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Titel: Besuch in Wolgograd

Datum: 24. Juli 2018 um 8:35 Uhr
Rubrik: Friedenspolitik, Länderberichte
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Das war sie also, die, glaubt man den Expertenmeinungen außerhalb des deutschen Mainstreams, beste WM aller Zeiten. Es war eine wunderbare Zeit, für mich ein wundervoller, erfüllender Monat in Russland. Nun ist die WM vorbei, meine Faszination für Russland jedoch nicht. Als ich vor Kurzem in Wolgograd war, war der Großteil der Besucher aus Wolgograd bereits wieder abgereist, denn das letzte Spiel im neu gebauten Stadion war bereits gespielt. Der spannende, internationale Teil der WM mit zahlreichen ausländischen Gästen in der Stadt war für Wolgograd schon zu Ende. Die Stände und Zelte vor dem Stadion wurden wieder abgebaut. Doch auch ohne große Zahl an ausländischen Gästen verblieb die Stadt im WM-Fieber. Die Stimmung in der Fan-Zone war beeindruckend. Ganz Wolgograd schien sich dort allabendlich zu versammeln und gemeinsam zu feiern. Von Gert-Ewen Ungar.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Doch Wolgograd war für mich weniger wegen der WM ein Ort, den ich unbedingt besuchen wollte. Die Stadt, die vormals den Namen Stalingrad trug und zum Sinnbild des Schreckens moderner Kriege wurde, müsste eigentlich ein herausragender Ort russisch-deutscher Erinnerungskultur sein. Dachte ich. Schließlich gilt die Schlacht von Stalingrad als der Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges. Die Stadt ist in der Tat ein Ort des Andenkens, allerdings nur des russischen.
Ich habe dort mit Maks von der Pop-Formation “Elektroheel” gesprochen. Ihm ist Wolgograd fast schon zu ausschließlich Erinnerungskultur. “Es gibt hier die Schlacht von Stalingrad, sonst gibt es hier eigentlich nichts.”

Ich kann das nicht beurteilen, ich war zu kurz in der Stadt, um eine womöglich doch vorhandene Underground-Kultur, um Varianten und Verborgenes entdecken zu können. Was ich allerdings sagen kann, ist, dass Wolgograd für mich die erste Stadt war, die noch etwas von Sowjetunion ausströmte. Ich kenne zahlreiche Städte im europäischen Teil Russlands. In allen Städten finden sich Statuen von Lenin und die Symbolik der Sowjetunion als Zeichen der Geschichte. Doch in Wolgograd war es zum ersten Mal, dass ich das Gefühl hatte, so muss es wohl in etwa gewesen sein in der UdSSR.

Und dann nahm ich teil an der Erinnerungskultur. Es war mir wichtig. Als Deutscher, als Friedensfreund und Pazifist, als jemand, der Krieg nicht für ein robustes Mandat und schon gar nicht für eine humanitäre Intervention, sondern für das Tor zu unserer Kehrseite, zur Unmenschlichkeit hält. Krieg ist Scheitern an uns selbst.

Maks hat recht, wenn er sagt, die Schlacht von Stalingrad sei in Wolgograd auch heute noch allgegenwärtig. Mitten in der Stadt befindet sich das Panorama-Museum der Schlacht von Stalingrad.

Schon auf dem Außengelände steht militärisches Gerät aus der Zeit, das einen ersten Eindruck vermittelt, was an Kriegsmaterial aufgewendet worden war. Granatwerfer, gepanzerte Fahrzeuge und vieles mehr. Welchen Effekt es erzielte, sieht man an der alten Mühle, die zerbombt als Denkmal im Zentrum des Museumsgeländes steht.

Im Museum selbst eine nahezu unüberschaubare Zahl an Exponaten. Kriegsgerät, Dokumente, Briefe, Bilder. Das Museum ist gut besucht, doch ich bin vermutlich der einzige Deutsche, der sich heute erinnern lassen möchte. Wir gehen die Treppe hoch in den großen Panorama-Saal. Ein Panorama-Gemälde zeigt Momentaufnahmen aus der Schlacht. Es findet aktuell eine Führung statt. Wir hören zu. Die Museumspädagogin schildert mit viel Enthusiasmus die Vorgänge, die im Bild dargestellt sind.

Mich erstaunt der andere Umgang. Während für Deutsche Stalingrad immer noch so etwas ist wie das deutsche Trauma schlechthin, die Schlacht, die wir gegen die Russen verloren haben, ist es hier der gewonnene Kampf gegen den Faschismus.
Russlands Präsident Putin sagte einmal, die Deutschen seien die ersten Opfer des Faschismus geworden. Es scheint, diese Differenzierung teilt ganz Russland. Zumindest ist sie hier im Panorama-Museum und in der Stadt Wolgograd deutlich zu spüren.
Deutsche und deutsche Kultur werden geschätzt. Unweit der Uferpromenade der Wolga findet sich das Restaurant “Bamberg”, daneben die Bierstube “Gretel”. Mich überrascht, so viel deutsche Ess- und Trinkkultur ausgerechnet hier zu finden. Ich hatte mit Ressentiments gerechnet, aber nicht mit in der ganzen Stadt zu findenden Zeugnissen der Aufgeschlossenheit gegenüber der deutschen Kultur.

Wir denken anders. Wir denken in anderen Begriffen. Generell kann ich sagen, ich wurde in Russland aufgrund meiner Herkunft noch nie diskriminiert. Ich wurde schon gehänselt wegen meinem starken Akzent. Man hat sich schon lustig gemacht, weil ich mal wieder die falsche grammatische Form erwischt und dadurch Unsinn erzählt habe. Aber mein Deutschsein wurde noch nie mit Faschismus gleichgesetzt und dann auf entsprechenden NAZI-Stereotypen herumgeritten, wie das beispielsweise in den USA gerne mal passiert. Russland ist zur Differenzierung in der Lage.

Umgekehrt ist das leider nicht so. Alle meine russischen Freunde, die schon einmal hier waren, können von Diskriminierung wegen ihrer Herkunft berichten. In einigen Fällen wurde ich Zeuge. Man hat es nicht leicht als Russe in Deutschland, denn wir Deutschen lieben Stereotype und Schubladen. Etwas läuft schief in unserer Erinnerungskultur. Sie läuft nicht synchron, obwohl sie das aufgrund der zu erinnernden Geschichte eigentlich müsste.

Am nächsten Tag besuchen wir den Mamajew-Hügel. Der Mamajew-Hügel ist als architektonische Inszenierung eine Meisterleistung. Oben auf dem Hügel die Mutter-Heimat-Statue mit dem erhobenen Schwert. Darunter der Saal des Soldatenruhmes. Man kann den Eindruck, den all das hinterlässt, nicht schildern, man muss es gesehen haben.

Wir treffen zufällig Bekannte, die in Moskau wohnen, die wir aber in Spanien kennengelernt haben. Wir plaudern, erinnern uns an den Urlaub. Zu meiner Verwunderung unterbleibt wieder jeder Hinweis auf meine Herkunft. Ich erwarte die ganze Zeit so etwas wie “Du? Als Deutscher hier?”

Erst später verstehe ich, es geht überhaupt nicht um Herkunft. Es geht die Erinnerung an den Faschismus und die Schrecken des Krieges. Die Erinnerung ist notwendig, damit man in der Lage ist, rechtzeitig die Zeichen seiner Wiederkehr zu sehen. Faschismus ist unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Nation. (Auch wenn meiner Meinung nach die Deutschen eine besondere Veranlagung dazu mitbringen. Die Blockwart-Mentalität der Antideutschen, der Antifa- und Ditfurth-Jünger mit ihren anonymen Watchblogs und Prangern im Internet wiederholt mit modernen technischen Mitteln den autoritären Geist der dreißiger Jahre und versucht jenseits von aufgeklärter Diskussion und Argumentation einen Konformitätsdruck zu erzeugen, wie er für den deutschen autoritären und autoritätsgläubigen Charakter typisch ist.)
Die deutsche Geschichte ist mit der russischen aufs Engste verflochten. Insbesondere in der jüngeren Geschichte verdanken wir der Sowjetunion und Russland viel. Die mit unglaublichem Blutzoll vollzogene Befreiung vom Faschismus, die Wiedervereinigung, die wohl schon viel früher als 1990 hätte stattfinden können, all das verbindet uns mit Russland. Es war Adenauer, der Stalins Vorschlag einer Wiedervereinigung Deutschlands als neutraler, blockfreier Staat zugunsten einer Westeinbindung der Bundesrepublik ablehnte.

Auch die Rolle Russlands bei der Wiedervereinigung 1990 scheint mir viel zu wenig gewürdigt und zunehmend vergessen.
Es ist dieses Land, dem wir so viel verdanken, gegen das wir Sanktionen verhängen, gegen das wir jetzt wieder unsere Raketen richten und unsere Armeen in Stellung bringen, wobei gleichzeitig die deutsche Propaganda auf Hochtouren läuft, damit alles Trennende im Vordergrund gehalten wird und wir auf keinen Fall das Denken in Stereotypen und Schubladen aufgeben.
Man muss es immer wieder wiederholen: Es läuft etwas grundsätzlich schief in unserer gemeinsamen Erinnerungskultur. Es geht dabei gar nicht darum, moralisch zu werden, mit dem erhobenen Zeigefinger zu kommen, sondern einfach darum zu erinnern, wie es kam, damit es nie wieder kommt. Wir in Deutschland tun das nicht, Russland tut es, obwohl es auch unsere Geschichte ist. Russland tut es gleichsam für uns mit und das mit großer Leichtigkeit, wie es hier in Wolgograd an den Stätten der Erinnerung zu spüren war, denn es fehlte jede belastende Schwere und der Begriff “Schuld”.

Da wir unsere Geschichte nicht wachhalten, sind wir vermutlich dazu verdammt, alle gemachten Fehler zu wiederholen. Aktuell sieht es ganz stark danach aus. Wir schlafwandeln geschichtslos in die nächste Katastrophe.  


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