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Titel: Hinweise des Tages

Datum: 26. Januar 2010 um 9:20 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
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Heute unter anderem zu folgenden Themen: Freistaat spart für die Bank; Sprenstoff für die Wall Street; endloser Albtraum; EU-Parlamentarier begehren auf; Rentenpolitik; Niedriglohn erreicht die Mitte; 1-Euro-Jobs lohnen sich – für die Arbeitgeber; Zusatzbeitrag, der schleichende Systemwechsel; zurück vor Bismarck; Aus für das Postamt; Spendensumpf; Betteln lernen; IG Metall will kuscheln; Machtspielchen nach Oskar; Befriedung in Afghanistan; Spekulanten setzen auf Griechenland; Naturschützer küren Skandalkonzerne; das Ganze mal wieder in Neues aus der Anstalt. (KR/WL)

  1. Freistaat bereitet sich auf Millionenschulden vor
  2. Sprengmeister der Wall Street
  3. Gefangen in der Endlosschleife eines Albtraums
  4. Kriminalitätsexperte Wolfgang Hetzer: “Das ist die Logik der Mafia”
  5. EU-Parlamentarier drohen mit Boykott der Kommissionswahl
  6. Rentenpolitik
  7. Niedrigverdienende sind schon in der Mitte der Gesellschaft
  8. Hartz IV wirkt. Die Frage ist, bei wem?
  9. Kopfpauschale als Zusatzbeitrag
  10. Peter Sawicki – Opfer auf dem Altar der Klientelpolitik
  11. Zurück vor Bismarck: Konterreform der Sozialversicherung
  12. Bedrängte Beamte
  13. Das endgültige Aus für das Postamt
  14. Kohlenmonoxid-Pipeline
  15. Spendensumpf
  16. Jetzt heißt es betteln lernen
  17. Eine Vorausschau auf das Jahr 2010 aus dem Jahr 2003 von Heiner Flassbeck
  18. Die IG Metall will kuscheln statt kämpfen
  19. Machtspielchen nach Oskar
  20. Privatschul-Boom gerät ins Stocken
  21. Befriedung in Afghanistan
  22. China muss die Notbremse ziehen
  23. Griechen lassen Märkte aufatmen
  24. Naturschützer küren die größten Skandalkonzerne
  25. Mercedes: Kennzeichen D
  26. TV-Tip: Neues aus der Anstalt

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind.Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Freistaat bereitet sich auf Millionenschulden vor
    Das Milliardendebakel der BayernLB wird den bayerischen Staatshaushalt weit stärker belasten als bisher bekannt. Die Regierung plant nun einen harten Sparkurs.
    Quelle: SZ

    Anmerkung WL: Sparen für die Bank, das heißt konkret: Abkassieren bei den Bürgerinnen und Bürgern.

  2. Sprengmeister der Wall Street
    Späte Genugtuung: Jahrzehntelang wurde der ehemalige Fed-Chef Paul Volcker geschnitten. Er wurde verspottet, seine Ansichten belächelt. Jetzt soll der 82-Jährige für US-Präsident Obama an der Wall Street aufräumen. Er hat nichts zu verlieren.
    Präsident Barack Obama will das Wall-Street-System in seiner jetzigen Form sprengen. Und Volcker ist sein Sprengmeister. Seit fast einem Jahr fordert Volcker eine Reform, die einer Wiederbelebung des Glass-Steagall-Acts aus den 30er-Jahren gleichkäme. Damals, in der Großen Depression, hatte Präsident Franklin D. Roosevelt die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken angeordnet.
    Auch Volckers Idealvorstellung ist die Zerschlagung des Bankensystems. Sein Plan: auf der einen Seite streng regulierte Geschäftsbanken, die Kredite vergeben. Auf der anderen Investmentbanken, die auf eigene Faust spekulieren dürfen, aber keine Sparanlagen verwalten – und bei einer Schieflage ihrem Schicksal überlassen werden. Obamas Plan, Banken den Eigenhandel zu verbieten, geht in diese Richtung: Die Wetten auf Zinsen, Währungen, Rohstoffe oder Aktien sind eine wesentliche Einkommensquelle für alle Großbanken.
    Quelle: FTD
  3. Gefangen in der Endlosschleife eines Albtraums
    Die heftigen Reaktionen auf Barack Obamas Vorhaben, die Banken an die Kette zu legen, entspringen einer unheilbringenden Quelle, in der die eigentlichen Ursachen der Krise fortlaufend reproduziert werden.
    Innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Strukturen weiß man nicht wirklich mit der Krise umzugehen. Man laboriert an den Symptomen und setzt auf das Prinzip Hoffnung. Es wird erwartet, die Wirtschaft würde sich schon wieder erholen und man könne die Krise „aussitzen“. Dass aber gerade die Strategie des Aussitzens letztendlich in eine Katastrophe führen wird, erklärt sich, wenn man rational den Fakten und Zusammenhängen folgt.
    Im Prinzip sind alle Faktoren, die zur Krise geführt haben, bekannt und lassen sich anhand einiger Stichpunkte einfach skizzieren. Es begann scheinbar harmlos im Jahr 1971, als die Golddeckung des amerikanischen Dollars aufgegeben wurde. In der Folge kam es zu einer systematischen Ausweitung der Geldmenge, was wiederum zu einer gewaltigen Expansion der Finanzindustrie führte.
    Parallel dazu entwickelten die Wirtschaftswissenschaften Theorien und ökonomische Modelle, die sich fast ausschließlich auf die Finanzmärkte konzentrierten. Durch die Medien wurden die expandierenden Finanzmärkte im Laufe der Jahre dann in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Wahrnehmung gerückt, wobei der Rest des wirtschaftlichen Geschehens faktisch ausgeblendet wurde.
    Diese selektive Sichtweise hatte fatale Folgen: Einerseits wurde die größte Finanzblase in der Geschichte der Menschheit geschaffen und gleichzeitig die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft entkoppelt. Auf der anderen Seite wurde nicht erkannt, dass die Modelle der Wirtschaftswissenschaften schlicht falsch waren – was heute selbst von Nobelpreisträgern öffentlich eingestanden wird.
    Nun könnte man vermuten, diese „ideologische Programmierung“ wäre hauptsächlich in der Finanzwirtschaft zu finden. Tatsächlich ist aber auch die Politik, ebenso wie das gesamte Medien- und Wirtschaftssystem, davon betroffen, zumal Volkswirte mit ihren falschen Wirtschaftsmodellen praktisch in allen Bereichen fest etabliert sind. Die Konsequenzen daraus gleichen einem Realität gewordenen Albtraum, denn zwangsläufig führt die Fortsetzung der Arbeit mit den falschen Wirtschaftsmodellen auch in die nächste Krise.
    Quelle: Die Welt Online

    Anmerkung WL: Ein bemerkenswert hellsichtiger Artikel des Ökonomen Gerd Neumann in der wirtschaftsliberal-konservativen Welt.

  4. Kriminalitätsexperte Wolfgang Hetzer: “Das ist die Logik der Mafia”
    Bei der Finanzwelt muss man sich fragen, welches Gemeinwohlverständnis dahinterliegt, wenn man Geld ausgibt, das man nicht hat; Kredite aufnimmt, bei denen völlig offen ist, ob sie jemals zurückgezahlt werden können oder wo Kreditwürdigkeit durch Bilanzmanipulationen beeinflussbar ist. Die Finanzwirtschaft hat sich ihre eigenen, aus meiner Sicht, unsozialen Gesetzmäßigkeiten zugelegt. Im schlimmsten Fall bilden sich auf diese Weise Strukturen organisierter Kriminalität.
    Beim vorherrschenden Charakterbild in diesem Milieu bin ich für eine sinnliche Erlebbarkeit durch den Verlust von Geld. Was wirklich wehtut, ist der Bereich der zivilrechtlichen Schadenersatzansprüche. Wir reden hier von Millionen, die bei strafrechtlichen Verfahren nicht so ohne Weiteres erzielbar sind. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein, dass ich für Fehler, die ich mache und die einen Vermögensschaden nach sich ziehen, einstehen und haften muss. Egal, ob ich jetzt Straßenbahnfahrer bin oder in sonst einem Beruf. Das sind Wirtschaftsbosse ab einem gewissen Niveau aber nicht mehr gewöhnt.
    Es gibt strukturelle Probleme, klar, aber kein System funktioniert ohne den Menschen. Es herrscht aber eine Distanzierungskultur, die ja fast schon schizophrene Züge trägt. Alles wird zum Systemvollzug, ist quasi göttlicher Wille. Diese Art von Dummheit, Hybris oder mangelnder Sensibilität löst aber sicher keine Probleme.
    Quelle: Kurier (AU)
  5. EU-Parlamentarier drohen mit Boykott der Kommissionswahl
    Die Turbulenzen um die Wahl der neuen EU-Kommission und den damit verbundenen Wechsel des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU) als EU-Kommissar nach Brüssel reißen nicht ab. Die Parlamentarier verlangten von Kommissionspräsident José Manuel Barroso mehr Mitbestimmungsrechte und drohten, die Abstimmung am 9. Februar platzen zu lassen, berichteten die “Stuttgarter Nachrichten” vorab. Dann würde sich die Wahl auf den 24. oder 25. Februar verschieben.
    “Wir wollen keine Abziehbilder sein, sondern den politischen Prozess aktiv mitgestalten können”, sagte der Chef der CDU-Landesgruppe im Europaparlament, Rainer Wieland, der Zeitung. Die Parlamentarier verlangen von Barroso die Unterschrift unter eine sogenannte interinstitutionelle Vereinbarung.
    Dem Blatt zufolge soll sich Barroso bei verschiedenen Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), über die Haltung der Parlamentarier beschwert haben. “Wir bekommen Anrufe aus den Hauptstädten, wir sollten unseren Widerstand aufgeben”, sagte die Europaabgeordnete Inge Gräßle (CDU) den “Stuttgarter Nachrichten”. Es gehe jetzt aber “um Schlüsselfragen”, betonte Gräßle. Die Kommission sei “ein Angsthasenverein”.
    Quelle: Märkische Allgemeine

    Anmerkung WL: Ach wie gerne würde man unsere EU-Parlamentarier einmal erleben, dass sie nicht nur wie die Hofhunde vor den Prügeln jaulen, sondern ihren Herrn auch beißen würden.

  6. Rentenpolitik
    Eines hat die Finanz- und Wirtschaftkrise aber deutlich gezeigt:
    Ein beitragsfinanziertes Alterssicherungssystem ist verlässlicher und stabiler als ein kapitalgedecktes System.
    Auch und erst recht in der Krise gilt: Die Rente ist sicher.
    OECD-Statistiken zeigen, dass die kapitalgedeckte Altersvorsorge in 25 untersuchten Ländern vom Januar bis zum Dezember 2008 im gewichteten Durchschnitt mehr als 20 Prozent an Wert verloren hat.
    In absoluten Zahlen sind das 5,4 Billionen Dollar.
    Im nächsten Jahr werden wir intensive und hoffentlich interessante rentenpolitische Diskussionen erleben.
    Das hat zwei Gründe:

    1. Die Kritik an der privaten Zusatzvorsorge, der sogenannten Riester-Rente, wächst:
      Sowohl grundsätzliche Kritik als auch Kritik an einzelnen Angeboten oder an der Mehrheit der Angebote.
    2. Der zweite Grund liegt in § 154 des SGB VI, in dem es heißt:
      „Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Körperschaften vom Jahre 2010 an alle vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu berichten und eine Einschätzung darüber abzugeben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können. In diesem Bericht sind zur Beibehaltung eines Sicherungsniveauziels vor Steuern von 46 vom Hundert über das Jahr 2020 hinaus von der Bundesregierung entsprechende Maßnahmen unter Wahrung der Beitragsstabilität vorzuschlagen.“

    Der Gesetzgeber hat also den Auftrag erteilt, im Jahr 2010 die Frage der Rente mit 67 auf den Prüfstand zu stellen. Das muss unvoreingenommen geschehen, und mit einem klaren Blick über den Tag hinaus.
    Ohne diese Überprüfungsklausel hätte das Gesetz vermutlich keine Mehrheit im Deutschen Bundestag und im Bundesrat bekommen.
    Für mich stehen dabei drei Fragen im Vordergrund:

    1. Wie kann der Vorwurf ausgeräumt werden, die Rente mit 67 sei nichts anderes als eine versteckte Rentenkürzung?
    2. Was kann dafür getan werden und was wird tatsächlich dafür getan, dass Menschen länger arbeiten können?
    3. Das tatsächliche Rentenalter liegt ja immer noch weit unter 65 Jahren.
      Was ist notwendig und wie wird es möglich gemacht, dass die individuelle Arbeitssituation und Arbeitsbelastung bei der Festlegung des Renteneintritts berücksichtigt wird?

    Ich bin davon überzeugt, dass der Vorwurf der Rentenkürzung nur dann aus der Welt geschafft werden kann, wenn es gute Antworten auf die Fragen 2 und 3 gibt.
    Quelle: Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen, Staatssekretär Christoph Habermann Rede bei der Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Rheinland-Pfalz am 10. Dezember 2009 in Speyer

    Anmerkung WL: Bei allen Zwängen eines Amtes, so könnte sozialdemokratische Rentenpolitik auch vertreten werden.

  7. Niedrigverdienende sind schon in der Mitte der Gesellschaft
    Armutsgefährdung findet nicht mehr nur am Rande der Gesellschaft statt, sie ist mitten drinnen. Das ergibt eine Studie, die von Birgit Buchinger im Auftrag der Arbeiterkammer (AK) Salzburg erstellt wurde…Mehr als die Hälfte der Beschäftigten – nämlich 52 Prozent – in Salzburg verdient weniger als 1.500 Euro brutto im Monat. Das sind 117.186 Personen, davon exakt zwei Drittel Frauen. “Die Niedrigverdienenden sind in der Mitte der Gesellschaft und kein Randphänomen. Mehr als 40 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdienen so wenig, dass sie keine Steuern zahlen. Geringe Einkommen verteilen sich über unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten – dazu zählen Geringfügige und freie Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer, Praktikanten und Leiharbeiter, kurzfristige Minijobs, aber auch zunehmend Normalarbeitsverhältnisse – und sind überwiegend Frauensache”, fasste Pichler zusammen. Mit dieser Entwicklung stehe man in Salzburg nicht alleine da, sondern sie sei in allen mitteleuropäischen Industriestaaten zu beobachten…
    “Die Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und gesellschaftlicher Macht wächst. Wenn die Niedrigverdienste zunehmen, fehlt der Wirtschaft die Konsumnachfrage und die Finanzierungsnöte der sozialen Sicherungssysteme wie Kranken- und Pensionsversicherung wachsen. Das Zurückdrängen des Niedriglohnsektors und forcierte Bildungspolitik führen zu Wachstum und verhindern Armut”, so der AK-Präsident.
    Quelle: derStandard.at

    Anmerkung WL: Um diese Niedrigverdiener aus der Mitte der Gesellschaft kümmern sich natürlich die angeblichen Parteien der „Mitte“ von CDU und FDP schon nicht mehr. Sie sind ja, gemessen an ihrem Einkommen, keine Leistungsträger, für die sich Leistung lohnen muss.

  8. Hartz IV wirkt. Die Frage ist, bei wem?
    Die Apologeten der Agenda 2010 propagieren, dass Hartz IV wirkt – und das ist tatsächlich der Fall.
    Der Begriff “Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung” war von Beginn an irreführend. Dies war notwendig, um den negativ besetzen Begriff Zwangsarbeit zu vermeiden. Obgleich die Arbeits”gelegenheiten” anfangs an strikte Regeln gebunden waren, die suggerierten, dass keinesfalls reguläre Arbeitsplätze gefährdet sein würden, fand man auch hier einen Trick: Zwar gab es diese Regeln, doch die ohnehin schon überlasteten Arbeitsagenturen fanden weder Zeit noch Lust, die Einhaltung dieser Regeln zu prüfen.
    Von diesen Entwicklungen profitiert neben der Kirche und der Wirtschaft auch die Politik. Die Kirche hat die Zwangsarbeiter freudig als Mitarbeiter aufgenommen, nicht zuletzt da ihr (wie auch den “gemeinnützigen Unternehmen”) durch die Mehraufwandsentschädigung bis zu 500 Euro monatlich in die Kasse gespült wurden, von denen nur ein Bruchteil den “Hartzie” erreichte. Auch hier wurde von Regelungen gesprochen, doch diese nur sehr selten kontrolliert. Die Wirtschaft hat nicht nur (so sie manches als gemeinnützig deklarieren kann), günstige Arbeitskräfte, die dringend benötigt werden, da auch die bisher so preisgünstigen Alternativen in Form von modernen Wanderarbeitern aus dem Ausland zunehmend ausfallen. Vielmehr wird bereits seit Langem die Forderung laut, die Günstigarbeitskräfte auch im privaten Sektor einzusetzen.
    Quelle: Telepolis

    Anmerkung WL: Neu sind diese Erkenntnisse leider alle nicht. Siehe z.B. Über die Umfunktionierung und Instrumentalisierung der „Ein-Euro-Jobs“. Albrecht Müller hat schon 2004 auf die Geschäfte mit Ein-Euro-Jobs hingewiesen. Aber von all dieser Kritik wollte man seit der „Reform“-Euphorie nichts mehr hören, bis heute beherrscht uns ein fast totaler, „kollektiver Wahn“, dass diese Reformen „objektiv notwendig und alternativlos“ (Schröder) seien.

  9. Kopfpauschale als Zusatzbeitrag
    1. Zusatzbeitrag – Krankenversicherte sollen für Massenfeldversuch herhalten
      Weil Schwarz-Gelb Sparkuren im Gesundheitswesen scheut, zahlen die Versicherten drauf. Bis zu 50 Millionen Bürger müssen die Etatlöcher mit Zusatzbeiträgen stopfen – de facto eine kleine Kopfpauschale. Die Regierung freut sich über den Massentest für ihre Radikalreform der Krankenversicherung.
      Quelle: Spiegel

      Anmerkung Martin Betzwieser: Dem zum Journalisten umgeschulten Ex-Unternehmensberater Sven Böll kommen natürlich keine weiteren Ideen, um die Einnahmeseite der gesetzlichen Krankenkassen zu verbessern, z.B. Aufnahme aller Berufstätigen, Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen, schwerere Bedingungen für den Wechsel zu privaten Krankenversicherungen.

      Ergänzende Anmerkung WL: Das Volumen des Gesundheitsfonds war doch voraussehbar so angelegt, dass es zur Deckung der Kosten nicht ausreichen würde. Es ging eigentlich nur darum, die paritätisch finanzierten Krankenversicherungsbeiträge zu deckeln, dazu hatte man den ursprünglichen Beitragssatz von 15,5 extra noch auf 14,9 Prozent gesenkt, und die vorhersehbare Unterdeckung des Fonds sollte eben über eine Kopfpauschale gedeckt werden.
      Erinnert sei an das Interview des neuen Gesundheitsministers Rösler in der FR. Er hat dort als Argument für seine kleinen Schritte hin zur Kopfpauschale angeführt, dass mit den Zusatzbeiträgen der letzten Gesundheitsreform der Grundstein für die Prämie gelegt worden sei. Es gehe auch ihm nicht darum, den gesamten Krankenversicherungsanteil schlagartig zu überführen, das solle schrittweise geschehen.
      Interessant ist ferner die Aussage Röslers, dass die Sorge der Arbeitgeber vor steigenden „Lohnzusatzkosten“ stets die Gesetzgeber zu Kostendämpfungsgesetzen gedrängt hätten.
      Schon jetzt sei die paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung ja aufgehoben. Die Arbeitgeber zahlten 7 Prozent und die Arbeitnehmer 7,9 Prozent, und dazu könnten demnächst noch die Zusatzbeiträge kommen, die ausschließliche die Versicherten tragen müssten.

    2. Krankenkassenbeitrag: Abschied von der Solidarität
      Acht Euro im Monat, 96 im Jahr. Kommen wir damit nicht noch ganz günstig davon, vergleichsweise? Warum plötzlich diese Verschämtheit der Kassenfunktionäre, wieso jetzt das politische Gezeter um Schuld und Verantwortlichkeit, weshalb die ganze Aufregung? Aus zwei Gründen. Erstens: Die Krankenkassen verlangen die acht Euro, bei denen es natürlich nicht bleiben wird, pauschal. Die alleinstehende Friseurin, die finanziell kaum über die Runden kommt, muss sie genauso berappen wie der prächtig verdienende Abteilungsleiter für sich, seine Frau und seine vier Kinder. Bislang richteten sich die Kassenbeiträge, zumindest bis zu einer Obergrenze, immer nach dem Einkommen. Und zweitens: Die Arbeitgeber sind raus. Sie müssen nicht paritätisch mitbezahlen, sie werden noch nicht mal mit dem Abbuchen der sogenannten Zusatzbeiträge behelligt.
      Beides ist, um das klar zu sagen, ein Systemwechsel. Was wir gerade erleben, ist nichts weniger als der noch ein wenig schüchtern daherkommende Abschied vom solidarischen Prinzip. Eine Weichenstellung, die den Zug in Regionen leitet, die sich merklich frostiger anfühlen werden. Und die, auch das ist interessant, nicht etwa von den neoliberalen Gesellen einer Klientelpartei ersonnen wurde, sondern von einer Koalition der Volksparteien, mit tatkräftiger Hilfe der SPD. Die aufgesprungene FDP kann sich jetzt sogar den Luxus gönnen, die Zusatzbeiträge als Zumutung für Geringverdiener zu bezeichnen – obwohl sie selber ein Pauschalsystem ansteuert, das viel weiter will und die Hälfte der Bürger zu Sozialausgleichsbedürftigen machen würde.
      Quelle: Tagesspiegel

      Anmerkung Orlando Pascheit: Wem es bis jetzt noch nicht klar war, sollte es anlässlich der Auswirkungen schwarz/roter Gesundheitspolitik begrüßen, dass die SPD zwecks Regenerierung in die Opposition geschickt wurde. Das Standardargument, dass es ohne die SPD noch schlimmer gekommen wäre, zieht nicht. Sowohl in der Gesundheitspolitik als auch beim Mindestlohn hätte sich die SPD verweigern müssen. Um es noch einmal klar zu sagen: die Schröder-SPD, die Grünen waren doch eher nur Mitläufer, was natürlich auch Einiges über sie aussagt, hat neoliberale Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik hoffähig gemacht. Ohne diese schmutzige Vorarbeit würde auch heute eine schwarz/gelbe Regierung nicht die aktuellen Angriffe auf die solidarische Bürgergesellschaft führen können, da vieles immer noch gesellschaftlich geächtet wäre. Sowohl die Schwächung der organisierten Arbeitnehmerschaft durch die Förderung eines ausufernden Niedriglohnsektors wie auch die Stärkung vor allem des Finanzkapitals, um nur zwei Aspekte zu nennen, stehen für eine verfehlte Wirtschaftpolitik, mit dramatischen Auswirkungen. – Leider hat sich die SPD immer noch nicht sowohl personell wie auch programmatisch vom Schrödererbe trennen können, was es schwierig macht sie z.B. in NRW zu wählen, obwohl Schwarz/Gelb mehr als einen Denkzettel verdient. Also müssen wir uns weiterhin in Geduld üben. Immerhin dürfte uns jetzt klar sein, wozu Schwarz/Gelb unter der Führung von Angela Merkel fähig und bereit ist. Nur hätten wir das bei einer weniger machtversessen SPD schon eher erleben dürfen. Und Schwarz/Gelb wäre schon heute aus dem Amt gejagt.

      Statt wirklich auf Effizienz im Gesundheitssystem etwa bei den Pharmaherstellern zu achten, hat man nun auch noch den Arzneimittelkontrolleur rausgeworfen:

  10. Peter Sawicki – Opfer auf dem Altar der Klientelpolitik
    Zuerst wurden die Hoteliers bedient, ihnen wurde die Mehrwertsteuer halbiert; den Arbeitgebern wird ein Einfrieren der Krankenkassenbeiträge versprochen, sie werden also nicht mehr an den Steigerungen der Kosten des Gesundheitswesens beteiligt; die Zugangsbedingungen zur privaten Krankenversicherung werden erleichtert; und jetzt wird der Vertrag von Peter Sawicki, dem Gründer und Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen von der schwarz-gelben Regierungskoalition nicht verlängert. Ganz unverhohlen betreibt der liberal-konservative Gesundheitsminister seine Klientelpolitik. Sawicki ist das Bauernopfer für die Pharmaindustrie. Er war mit seinen kritischen Stellungnahmen zur Wirksamkeit von deren Produkten, z.B. der Analoginsuline oder der Antidepressiva, der Industrie ein Dorn im Auge.
    Quelle: Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte e.V.
  11. Zurück vor Bismarck: Konterreform der Sozialversicherung
    Tatsächlich arbeiten Christlich-Konservative und Sozialdemokraten genau wie die FDP seit Jahren daran, das mehr als ein Jahrhundert alte Modell der Sozialversicherung zu unterminieren. Wer dahinter steht, ist offensichtlich. »Arbeitgeber« fordern seit langem, die Gesundheitskosten einseitig den »Arbeitnehmern« aufzubürden.
    Das 1883 von Bismarck erlassene »Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter« hat das Verhältnis zwischen Lohnabhängigen und Unternehmern in Deutschland über hundert Jahre geprägt. Die Grundidee – mit der der strategisch gewiefte Kanzler seinerzeit der aufstrebenden Sozialdemokratie das Wasser abgraben wollte – war bestechend einfach: »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer« teilen sich die Kosten halbe-halbe. Nicht mal die Nazis wagten sich, das System komplett zu zerstören.
    Quelle: Junge Welt
  12. Bedrängte Beamte
    Freund, jetzt ist Zeit zu lärmen!« Mit Flugblättern unter dieser Losung deckte der Berliner Richter Carl Twesten als Abgeordneter in dem 1862 gewählten preußischen Abgeordnetenhaus Manipulationen der Regierung Otto von Bismarcks bei der Besetzung von Richterstellen auf und wurde dafür strafrechtlich verfolgt. Nach einem erregten Rededuell zwischen Twesten und Bismarck stimmte der Landtag über die Sanktionen ab: 283 Abgeordnete missbilligten die Maßregelung des Richters, Bismarck konnte nur 35 Abgeordnete hinter sich bringen.
    Bismarck und die preußische Staatsregierung überlegten, wie sie die aufmüpfigen Alt-48er in den Griff bekommen könnten. Sie beschlossen das, was auch Hessens Ministerpräsident Roland Koch und sein Finanzminister Karlheinz Weimar (beide CDU) für die Frankfurter Steuerfahndung eingefallen ist: Da machen wir eine Umstrukturierung.
    Quelle: Junge Welt

    Anmerkung WL: Die Abgeordneten scheinen im nach wie vor obrigkeitlichen preußischen Abgeordnetenhaus jedenfalls ihre Kontrollpflichten ernster genommen zu haben als die Parlamentarier im hessischen Landtag.

  13. Das endgültige Aus für das Postamt
    Die Deutsche Post gibt bis 2011 auch die letzten selbst betriebenen Ämter auf. Schnellstmöglich sollen bis zu 24.000 Partnerfilialen entstehen.
    Quelle: Zeit
  14. Kohlenmonoxid-Pipeline
    Die umstrittene Kohlenmonoxid-Pipeline des Bayer-Konzerns muss teilweise wieder ausgegraben werden. An einigen Stellen in Duisburg bestehe der Verdacht, dass sich unter der Pipeline explosive Kriegs-Hinterlassenschaften befinden. Dies teilte die Düsseldorfer Bezirksregierung am Montag mit.
    Die 67 Kilometer lange Rohrverbindung soll das hochgiftige Kohlenmonoxid zwischen den Bayer-Werken Dormagen und Krefeld-Uerdingen transportieren. Die Pläne hatten bei den Anrainern einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Mehr als 100000 Menschen protestierten mit ihrer Unterschrift gegen die „Giftgas-Pipeline“.
    Quelle: Ruhr Nachrichten
  15. Spendensumpf
    1. Die “lobbyistische Demokratie”
      Lobbyisten und FDP – das ist eine unstrittig sehr gesunde Liebesbeziehung. Deren jüngstes Kapitel schlug der Grüne Volker Beck auf. Während der Haushaltsdebatte im Bundestag fragte er, ob die FDP bei der DKV, dem größten privaten Krankenversicherer in Europa, Sonderkonditionen genieße. Birgit Homburger, FDP-Fraktionschefin, hörte erkennbar weg. Kein Wunder: Tatsächlich haben die Liberalen seit 2003 einen Gruppenvertrag mit der DKV. Liberale und deren Angehörige bekommen einen Rabatt von fünf Prozent auf den normalen Tarif, außerdem darf kein Antragsteller abgelehnt werden und Wartezeiten für einen Neuvertrag gibt es auch nicht. “Es handelt sich um ein ganz normales Vorgehen der Versicherungswirtschaft”, beschwichtigt Monika Strobrawe, Sprecherin des DKV-Eigentümers “Ergo” im Gespräch mit stern.de. Aber sie gibt auch zu: Die FDP ist die einzige Partei, die einen solchen Gruppenvertrag hat. Tja. Und so kommt eins zum anderen. Die FDP hat auf einer Broschüre für die DKV geworben, die DKV ist stolz auf ihren guten Draht zu den Liberalen. Vor der Wahl haben die Liberalen getönt, sie wollten die Privaten-Kasse (PKV) fördern. Nun macht der smarte Gesundheitsminister Philipp Rösler den PKV-Lobbyisten Christian Weber zum Leiter seiner Grundsatzabteilung. Zufall? Volker Beck formuliert es für stern.de vorsichtig: “Es sind die Koinzidenzien, die mich besorgt machen, was da bei der Gesundheitsreform rauskommt.” Die Partei der Besserverdienenden muss sich davor nicht fürchten – sie ist ja bestens versichert. Santé!
      Quelle 1: Stern

      Anmerkung Martin Betzwieser: Die Haltung des Autors zu Manfred Pohl und zum Frankfurter Zukunftsrat (der laut Artikel der speziell gegründet worden ist, um den breitflächigen Einfluss der Lobbyisten in der Politik zu verringern) ist allerdings unverständlich. Der Frankfurter Zukunftsrat ist eine neoliberale Lobbyorganisation mit Einigen der üblichen Verdächtigen im Lobbyistengeschäft: Wolfgang Clement, Oswald Metzger, Friedrich Merz, Rudolf Scharping, Peter Sloterdijk.
      Quelle 2: LobbyControl

    2. Gabriel fordert juristische Schritte gegen FDP und CSU
      Laut “Spiegel” spendeten zudem wenige Tage nach der Bundestagswahl drei Mitglieder der Familie Quandt/Klatten der CDU insgesamt 450.000 Euro. Noch vor der Veröffentlichung der Spende der BMW-Großaktionäre hätten “Union und FDP einen neuen Rabatt bei der Besteuerung von Jahreswagen für Mitarbeiter und ebenso einen weiteren Steuerrabatt für die Privatnutzung von Firmenwagen” vereinbart.
      Quelle: Stern

      Anmerkung WL: Zitat aus einem Antwortbrief der FDP-Bundesgeschäftsstelle: „Mitglieder der FDP haben mit ihrem Engagement in und mit den Liberalen nicht nur den ideellen (so im Original) Nutzen, an mehr Freiheit für mehr Menschen mitzuarbeiten, sondern auch noch die Möglichkeit, durch uns ausgehandelte Ermäßigungen einzelner Dienstleister zu nutzen… Damit nutzen die Liberalen weit verbreitete Maßnahmen zur Mitgliederbindung. Wir freuen uns, dass Ihre Anfrage uns die Gelegenheit gibt auf diese attraktiven Tatsachen hinzuweisen.“

  16. Jetzt heißt es betteln lernen
    Peter Sloterdijk will staatliche Fürsorge durch private Mildtätigkeit ersetzen. Seine »Philosophie der Gabe« hat eine Debatte um die Begründung des Sozialstaates ausgelöst
    Selbstverständlichkeiten, sollte man meinen. Aber das eben war das Unheimliche an der Debatte: dass ein kleines, kaum durchdachtes Gedankenspiel eines kaum ernsthaften Philosophen noch einmal nötig machte, alle Selbstverständlichkeiten der sozialen Demokratie, ja die Selbstverständlichkeiten des gemeinschaftssichernden modernen Staates vorzuführen und zu begründen.
    Und das ist es wohl in der Tat. Wenn Guido Westerwelles Bemerkung von der »geistig-politischen Wende« irgendetwas gemeint haben soll (was wir aber nicht beschwören wollen), dann kann es nur meinen: dass alles auf den Prüfstand kommen soll, was wir für den gesicherten Bestand von staatlich organisierter Mitmenschlichkeit gehalten haben. Man mag diese Deutung, nach der Bankenrettung durch den Staat, das heißt durch den Einsatz von Steuergeldern aller zur Vermögenssicherung der wenigen, für unplausibel, womöglich dreist halten. Aber wenn man ein Interesse derer unterstellt, die in den letzten Jahren an der Stutzung des Sozialstaats gearbeitet haben, dass ihr Projekt jetzt nicht zum Erliegen kommt, dann wäre es in der Tat plausibel, wenn sie mit verstärkter Rhetorik an die Ressentiments der Bessergestellten appellierten.
    Es kennzeichnet das gesellschaftliche Klima, dass Armut nicht mehr als sozialpolitische Herausforderung gesehen wird, sondern nur als Hinweis auf die Untüchtigkeit der Armen. Anders gesagt: Wer nicht zu den Gewinnern der globalisierten Verteilungskämpfe gehört, soll offenbar wieder betteln lernen.
    Quelle: Zeit Online
  17. Eine Vorausschau auf das Jahr 2010 aus dem Jahr 2003 von Heiner Flassbeck
    In der Rückschau auf 2003/2004 wirkt manches absurd, weil man sich die Verhältnisse und die geistige Disposition der meisten Akteure zu Beginn des dritten Jahrtausends heute nicht mehr vorstellen kann. Gleichwohl ist gerade jetzt eine gute Zeit für einen Rückblick, weil der Anfang der ruinösen Entwicklung an einem politischen Programm festgemacht werden kann, das paradoxerweise „Agenda 2010“ (elegant „zwanzigzehn“ von den damals verantwortlichen
    Politikern ausgesprochen) hieß.
    Quelle: Memo Uni Bremen, Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2003 (!) [PDF – 61.9 KB]

    Anmerkung WL: Man hätte es also wissen können, wo wir 2010 angekommen sind.

    Dazu passt:

  18. Die IG Metall will kuscheln statt kämpfen
    Die IG Metall legt in diesem Jahr keinen Wert auf große Lohnzuwächse für ihre Mitglieder. Stattdessen will sie sich um die Sicherung von Arbeitsplätzen bemühen – 700.000 stehen angeblich in der Branche auf der Kippe. Auch die Zukunft der Gewerkschaft hängt von ihnen ab.
    Quelle: Die Welt Online

    Anmerkung WL: Man vergleiche einmal das von Flassbeck im vorherigen Hinweis geforderte makroökonomische Denken mit dem Verhalten der IG Metall. Es ist natürlich betriebswirtschaftliches oder mikroökonomisches Denken, das diese Tarifrunde leitet. Nur, kann man einer Einzelgewerkschaft vorhalten, dass sie der betriebswirtschaftlichen Logik folgt und mit Lohnzurückhaltung Arbeitsplätze zu retten versucht. Man wird nie ausrechnen können, wie viele Arbeitsplätze damit gesichert sein werden, und selbst viele Arbeitsplatz-Sicherungsvereinbarungen sind ja über Nacht gekündigt worden. Es gab Zeiten, da wurde in den Grundsatzabteilungen der Gewerkschaften auch bei Tarifverhandlungen gesamtwirtschaftlich gedacht, doch was würde das gegenwärtig helfen, wenn es kaum noch jemande gibt, der solche Argumente unterstützen könnte. Das zeigt, dass die Gewerkschaften gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten völlig in der Defensive sind: Gegen sie stehen die Argumente der Unternehmer, für die jede Lohnerhöhung von den Profiten abgeht. Gegen sie steht die Politik, die sich fast ausschließlich die Unternehmerlogik zu Eigen macht, und gegen die Einzelgewerkschaften steht die reale Angst ihrer Mitglieder um ihren Arbeitsplatz in einem ganz konkreten Einzelunternehmen. Die Tragik dabei ist, dass wenn die Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz trotz Lohnverzicht verlieren – wie wir das seit fast zwanzig Jahren Lohnstagnation ja millionenfach erleben mussten – das als Schwäche der Gewerkschaften erlebt wird und ihre Kampfkraft durch weiteren Mitgliederschwund zusätzlich geschwächt wird.
    Diese trostlose Spirale nach unten könnte nur über eine der Makroökonomie verpflichteten Politik entgegengesteuert werden. Aber da tun sich, wie man selbst in der Welt nachlesen kann (siehe Hinweis 3,) nur Albträume auf.

  19. Machtspielchen nach Oskar
    1. Oskars wahrer Erbe
      Noch ziert sich Sigmar Gabriel, doch der Abgang Oskar Lafontaines ist für den SPD-Chef eine Steilvorlage: Er kann die Lücke füllen, die der Linke-Populist von der Saar hinterlässt. Selbst eine Fusion von Linkspartei und Sozialdemokratie ist nun möglich – unter Gabriels Führung.
      In der SPD gab es bislang drei klare Grundannahmen. Nummer eins lautete: “Die Person” Oskar Lafontaine macht eine Zusammenarbeit mit der Linken auf Bundesebene unmöglich. Annahme Nummer zwei hieß: Oskar Lafontaines Aufstieg bei der Linken hat den Aussöhnungsprozess von westdeutschen Sozialdemokraten und ostdeutschen Postkommunisten um zehn Jahre zurückgeworfen. Und Annahme Nummer drei ging so: Ohne Oskar Lafontaine wäre die Linke im Westen kaum existent.
      So weit, so wahr.
      Nun hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Seit dem Wochenende muss die SPD anders denken. Die Grundannahmen stimmen nicht mehr. Oskar Lafontaines Abgang verschiebt nicht nur die Machttektonik in der Linken, er verändert auch die strategische Ausgangslage der SPD grundlegend.
      Quelle: Spiegel

      Anmerkung WL: Der Ressortleiter Politik und Leiter des Berliner Büros bei SPIEGEL ONLINE, Roland Nelles, liefert ein typisches Beispiel für inhaltsleeres, auf reine Machtstrategie reduziertes Denken in der Berliner Journalistenszene. Es geht offenbar nur noch um taktische Spielchen, dass die SPD mit ihrem Kurswechsel auf die Schrödersche Agenda-Politik erst den Raum für eine neue Partei geschaffen hat, ist dabei völlig nebensächlich.
      Das ist nun eine weitere Variante, die SPD durch eine Absage an eine Zusammenarbeit mit der Linken (wie auch immer) von einer möglichen Machtoption in NRW abzuhalten und auch in Düsseldorf Schwarz-gelb die Macht zu sichern. Für einen Journalisten, der durch die Axel-Springer-Schule gegangen ist, nicht weiter verwunderlich.

      Aber solche Spielchen scheinen offenbar auch in der SPD Unterstützer zu haben:

    2. SPD und Linkspartei – Gabriel : Lafontaines Rückzug ändert gar nichts
      Führende Sozialdemokraten sehen keine Chance für rot-rote Annäherung. Linkspartei will sich rasch neu formieren.
      Quelle: SZ

      Anmerkung Volker Bahl: Wieder einmal legen “sie” sich “prophylaktisch” fest – oder haben Angst, dass jetzt in der Partei die Diskussion unter den veränderten Bedingungen neu beginnt. Jedenfalls hatten all diejenigen recht, die sagten, dass sich unter Gabriel für “neue Mehrheiten” links von schwarz-gelb nichts ändert. Kein schöner Ausblick auf 2013 – die nächste Bundestagswahl – angesichts dieses immer deutlicher heraustretenden Horrors von schwarz-gelb. Und der “liebe” Gabriel will uns darauf “festnageln”.

  20. Privatschul-Boom gerät ins Stocken
    Die erste deutsche Privatschulkette Phorms hat schnell viel gewollt. Jetzt zeigt ihr Geschäftsmodell Schwächen. Im Management häufen sich Probleme und auch bei der Finanzierung hakt es.
    Quelle: FTD

    Anmerkung KR: Wir erinnern in diesem Zusammenhang an einen Beitrag von Jens Wernicke: „Auf dem Weg zur „Bürgerschule“

  21. Befriedung in Afghanistan
    1. Finger am Abzug
      In Wirklichkeit besteht zwischen dem, was die SPD jetzt ihren »Abzugskorridor« nennt, und der sogenannten »Abzugsperspektive« der schwarz-gelben Regierungskoalition kein großer Unterschied, auch wenn die Parteien ihren Rollen gemäß munter aufeinander eindreschen, als ginge es um einen ernsthaften Dissens. Beide Seiten kennen die wenig konkrete Ankündigung von US-Präsident Barack Obama, im Sommer 2011 mit dem Truppenabzug zu beginnen. Außerdem wissen sie natürlich schon, was in dem noch nicht veröffentlichten Entwurf steht, der voraussichtlich am Donnerstag auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in London verabschiedet wird.
      Letztlich reduziert sich die »Abzugsperspektive« auf die selbstverständliche Aussage, daß man den Krieg »so schnell wie möglich« beenden will – aber erst nach Erreichen aller militärischen und politischen Ziele. Tatsächlich bedeutet das einen Krieg ohne erkennbares oder voraussagbares Ende.
      Die Eskalation des Krieges wird jetzt angesichts der zunehmend negativen Stimmung in allen westlichen Ländern als schnellster Weg zu seiner Beendigung verkauft. Die prinzipiell kriegswilligen Medien leisten ihren propagandistischen Beitrag, indem sie inflationär den hoffnungsvollen Begriff »neue Strategie« einsetzen.
      Quelle: junge Welt
    2. Grünhelm-Chef Rupert Neudeck: Niebel versündigt sich an Afghanen
      Die Behauptung, die Soldaten der Isaf-Truppe seien in Afghanistan, um die Bevölkerung und die humanitären Helfer zu schützen, ist eine doppelte Chimäre. Die Grünhelme etwa arbeiten seit 2003 in der westafghanischen Provinz Herat. Dort hat die Organisation inzwischen 31 Dorfschulen für je 600 Schüler sowie eine Entbindungs- und OP-Klinik aufgebaut. In diese Gegend, in der das italienische Isaf-Kontingent zuständig ist, hat sich noch kein westlicher Soldat verirrt. In jedem Dorf frage ich den Schulleiter, den Bürgermeister oder den Mullah beim gemeinsamen Tee, ob sie in ihrem Dorf schon jemals einen Italiener gesehen hätten. Dann schauen mich diese Menschen ungläubig an: Nein, sie wissen nicht mal, wer diese Leute sind. Die Präsenz von 2200 Carabinieri in der riesengroßen Kaserne am Stadtrand von Herat – der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz – lässt sich allenfalls erahnen.
      Wir “Humanitären” wollen aber auch gar nicht von Bewaffneten geschützt werden, selbst wenn das möglich wäre. Ein solches Verhalten widerspricht unserem ureigenen Auftrag. Die Genfer Rot-Kreuz-Konventionen besagen eindeutig: Humanitäre müssen klar Distanz zu allen bewaffneten Gruppen und Milizen halten. Keine humanitäre Organisation darf sich bewaffnen, sich von Bewaffneten schützen lassen oder auch nur Bewaffnete in eigenen Fahrzeugen transportieren oder sie in ihre Krankenhäuser aufnehmen. Diese sinnvolle und bewährte Trennung von Militär und zivilem Einsatz ist bedroht. Und der Angriff kommt ausgerechnet vom deutschen Entwicklungshilfe-Minister. Es sieht auch für die Bevölkerung, mit der wir den Wiederaufbau von Schulen und Kliniken betreiben, nicht gut aus, wenn wir uns mit Soldaten, Gewehren oder gar Panzern blicken lassen. Man hält sich besser von denen fern. Wir sind bei unserer Arbeit immer ausgewichen, wenn wir bewaffnete Soldaten in der Nähe wussten. Auch das Militär – solange es denn da ist – tut sich keinen Gefallen. Es hat eine spezifisch andere Aufgabe. Entwicklungshelfer und Soldaten haben miteinander so viel gemeinsam wie Gustav mit Gasthof: gar nichts. Mit Berührungsangst hat das nichts zu tun. Ich hätte mir zum Beispiel sehr gewünscht, dass die Bundeswehr 1994 die Blauhelmtruppe verstärkt hätte, als es darum gegangen wäre, in Ruanda den Völkermord zu verhindern oder schleunigst zu beenden.
      Quelle: FR

      Anmerkung Orlando Pascheit: Was ist schon einem “Entwicklungsminister” zu erwarten, der bei seiner ersten Reise, ganz der frühere Fallschirmspringer, mit seiner alten Kommiss-Kappe vom Einzelkämpferlehrgang und einer verspiegelten Sonnenbrille durch Afrika tourte.

      Ergänzende Anmerkung WL: Man mag zwar humanitäre oder karitative Hilfe für unpolitisch oder gar naiv halten. Aber Neudecks eigentlich uralte Erkenntnis, dass humanitäre Hilfe und militärische Gewalt zur Annahme von humanitärer Hilfe Gegensätze sind, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, ist in Zeiten der Durchsetzung „andauernder Freiheit“ (Enduring Freedom) mit Krieg in Vergessenheit geraten. Schon die Römer hatte das Verb „pacificari“, das heißt „befrieden“. Und „befriedet“ wurde jedes Land, das sie in ihr römisches Imperium einverleibt und ihrer Herrschaft unterstellt hatten. Die Barbaren waren immer diejenigen hinter den römischen Grenzwällen – und so ist es heute nach 2000 Jahren wieder. Trotz aller Militärmacht ging auch das römische Reich unter.

  22. Barry Eichengreen: China muss die Notbremse ziehen
    Die halbherzigen Versuche, eine Überhitzung der chinesischen Wirtschaft zu stoppen, reichen nicht aus. Die einzige Chance, einen Kollaps zu verhindern, ist eine Neubewertung der Währung.
    Quelle: FTD

    Anmerkung Orlando Pascheit: Barry Eichengreen ist einer der renommiertesten Finanzwissenschaftler. Er sieht kein Ende der Krise, sondern befürchtet ein Double-Dip, d.h. eine zweite Abschwungphase.

  23. Griechen lassen Märkte aufatmen
    Die starke Nachfrage der Investoren nach neuen Staatsanleihen aus Griechenland hat für ein Aufatmen an den Renten- und Devisenmärkten gesorgt. Der am Devisenmarkt befürchtete Käuferstreik bei der ersten Anleiheemission Griechenlands in diesem Jahr ist damit ausgeblieben. Von der Rückkehr des Vertrauens der Investoren profitierten am Montag auch die Staatsanleihen anderer schwächer bewerteter Euro-Zonen-Länder. So verringerten sich auch die Risikoaufschläge irischer und italienischer Papiere im Vergleich zu zehnjährigen deutschen Bundesanleihen.
    Quelle: FTD

    Anmerkung Orlando Pascheit: Eigentlich sollte es ein Wirtschaftsblatt wie die Financial Times Deutschland besser wissen und nicht von der “Rückkehr des Vertrauens” faseln. Ist doch nichts anderes dahinter als die Spekulation auf eine sichere Rendite, denn wer glaubt schon daran, dass sich die EU, wenn es eng wird, heraushalten kann. Das wird dann hochoffiziell über den IWF ablaufen, der die Bedingungen vorgeben wird, und die EU wird den größten Teil der Finanzhilfe verantworten.

  24. Naturschützer küren die größten Skandalkonzerne
    Mit diesem Preis wird kein Unternehmen gerne geehrt: Kurz vor dem Wirtschaftsgipfel in Davos prämieren Naturschutzorganisationen die größten Skandalfirmen mit dem “Public Eye Award”. Eine Fachjury hat dafür aus über 40 Vorschlägen von NGOs die aus ihrer Sicht skandalösesten Unternehmen für die diesjährigen Shortlist ausgewählt. Für den “Global Award” nominierten die Umweltschützer den indischen Stahlgiganten ArcelorMittal , der das größte und zugleich dreckigste Stahlwerk Südafrikas betreibe, die Royal Bank of Canada als Hauptfinanzier des “ökologisch wie sozial fatalen” Ölsandabbaus in der kanadischen Provinz Alberta und den Energieversorger GDF Suez, der die “treibende Kraft hinter einem Großkraftwerk am brasilianischen Madeira-Fluss” sei, das gigantische Umweltzerstörungen und Massenvertreibungen der indigenen Bevölkerung zur Folge habe. Besonderes empört zeigen sich die NGOs über den Arzneimittelhersteller Roche , den sie wegen möglicher Organ-Experimente in China kritisieren. Der Konzern verwende bei medizinischen Studien in China “höchst wahrscheinlich” die Organe von Gefangenen, werfen Greenpeace und EvB dem Unternehmen vor.
    Quelle: SPIEGEL
  25. Mercedes: Kennzeichen D
    Das neue Mercedes-Team um Michael Schumacher setzt auf den Faktor deutsch. Ein bisschen Nationalstolz müsse schon erlaubt sein, angesichts des neuen deutschen Nationalteams in der Formel 1, erklärte Daimler-Vorstandschef Dieter Zetsche. Es gebe schließlich nicht viele deutsche Weltstars, „aber zwei von ihnen arbeiten 2010 zusammen: Michael Schumacher und Mercedes.
    Quelle: Tagespiegel

    Anmerkung Orlando Pascheit: Fehlt nur noch, daß der in das Steuerasyl Schweiz Vertriebene wieder nach Deutschland zurückkehrt.

  26. TV-Tip: Neues aus der Anstalt
    Urban Priol und Georg Schramm begeben sich zum 31. Mal auf ihre satirische Monatsvisite. Zur Kurztherapie werden in die Anstalt “eingeliefert”: Django Asül, Bülent Ceylan und Horst Evers.
    Dienstag, 26. Januar um 22:15 Uhr
    Quelle: ZDF

    Anmerkung Martin Betzwieser: Vor ca. vier Wochen „beschwerte“ sich ein Leser, wir hätten nicht auf die Sendung hingewiesen. Das soll uns nicht noch mal passieren.


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