem Bemühen, von den USA und Europa die lebenswichtige finanzielle Unterstützung zu bekommen.
Ich kündigte Präsident Jelzin und seinem Team baldige Hilfe an. Die Notfallhilfe für Polen wurde schließlich auch innerhalb von Stunden oder Wochen arrangiert. Sicher würde das Gleiche auch für das neue unabhängige und demokratische Russland geschehen. Aber ich beobachtete mit Erstaunen und wachsendem Entsetzen, dass die benötigte Hilfe ausblieb.
Wo Polen Schuldenerleichterungen gewährt wurden, sah sich Russland stattdessen harten Forderungen durch die USA und Europa ausgesetzt, seine Schulden vollständig zu begleichen. Wo Polen schnelle und großzügige finanzielle Hilfe erhielt, gab es für Russland nur Kontrolleure des IWF, aber kein Geld. Ich bat die USA inständig, mehr zu tun. Ich wies auf die Erfolge in Polen hin, alles ohne Erfolg. Die US-Regierung bewegte sich nicht.
Am Ende machte die schwere Finanzkrise in Russland alle Bemühungen um Reformen und Normalität zunichte. Die Reformregierung von Jegor Gaidar fiel in Ungnade und verlor die Macht. Nach zwei harten Jahren, in denen ich zu helfen versuchte, aber nichts erreichte, gab ich schließlich auf. Ein paar Jahre später trat Wladimir Putin an Jelzins Stelle.
Während dieses Debakels schoben US-Experten die Schuld auf die Reformer statt auf die Untätigkeit der USA und Europas. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, so sagt man. Und die USA fühlten sich als der mächtige Sieger des Kalten Krieges. Sie sahen sich in keiner Weise verantwortlich für die Entwicklung Russlands nach 1991 und so ist es noch heute.
Ich brauchte 20 Jahre, um genau zu verstehen, was 1991 geschehen war. Warum hatten die USA, die sich gegenüber Polen so klug und vorausschauend verhalten hatten, im Falle Russlands so grausam und voller Missachtung gehandelt? Schritt für Schritt und mit einer Erinnerung nach der anderen kam Licht ins Dunkel der Geschichte. Der Westen hatte Polen finanziell und diplomatisch geholfen, weil Polen zur Ostgrenze der expandierenden Nato werden sollte. Polen gehörte zum Westen und verdiente daher Hilfe. Im Gegensatz dazu betrachteten die US-Führer Russland in ähnlicher Weise wie Lloyd George und Clemenceau Deutschland in Versailles – als besiegten Feind, der zerstört werden sollte, anstatt ihm zu helfen.
Ein kürzlich erschienenes Buch des ehemaligen Nato-Kommandeurs General Wesley Clark berichtet von einer Unterhaltung, die er 1991 mit Paul Wolfowitz führte, der damals Militärstratege im Pentagon war. Wolfowitz erzählte Clark, die USA hätten erkannt, dass sie jetzt im Nahen Osten und angeblich auch in anderen Regionen ungestraft agieren könnten, ohne dass russische Einmischung droht.
Kurz gesagt, die USA spielten sich als Sieger und Tyrann auf, der die Früchte des Kalten Krieges notfalls durch Kriege ihrer Wahl einforderte. Die USA sind die Mächtigen und Russland ist nicht in der Lage, ihnen Einhalt zu gebieten.
In einer kürzlich in Moskau gehaltenen Rede beschrieb Putin das Verhalten der USA fast mit den gleichen Worten wie Wolfowitz. “Der Kalte Krieg endete”, sagte Putin, “aber er endete nicht mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit klaren und transparenten Vereinbarungen über die Einhaltung bestehender Regeln oder mit der Schaffung neuer Regeln und Standards. Dadurch entstand der Eindruck, dass die sogenannten „Sieger” des Kalten Krieg beschlossen hatten, Ereignisse mit Gewalt herbeizuführen und die Welt so umzugestalten, wie es ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen entspricht.”
Damit möchte ich Putin nicht von der Verantwortung für die jüngsten illegalen, zynischen und gefährlichen Gewaltakte in der Ukraine freisprechen. Aber ich möchte helfen, sie zu erklären. Das Jahr 1989 wirft lange Schatten. Und der ständige, kürzlich erneut zum Ausdruck gebrachte Wunsch der Nato, die Ukraine in ihre Reihen aufzunehmen und damit bis zur russischen Grenze vorzudringen, muss als zutiefst unklug und provozierend angesehen werden.
1914 – 1989 – 2014, das ist unsere Geschichte. In der Ukraine stehen wir einem Russland gegenüber, das seit 1991 verbittert ist über die Nato-Osterweiterung und die Feindseligkeiten der USA. Im Nahen Osten stehen wir vor den Trümmern des im Ersten Weltkrieg zerstörten Osmanischen Reiches, das durch die zynische europäische Kolonialherrschaft und den US-Imperialismus ersetzt wurde.
Das Wichtigste ist, dass wir Entscheidungen für unsere Zeit treffen müssen. Werden wir unsere Macht in zynischer Weise für den Ausbau der Herrschaft einsetzen, weil wir glauben, dass wir durch die Reichweite der Nato mit Territorium, Ölreserven und anderer Beute belohnt werden? Oder werden wir verantwortungsvoll handeln, weil wir wissen, dass Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft die Grundlage sind für Vertrauen, Wohlstand und Frieden? Jede Generation muss diese Wahl neu treffen.
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