Titel: „Institut Solidarische Moderne“ – eine sehr begrüßenswerte Initiative und ein sehr nachbesserungsbedürftiger Titel und Text
Die Idee, die verschiedenen Kräfte diesseits von Schwarz-gelb zu sammeln, ist ausgesprochen begrüßenswert. Zur Aufklärung, die wir mit den NachDenkSeiten und andere täglich betreiben, muss die politische Aktion und Bündelung hinzukommen. Deshalb war ich total aufgeschlossen, an diesem Projekt mitzuwirken. Aber sowohl der Name des Projektes als auch der Gründungsaufruf haben mich eher irritiert. Wir regen dringend an nachzubessern – bei Titel, Gründungsaufruf oder neuen Texten. Albrecht Müller
Es wäre wünschenswert, wenn die folgenden, von großem Wohlwollen für das Projekt getragenen kritischen Anmerkungen Widerhall fänden:
- Breite Anlage des Projektes
Wenn man ein Gegengewicht zur herrschenden und mächtigen neoliberalen Bewegung schaffen will, dann muss man das breit anlegen, dann muss man viele Menschen mitnehmen und Gruppen mit verschiedenem wissenschaftlichen weltanschaulichen Hintergrund eine Basis bieten:
- Man wird als Unterstützer mit diesem Text gezwungen, in das Denksystem bestimmter soziologischer Schulen einzutauchen. Es wird aber vielen so gehen wie mir, dass sie mit Begriffen wie „industrielle Moderne“, „Postdemokratie“, „Postmoderne“, „industrielle Linke“ und ähnlichen Begriffen sowie den dahinter steckenden Theoremen oder von Soziologen geprägten Denkmustern nichts anfangen können. Sollen wir ausgeschlossen bleiben? Sollen wir uns den Begriffen und Denksystemen von Soziologen wie Ulrich Beck beugen, der eng mit Antony Giddens, einem der Wegbereiter des Blair-Schröder-Papiers und der Agenda 2010, zusammengearbeitet hat? Das ist doch wohl nicht zumutbar.
- Der Text ist auch geprägt von einer seltsamen Betrachtungsweise der jüngeren Geschichte. Wie in manchen anderen Texten findet man hier die Vorstellung, dass es in den letzten 40 Jahren einen Bruch gegeben habe und dass wir heute in einer „neuen Zeit“ leben. Wir leben in einer „veränderten Welt“, heißt es. – Das stimmt immer.
Der Gedanke, das alles neu sei, dass wir vor völlig neuen Herausforderungen stehen, war die Basis der Schröderschen „Reformpolitik“. Wir haben in den NachDenkSeiten auf vielfältige Weise schon belegt, dass diese Behauptung ein Trick ist, mit dem erfolgreiche soziale Einrichtungen und Regelungen wie z.B. die gesetzliche Rente und jetzt die gesetzlichen Krankenkassen zerstört werden. Alles ist neu, diese groteske Vorstellung ist letztlich auch die Basis der massiven Privatisierungspolitik. Der Denkfehler Nummer 1 in „Die Reformlüge“ lautet „Alles ist neu“. Dort wird erklärt, was und wie mit diesem Trick gearbeitet wird.
- Wer der Vorstellung vom Bruch der Geschichte und von der „neuen Zeit“ huldigt, entlässt letztlich jene, die das Elend angerichtet haben, unter dem Millionen leiden, aus der Verantwortung. In der Welt der Autoren kommt der reale Siegeszug der Neoliberalen von ihrem Einfluss auf die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Pinochets über Ronald Reagan und Margret Thatcher bis zu Lambsdorff, Tietmeyer und Kohl nicht vor. Die Akteure der Veränderung werden nicht benannt und nicht verantwortlich gemacht. Es ist einfach nur die „neue Zeit“. Die Verantwortlichen können ihre unsoziale und Ressourcen verschwendende Politik als den neuen Herausforderungen gemäß verkaufen.
- Der Text schließt jene aus, die in der Vergangenheit versucht haben, die Politik im Interesse der Wertvorstellungen dieser neuen Initiative mit dem Titel Solidarische Moderne zu gestalten. Sie, die früher politisch Aktiven der „industriellen Moderne“ hatten angeblich keinen Sinn für Ressourcenknappheit und die ökologischen Probleme und auch nicht für Emanzipation und Selbstbestimmung. Hier wird ein Popanz aufgebaut. In welcher Welt leben die Autoren dieses Textes? Haben die 68er und ihre Vorboten in den sechziger Jahren nicht um Selbstbestimmung gekämpft? War ihnen Emanzipation fremd? Haben die Autoren noch nie etwas davon gehört, dass der IG Metall Vorsitzende Otto Brenner im April 1972 in Oberhausen eine Konferenz zum Thema Lebensqualität und damit zum Thema der Knappheit der Ressourcen und der Notwendigkeit ökologischer Vorsorge ausrichtete? Im Wahlprogramm der SPD von 1972 war Lebensqualität und Ökologie neben der Ostpolitik und der Sozialpolitik ein gleichrangiger Schwerpunkt. Im SPD-Steuerreformprogramm von 1971 gibt es die Forderung nach einer Abgabe auf umweltfeindliche Produkte. Willy Brandt hat 1960 schon den Finger in die Wunde gelegt. Und in Teilen der ökonomischen Wissenschaft, der Welfareeconomics, haben wir uns seit Ende der Fünfzigerjahre mit diesen Themen beschäftigt. Und die praktische Politik nach 1969 war über längere Zeit geprägt von ökologisch orientierten Entscheidungen – mühsam und immer mit Gegenwind, aber immerhin. Muss ich das alles vergessen und hinter mich werfen, um diesen Gründungsaufruf unterzeichnen zu können?
Eine neue Bewegung zur Sammlung der Kräfte jenseits von Schwarz-gelb sollte jedenfalls nicht jene ausschließen, die sich schon immer auf der jetzt als notwendig erkannten gemeinsamen Basis bewegt haben.
Hier geht es nicht um Alt und Jung, hier geht es darum, dass man Bewährtes nicht ausschließt in der so genannten „neuen Zeit“. Damit bin ich bei einem noch wichtigeren Punkt:
- Der Gründungsaufruf macht es jenen Politikern, Wissenschaftlern und interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die eine aktive Beschäftigungspolitik für dringend notwendig halten, besonders schwer, bei diesem Projekt mitzumachen. Beschäftigungspolitik, Vollbeschäftigungspolitik, Makropolitik und Globalsteuerung kommen in diesem Text nicht vor. Die „Reservearmee“ von arbeitslosen Menschen abzubauen und ihnen wieder Alternativen zu bieten, ist jedoch eine der zentralen Voraussetzungen dafür, dass mit ihnen nicht mehr so umgesprungen werden kann, wie das heute der Fall ist. Niedriglohnsektor, prekäre Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Ein-Euro-Jobs – das ist doch alles mit eine Folge dessen, dass Arbeitnehmer nicht mehr Nein sagen können, weil sie keine Alternative haben. Alles was wir an Rechten für Arbeitnehmer erkämpfen können, ist so viel wert, wie es die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt abzusichern vermögen. – Weil das leider so ist, gibt es zumindest ein wichtiges Segment von Menschen, Politikern und Wissenschaftlern in der linken Szene, die die Ankurbelung der Binnennachfrage und die Verbesserung der Reallöhne und der Lohnquote für eine zentral wichtige Angelegenheit halten.
Es ist ja nicht notwendig, dass alle Gruppierungen einer neuen Sammlungsbewegung diese Sicht der Dinge und diese wirtschaftspolitischen Vorstellungen teilen. Aber diese Gruppe von Menschen, die eine makroökonomische Position einnehmen und eine aktive Beschäftigungspolitik einschließlich von Konjunkturprogrammen für wichtig halten, darf doch nicht ausgeschlossen bleiben!
- Die Idee für die NachDenkSeiten entstand unmittelbar im Anschluss an die Gründung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vom Oktober 2000. Seit November 2003 werben wir mit dieser Internetseite für die Einsicht, dass es den herrschenden Kreisen mit dem Mittel der Propaganda, der Manipulation und der Irreführung gelingt, die politischen Entscheidungen wesentlich in ihrem Sinne zu bestimmen und uns damit auch zu beherrschen. Wir werben in unseren Texten in der NachDenkSeiten wie dann auch konzentriert im Buch „Meinungsmache“ für die Einsicht, dass sich die Chance für eine Alternative zum neoliberal geprägten rechtskonservativen Block nur dann öffnet, wenn es gelingt, eine Gegenöffentlichkeit zur Meinungsmache der Herrschenden aufzubauen. Das hat eine der Initiatoren des Instituts Solidarische Moderne, Andrea Ypsilanti, bei ihrem Versuch, in Hessen eine Alternative zu bieten, praktisch erfahren. Das hat die Linkspartei im Bundestagswahlkampf erfahren. Erst als die aggressive publizistische Machtausübung der neoliberal geprägten Gruppen und Medien zum Thema wurde, waren potentielle Wählerinnen und Wähler gegen diese Dauermanipulation wenigstens einigermaßen immunisiert. – Im vorliegenden Text des Gründungsaufrufs ist nicht zu erkennen, dass die Autoren die Bedeutung der Meinungsmache und der Medien für das bisherige Scheitern einer potentiell linken Mehrheit erkannt haben und damit die Notwendigkeit zum Aufbau einer Gegenöffentlichkeit für eine der zentralen Angelegenheiten einer neuen Bewegung halten. Das ist schade, denn wenn sie das nicht verstehen, dann wird auch diese Bewegung unter dem Gewicht der finanziellen und publizistischen Macht der herrschenden Kreise zerbröseln wie das auch andere linke Sammlungsbewegungen erfahren mussten.
- Bei der weiteren Arbeit der neuen Sammlungsbewegung sollte man vielleicht auch beachten, dass es nicht nur Fragen gibt, wie sie auf den letzten beiden Seiten des Gründungsaufrufs formuliert werden. Es gibt jetzt schon viele Antworten, auf die man sich verständigen könnte und müsste.
- Und es gibt noch einige ermunterte Möglichkeiten der offensiven Auseinandersetzung mit der herrschenden Ideologie. Zwei Beispiele will ich nennen, weil sie im vorliegenden Gründungsaufrufs noch nicht gebührend aufgenommen sind:
- Die um sich greifende Korruption in Politik und Medien. Sie wirft ein Licht auf den wahren Charakter der herrschenden Kreise und Ideologie.
- Das Versagen der neoliberalen und rechtskonservativen Kräfte auf ihrem ureigenen Gebiet: bei der Effizienz. Die neoliberalen Rezepte erweisen sich immer mehr als nutzlos und verschwenderisch. Die Neoliberalen sind an ihrer eigenen Ideologie und deren Dogmen gescheitert (Vgl. das Dogma der Deregulierung und ihre Konsequenzen bei der Finanzkrise) . Das sollte man ihnen nicht durchgehen lassen. (Siehe zum Thema auch „Der neoliberalen Ideologie mangelt es auch an ökonomischer Effizienz“ und Teil II)
Es wäre den Initiatoren der neuen Sammlungsbewegung und uns allen zu wünschen, dass sie erfolgreich sind. Das setzt neben anderem voraus, dass diese Initiative die Fähigkeit zur Vielfalt hat. Die hier notierten kritischen Punkte und Anregungen sollen helfen, die Texte so anzulegen, dass sich auch bisher Skeptische auf einer gemeinsamen Plattform finden können. Die gemeinsame Basis kann eine einvernehmliche Wertorientierung sein.