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Titel: Schauen wir doch einmal genauer auf die russischen Medien

Datum: 4. Juli 2018 um 9:06 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, Medienkonzentration, Vermachtung der Medien, Strategien der Meinungsmache
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Ein Kommentator der Tagesthemen regte unlängst an, bei Russland etwas genauer hinzuschauen. Die NachDenkSeiten hatten diesen Kommentar bereits kritisiert und Leserbriefe dazu veröffentlicht. Man sollte die Kernaussage aber ernst nehmen und auf jeden Fall genauer auf Russland schauen. Schade, dass die ARD es meist nicht ihrem Auftrag entsprechend tut, obwohl sie doch alle Freiheit dazu hätte – zumindest auf den ersten Blick. Ein Zwischenruf von Gert-Ewen Ungar, der für die NachDenkSeiten die WM in Russland vor Ort beobachtet.

Glaubt man westlichen Medien, dann ist es um die Freiheit der Presse in Russland schlecht bestellt. In Russland gibt es staatliches Fernsehen und staatliche Presse, im jährlichen Ranking von Reporter ohne Grenzen schneidet die Russische Föderation regelmäßig schlecht ab. Andere NGOs wie Human Rights Watch bescheinigen dem Land schwere Missstände im Hinblick auf die Einhaltung von Menschenrechten. Allerdings wird man sich wohl an den Gedanken gewöhnen müssen, dass westliche NGOs eben keine unabhängigen, objektiven Beobachter sind, sondern selbst eine politische Agenda verfolgen.

Man wird das sicherlich in jedem Einzelfall nachweisen müssen, für Reporter ohne Grenzen steht es jedoch fest. Sie sind nicht objektiv. Schließlich versuchte die Organisation doch unlängst den Schweizer Presseclub zu zensieren, weil dort Kritik an den syrischen “Weißhelmen” zu erwarten war. Reporter ohne Grenzen zeigten damit deutlich, dass sie keineswegs eine unabhängige NGO sind, sondern tatsächlich ein eigenes politisches Programm verfolgen.

Da westliche NGOs in ihrer Bewertung unzuverlässig sind, lohnt ein eigener, ein eigenständiger Blick auf die russische Medienlandschaft. Ich will das im Folgenden versuchen.

Ja, es stimmt. Es gibt hier Staatsfernsehen, es gibt hier staatliche Agenturen und staatliche Zeitungen. Besser wäre es allerdings zu sagen: Es gibt hier auch staatliche Medien. Denn die russische Medienlandschaft erschöpft sich keineswegs in einigen staatlichen Sendern und Verlagshäusern. Die russische Medienlandschaft ist vielfältig. Eine Marktkonzentration auf wenige Verlage, wie sie in Deutschland stattgefunden hat, gibt es in der Russischen Föderation nicht.

Während in Deutschland wenige Medienkonzerne den Markt beherrschen, gibt es in Russland eine Vielzahl von Verlagen, die nur wenige, oft auch nur ein Presseerzeugnis herausgeben. Die auflagenstärkste Wochenzeitung Argumenti i Fakti ist hierfür ein Beispiel. Die Marktkonzentration auf wenige Akteure ist ein Teil der Erklärung für den ausgesprochen schlechten Zustand des deutschen Journalismus, der sich in der Enge des von ihm Sagbaren zeigt. Das Spektrum des Sagbaren, die politischen Positionen zu zentralen Themen ist in Russland breiter als in Deutschland, schon weil die Verlagsvielfalt größer ist.

Das mag überraschen, steht es doch diametral zu der These von der mangelnden Pressefreiheit in Russland. Novaja Gaseta, Radio Doschd, alle, die angeblich von Schließung und Zensur bedroht waren, berichten weiterhin munter vor sich hin.

Was in Russland zudem fehlt, sind Think-Tanks, die sich der vorhandenen Presselandschaft als PR-Instrumente bedienen. Denkfabriken wie die Transatlantikbrücke sind für den Westen typisch. Ihr Zweck ist weniger das Denken selbst. Das vermögen diese Organisationen nur sehr eingeschränkt. Der größere Teil dieser Organisationen dient im Wesentlichen der Steuerung von Demokratie und der Regulierung von Meinungsbildungsprozessen im Interesse einer kleinen ökonomischen und politischen Elite.

Es ist eine ihrer zentralen Aufgaben, die veröffentlichte Meinung zu kontrollieren, um so die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Kein großes deutsches Medium, in dem die Chefredaktion nicht mit diesen Think-Tanks eng verwoben ist.

Ideologisch sind sich westliche Think-Tanks weitgehend ähnlich. Westliche Werte werden beschworen und hochgehalten, die transatlantische Partnerschaft gepflegt.
Dass der Westen an seinen eigenen Werten täglich grundlegend scheitert, findet daher auch keinen Eingang in den deutschen Mainstream. An diesen Werten müssen sich immer die anderen messen lassen.

Eine der interessantesten Wortschöpfungen dieser Think-Tanks, diese kleine gedankliche Schleife sei mir erlaubt, ist das Wort “Whataboutism”. Es bedeutet, dass man auf den Vorwurf, in Russland würde beispielsweise die Meinungsfreiheit eingeschränkt, keinesfalls darauf reagieren darf, die zahlreichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit in westlichen Ländern dagegenzuhalten. Das ist politisch nicht korrekt. Dabei ist genau das notwendig, um zu einer realistischen Einschätzung zu kommen.

Sicherlich. Es gibt in Russland Zensur. Webseiten werden zugemacht, weil sie gegen Gesetze verstoßen. Andere bleiben offen, obwohl sie offensichtlich gegen die gleichen Gesetze verstoßen. Oft ist der Maßstab daher nicht klar. Aber Zensur gibt es eben auch bei uns. Bei uns werden private Institutionen damit beauftragt, das Internet zu kontrollieren. Ein absolut wahnsinniger Vorgang. Willkür sind hier Tor und Tür geöffnet.

Und noch ein Beispiel: Auf den Vorwurf, in Russland gäbe es regelmäßig den Verdacht, Menschenrechte würden verletzt, verbietet sich die Antwort, der Westen, allen voran die USA, würden in großem Maßstab und staatlich organisiert gegen Menschenrechte verstoßen; man solle erst mal vor der eigenen Haustüre kehren, bevor man sich in die Sache anderer Länder einmischt. Eine derartige Antwort gehört sich nicht, das ist nämlich Whataboutism. Genial, wer sich diesen Begriff ausgedacht hat. Er baut Rechtfertigungsdruck in einer Richtung auf, ohne quantitative Gegenargumente zuzulassen. Eine perfide Technik.  

Doch zurück zum Thema Think-Tanks. Zwar sind westliche Think-Tanks auch in Russland aktiv, aber die Medienlandschaft ist nicht mit den Multiplikatoren dieser Organisationen durchsetzt, wie das bei uns der Fall ist. Diese weitgehende Infiltrierung hat großen Anteil daran, dass die Vielfalt der in den Medien abgebildeten Meinungen in Russland größer ist als bei uns.
Im Interesse einer vielfältigen, pluralen Presse und einer lebendigen demokratischen Kultur gehören die PR-Aktivitäten von Think-Tanks stark kontrolliert und reglementiert.
Die unglaubliche Einseitigkeit des deutschen Mainstreams bei zentralen Themen wie Geopolitik und Makroökonomie lässt sich unter anderem durch die massive Einflussnahme dieser Think-Tanks erklären.   

So unterscheidet sich denn der deutsche Mainstream vom russischen in einem wichtigen Punkt: In der Vielfalt, in der Pluralität. Und die russische Gesellschaft hält diese Vielfalt aus. Als der russischsprachige Kanal der Deutschen Welle bei der Präsidentenwahl sich Nawalny anschloss und aktiv zum Boykott der Wahl aufrief, passierte in Russland – nichts. Man muss sich das andersrum vorstellen.   

Natürlich gibt es auch in Russland Medien, die westlichen Think-Tanks nahestehen, sich ihre Informationen von dort holen. Gemeinhin werden diese von unseren Medien als regierungskritisch bezeichnet. Die Novaja Gaseta ist dafür ein Beispiel.

Allerdings gibt es auch noch andere “regierungskritische” Medien. Insbesondere die Publikationen, die den Kommunisten nahestehen, sind hier hervorzuheben. Allerdings trifft ihre Kritik mit ihrer deutlich linken, kommunistischen Ausrichtung den Geschmack der westlichen Medien nicht, weswegen ihre Position zu aktuellen politischen Themen regelmäßig keinen Eingang in den westlichen Mainstream findet. Das Prädikat “regierungskritisch” ist nur neoliberalen Positionen vorbehalten.

Die Positionen, die sich in russischen Presseerzeugnissen und Medien abbilden, sind vielfältig. Und auch die Staatssender verdienen eine etwas genauere Betrachtung. Da ist zum Beispiel der Sender TNT. Gazprom betreibt ihn und da Gazprom ein staatliches Unternehmen ist, gilt er dem deutschen Mainstream als staatliches Medienunternehmen. Kann man darüber streiten, ob das sinnvoll ist. Ich will das an dieser Stelle jedoch gar nicht tun, sondern einfach das Programm des Senders beschreiben.

Der Sender TNT richtet sich mit seinem Programm an eine junge, urbane Mittelklasse, gebildet und aufstrebend. Es werden Lifestyle-Themen bearbeitet, es geht um sexuelle Identitäten, kurz um alles, was großstädtische Mittelschicht auch in Deutschland umtreibt. Kaum eine Serie ohne schwule Akteure, Sex, sexuelle Identität und Geschlechterverhältnisse sind omnipräsente Themen.

Vor einigen Tagen gab es in einer Comedy-Show auf TNT einen tanzenden Hitler in High-Heels. Muss man nicht geschmackvoll finden, aber zur Kenntnis nehmen, dass so etwas im staatlichen Fernsehen möglich ist, das muss man schon. Im angeblich homophoben Russland machen Schwule und Lesben Programm.   

Natürlich gibt es auch Sendungen, die über Europa und die EU nur das Allerschlechteste berichten. Das erledigt der Sender REN TV. Der ist allerdings nicht staatlich, sondern eine Hinterlassenschaft von RTL. RTL hat sich vom russischen Markt zurückgezogen, der einstmals als kritisch geltende Sender wurde verkauft. Heute berichtet REN TV über UFOs, bringt C- und D-Movies und beweist allabendlich die Dekadenz Europas. Ob das jemand Ernst nimmt? Im Nordkaukasus sind mir Menschen begegnet, die das tun. Man muss also ganz weit ab vom Schuss wohnen, um dem Glauben zu schenken. In Moskau und Sankt Petersburg rollt man beim Namen REN TV mit den Augen. Aber auch schlechtes Programm gehört zur Vielfalt.

Insgesamt ist die Nachrichtenvielfalt breit. Es wird auch breit berichtet, was in anderen Ländern passiert und wie Russland dort wahrgenommen wird. Anlässlich des Sieges der russischen Nationalelf gab es einen kurzen Abriss, wie in anderen Ländern darüber und über die WM im Allgemeinen berichtet wird. Das Resümee: Allgemein freute man sich international über die WM und mit Russland. “Nur Deutschland widmet sich wieder mal seinem Lieblingsthema”, sagte der Moderator und meinte damit die Warnungen vor angeblichen Gefahren für Schwule in Russland. Die deutsche Medienlandschaft musste in Russland für einen Lacher herhalten und der Witz war auch noch gut.

Diese drei jedenfalls haben mit dem Spiel Russland gegen Spanien Berühmtheit erlangt.

Sie werden offensichtlich mit Interview-Anfragen überschüttet. Die drei genießen ihre Popularität. Im Moment noch zumindest.

Für Deutschland wäre es ein Gewinn, würde es sich an der medialen Vielfalt in Russland orientieren. Man muss sich an solche Sätze sicherlich gewöhnen. Aber je schneller das geht, desto besser für die Diskussionskultur im Land. Die ideologische Einseitigkeit und die aggressiven Zuspitzungen zu im Grunde völlig unwesentlichen Themen ist in Deutschland nahe am Unerträglichen, vor allem aber nahe am Totalitären. Es lohnt sich tatsächlich, genauer auf Russland zu schauen.


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