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Titel: Am Ende des NSU-Prozesses
Datum: 23. Juni 2018 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Terrorismus
Verantwortlich: Redaktion
Wolf Wetzel setzt sich in seiner NSU-VS-Recherche mit dem nahenden Ende des NSU-Prozesses in München auseinander. Löst der Prozess das Versprechen der Bundeskanzlerin ein, der Staat werde alle Hintergründe dieser neonazistischen Mord- und Terrorserie aufklären?
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Die vorausgegangenen Beiträge finden sich hier:
Wahrscheinlich sollen die Superlative das mehr als Wenige überstrahlen, das dieser Prozess hinterlassen wird: Einen angeblichen „Jahrhundertprozess“, mit 250 Verhandlungstagen, 95 Nebenkläger, 60 Rechtsanwälten, 600 Zeugen, 250 Anträgen und 1.100 Bildern aus dem NS-Untergrund des 21. Jahrhunderts ….
Ganz sicher hilft dies, das ganz Offensichtliche zuzudecken, einfach zu vergessen. Denn es stand von Anfang an fest, was nicht Gegenstand dieses „Jahrhundertprozesses“ ist:
Wenn man diesen extrem kleinen Laufstall juristischer „Aufklärung“ nicht ausblendet, sondern sich ihn heute mehr denn je bewusstmacht, dann ist die mancherorts geäußerte Enttäuschung über den seit über fünf Jahre sich hinschleppenden Prozess überraschend und wissensabgewandt.
Fast nichts, was manche Beobachter mit Wut konstatieren, ist unerwartbar und gänzlich unangebracht gewesen:
Dass Neonazis vor Gericht schweigen, ins 1.000-jährige Koma verfallen, verwundert nicht und ist ihr Recht.
Dass Verfassungsschutzmitarbeiter als Zeugen genau dasselbe tun, hat nichts mit spontanem Gedächtnisschwund zu tun, sondern mit den Vorgaben, nichts oder noch weniger zur Aufklärung beizutragen. Es ist nicht das erste Mal, dass Geheimdienste für die Justiz nicht zur Verfügung stehen. Und wer sich jetzt empört, der sollte wissen, dass alle Regierungsparteien in allen Koalitionen und Konstellationen dies genauso wollen. Denn selbstverständlich hätten sie das Recht (Primat der Politik) und die Macht, die gesetzlichen Bestimmungen und Vorgaben für Geheimdienste so zu fassen, dass deren Aufklärungs- und Auskunftspflicht höher bewertet werden als deren geheimdienstliche Interessen.
Auch die Tatsache, dass die meisten Angeklagten schweigen, ist nicht besonders neonazistisch und respektlos, sondern ihr Recht, das eben auch Neonazis zusteht.
Dennoch werden viele auf den Ausgang des Prozesses schauen – schließlich gibt es keinen eigenen Schauplatz, der dieses Thema würdig darstellen würde. Im Wesentlichen haben die über fünf Jahre für Müdigkeit, Lethargie und Gleichgültigkeit gesorgt – wie bei einem Serienkrimi, bei dem man regelmäßig einschläft und nur aufwacht, wenn noch jemand neben einem sitzt oder ein Schreckschuss den Schlaf stört.
Der „Wille zur Tatherrschaft“
Dennoch steht eine der wenigen spannenden Fragen im Raum: Welches Urteil gegen das angeblich einzig lebende Mitglied des NSU, Beate Zschäpe, wird gefällt? Wie hoch wird es ausfallen?
Kann man Gründerin und Mitglied einer „terroristischen Vereinigung“ (nach § 129a) sein, ohne an den dem NSU zugeordneten Mordtaten beteiligt gewesen zu sein?
Kann man für Morde verantwortlich gemacht werden, weil man mit denen, die sie verübt haben, eine „Willensgemeinschaft“ teilt, weil man sie geistig, ideologisch und politisch unterstützt hat?
Als der § 129a, also die Strafverfolgung wegen Mitgliedschaft und/oder Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“ gegen die Linke eingesetzt wurde (anfangs nur gegen die RAF, dann gegen HausbesetzerInnen und autonomen/militante Gruppen, bis hin zu Tierbefreiungsaktionen), gab es noch heftigen Protest gegen diesen „Gesinnungsparagrafen“, bei dem es reicht, eine gemeinsame politische Idee zu teilen, um für irgendetwas verurteilt zu werden. In dieser Zeit wurde zu Recht darauf verwiesen, dass der § 129 a ein „Willensstrafrecht“ justiziabel macht, das ein markantes Merkmal für eine Diktatur ist, in der es nicht mehr darauf ankommt, eine konkrete Tat begangen zu haben. Es reicht vollkommen, eine falsche, eine staatsfeindliche Gesinnung zu haben, um verfolgt und verurteilt zu werden:
„Darin kündigt sich deutlich das Ende der bürgerlichen Rechtsgesinnung an, nach der gemeinhin nur Handlungen, nicht Gesinnungen, kontrolliert oder gar kriminalisiert werden dürfen.“ (Peter Brückner, 1984 schon heute, S.113)
Es ist gerade kein Zeichen linker Präsenz, diese Frage nach dem Willensstrafrecht nicht zu stellen – auch in einem Prozess, in dem Neonazis auf der Anklagebank sitzen.
Das einzige überlebende NSU-Mitglied ist laut Anklage Beate Zschäpe. Sie habe sich, so die Bundesanwaltschaft, an keinem der Tatorte aufgehalten, komme als Tatbeteiligte also nicht in Frage. Was sie zum Mitglied werden lässt, ist ihre Unterstützungsarbeit: „Sie hatte den Willen zur Tatherrschaft“, so die Oberstaatsanwältin Anette Greger. Eine etwas umständliche Umschreibung für ein Strafrecht, das bereits den „Willen“ als Tat(beteiligung) verfolgbar macht, was einen Rechtsstaat nicht verteidigt, sondern untergräbt.
Auch wenn also sich einige Linke und einige Rechtsanwälte darüber mokieren, dass die „Altverteidiger“ von Zschäpe Freispruch im Sinne der Anklage verlangen, dann sollte man den Neonazismus nicht dadurch bekämpfen, indem man selbst an diesem „Willensstrafrecht“ mitarbeitet!
Selbstverständlich liegt es juristisch nahe und ist im Sinne einer jeden Verteidigung, die Mithaftung für Straftaten, an denen man nicht beteiligt ist, zurückzuweisen – vorausgesetzt, es gäbe in diesem Land nach wie vor keine „politische (Gesinnungs-)Justiz“, worauf man bis heute großen Wert legt.
Mit raunigem Ton wird der Neonazin Beate Zschäpe vorgeworfen, dass sie in diesem Prozess geschwiegen, also von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Auch mit dieser Empörung unterschreitet man bestehendes Recht, anstatt es jedem zuzubilligen.
Dabei wird etwas wirklich Bemerkenswertes unter den Tisch gekehrt: Beate Zschäpe hat sich „eingelassen“ – einmal und zwar ausschließlich im Sinne der Anklage. Ausgerechnet an den größten Bruchstellen dieses Prozesses hat sie Einlassungen gemacht, die der Anklage zu Hilfe kamen.
Mit Blick auf den „einvernehmlichen Selbstmord“, den die beiden NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach am 4. November 2011 begangen haben sollen, erklärte Beate Zschäpe in ihrer Einlassung vom 9. Dezember 2015 Folgendes:
„Sie hätten miteinander besprochen und sich gegenseitig geschworen, sich niemals von der Polizei festnehmen zu lassen. Sie hätten sich geschworen, dass sich beide ‚die Kugel geben würden‘. Sollte dies, aus welchen Gründen auch immer, misslingen so sollte zunächst der eine den anderen und dann sich selbst erschießen.“ (NSU Watch-Protokoll vom 249. Verhandlungstag)
Auch im Fall des Mordanschlages auf zwei Polizisten in Heilbronn 2007 sprang sie der Bundesanwaltschaft zur Seite. Laut Anklage sollen die beiden toten NSU-Mitglieder den Mordanschlag alleine durchgeführt haben, obwohl die Mehrzahl der Indizien und Zeugenaussagen auf andere und mehr Täter verweisen. In ihrer Einlassung vom 9. Dezember 2015 gab Beate Zschäpe der Anklageversion den Segen:
„Am 25.04.2007 ermordeten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Polizistin Michele Kiesewetter und verletzten den Polizisten Martin Arnold schwer. (…) Als die beiden einige Tage später in die Wohnung zurückgekehrt waren berichteten sie davon, dass sie zwei Polizisten ermordet hatten. (…) Nachdem ich wieder einen vernünftigen Gedanken fassen konnte fragte ich nach dem Warum.
Ich erhielt die unfassbare Antwort, dass es ihnen nur um die Pistolen der zwei Polizisten ging. Sie seien mit ihren Pistolen wegen häufiger Ladehemmungen unzufrieden gewesen.“ (s.o.)
Obwohl fast alle Beate Zschäpe für unglaubwürdig halten, werden diese zwei „Einlassungen“ nicht in Zweifel gezogen, während man alles Andere (was 95 Prozent ihrer Erklärung ausmacht) für vorgetäuscht und gelogen hält. Für die Rettung der Anklage wird also selbst die Konsistenz der eigenen Beweiswürdigung über den Haufen geworfen.
Sicherlich wird hier das Urteil gegen Zschäpe eine Antwort auf die Frage geben, was ihre Unterstützungsarbeit der Gegenseite wert ist, ob ihre Beihilfe im Strafmaß berücksichtigt, also „gewürdigt“ wird.
Größtmöglichste Nichtaufklärung
Es gehört zum guten Ton, dass man vieles im Prozess und außerhalb des Prozesses für ungenügend, für lückenhaft hält und dies bedauert. Das Wort, das im Ranking ganz oben steht, heißt: zweifelhaft. Fast genauso viele konstatieren, dass vieles unaufgeklärt bleibt, bleiben muss – gerade auch das, was der Prozess von vorneherein ausgeschlossen hat.
Auch Annette Ramelsberger, die für die Süddeutsche Zeitung „432 Tage“ im Prozess in München verbracht hat, ist „mitgenommen von diesem Verfahren, nicht nur äußerlich.“ (SZ vom 16./17. Juni 2018)
In ihrem Fazit führt sie aus:
„Das Gefühl ist gewachsen, dass der Tod von zehn Menschen die Gesellschaft nur kurz erschüttert hat. Dass das Versprechen der Bundeskanzlerin, der Staat werde alle Hintergründe aufklären, unterlaufen wurde von Verfassungsschützern, die sich windelweich herauswanden und mit dem Segen ihrer Behörden großflächig schweigen durften. Dass Akten geschreddert wurden und die Verantwortlichen mit läppischen Disziplinarstrafen davonkamen.“ (s.o.)
Das Gefühl, weder gegen diesen neonazistischen Untergrund (und damit meine ich explizit nicht nur den „NSU“) etwas ausrichten zu können noch gegen das Trio aus Geheimdienst („Verfassungsschutz“), Innenministerium und Regierungsparteien ist überwältigend und allgegenwärtig – von Anfang an.
Wer die Machtverhältnisse in diesem Land kennt, die schwache Opposition (im und außerhalb des Parlamentes), der wundert sich nicht. Doch es gibt neben dieser erwartbaren Enttäuschung etwas, was mehr schmerzt als diese Ohnmacht des Zuschauens.
Es geht auch um eine Aggression, die sich gegen jene entlädt, die bei den allerorts geäußerten Zweifeln nicht stehenbleiben wollen. Um eine Form der Denunziation, die man von „dieser“ Seite nicht erwartet hat.
Wenn zum Beispiel der Autor Wolfgang Schorlau in seinem Krimi „Die schützende Hand“ den „einvernehmlichen Selbstmord“ in Eisenach 2011 für den unwahrscheinlichsten Tathergang hält:
„Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der offiziell geschilderte Tathergang des erweiterten Selbstmordes im Wohnmobil wirklich mit all diesen vorgebrachten Ausnahmetatbeständen abgespielt hat, ist also praktisch Null.“ (Denglers Auftrag, kontextwochenzeitung, Ausgabe 347 vom 22.11.2017)
Wenn man zum Beispiel die Anwesenheit des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme beim Mord in Kassel 2006 nicht als tragisch bis unglücklich abtut und man dem Vater von Halit Yozgat folgt:
„Entweder Andreas Temme hat gesehen, wer die Täter waren, oder er hat sie geführt, oder er selbst hat die Tat begangen.“
Wenn man beim Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 die zahlreichen Zeugenaussagen ernst nimmt, die von „vier bis sechs“ Tatbeteiligten sprechen, also den Vorwurf erhebt, dass (andere) Täter geschützt werden sollen, unter anderem dadurch, dass man mit den vierzehn Phantombildern nicht gefahndet hat, die mithilfe von Zeugen angefertigt wurden.
Wenn an allen drei aufgeführten Tatorten die Indiziendichte für einen anderen Geschehensablauf plausibel und überprüfbar ist, dann wäre nur eine Aufregung, eine Wut naheliegend: Warum wird dem nicht nachgegangen?
Tatsächlich dreht die Wut, die Aggression in eine andere Richtung ab. Ich möchte dies am Beispiel des Krimis „Die schützende Hand“ nachzeichnen.
Anlässlich der Ausstrahlung der Verfilmung besagten Krimis meldete sich Katharina König-Preuss zu Wort. Sie ist Landtagsabgeordnete für die Partei „DIE LINKE“ und Mitglied im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) zum NSU-Komplex in Thüringen. Ihre Warnung vor diesem Film ist alarmierend:
„Abseits einer gefühlt bereits Hunderte Male gehörten, längst widerlegten und nun noch verfilmten Verschwörungstheorie, die auch durch abgekühlte Blaustichromantik nicht aus ihrer Langeweile befreit wird, bleibt eine Erkenntnis: Dieser Film thematisiert ebenso wenig wie der Roman die entscheidenden Fragen rund um den NSU-Komplex.“ (Der Freitag, Ausgabe 44/2017)
Wenig später legte sie noch etwas ganz Wichtiges, ganz Entscheidendes oben drauf: Der Film, in dessem Mittelpunkt die Todesumstände in Eisenach 2011 stehen, lenke vom Wesentlichen ab. Er „relativiert und negiert durch Nicht-Thematisierung den zugrundeliegenden Rassismus.“ (s.o.)
Katharina König-Preuss kann den Film, die an- und durchgespielte Variante eines anderen Geschehensablaufs als Selbstmord für misslungen und für abgegessen halten. Das kann sie machen, auch wenn es nicht im Geringsten nachvollziehbar ist. Wenn es so viele „anerkannte“ Pannen bei der Tatortanalyse und Beweiswürdigung gibt, dann ist es doch nicht des Teufels, die Indizien aneinanderzulegen, die für einen Mord sprechen. Das Buch von Wolfgang Schorlau hat dies getan, mit einem ausgiebigen Dokumentenanteil, der Film hat dies in komprimierter Form gemacht.
Ihr Versuch aber, den Autor, den Film in die Ecke zu stellen, er thematisiere nicht Rassismus, er relativiere gar Rassismus, ist infam.
Es ist unnötig, einzelne Sequenzen im Film anzuführen, die genau dies tun und keinen Zweifel daran lassen, dass rassistische und neonazistische Lebenseinstellungen nicht nur den NSU geprägt haben, sondern auch das Verhalten zahlreicher Beamter. Beamte, die Neonazismus mehr betreut als bekämpft hatten – wie der V-Mann-Führer Andreas Temme zum Beispiel, der seinem Rufnamen „Klein-Adolf“ auch als V-Mann-Führer von Neonazis treu blieb.
Doch neben diesem billigen Motiv, den Film in die Tonne zu treten, ist etwas anderes fast noch wichtiger: Warum stellt sich Katharina König-Preuss mit ganzem Körpereinsatz vor die Tür, die gerade der ehemalige Vize-Präsident des Verfassungsschutzes Klaus-Dieter Fritsche am 18. Oktober 2012 als Zeuge vor dem NSU-Ausschuss in Berlin aufgestoßen hat:
„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind. Es gilt der Grundsatz ‚Kenntnis nur wenn nötig‘. Das gilt sogar innerhalb der Exekutive. Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, dass eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuss vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muss in unser aller Interesse sein.“
Dieser Mann, der von 1996 bis 2005 an der Spitze des Verfassungsschutzes stand, sagt damit sehr deutlich, dass es auch andere, staatsimmanente Motive gibt, um die Aufklärung des NSU-Komplexes zu verhindern beziehungsweise zu sabotieren. In diesem Fall geht es um die Rolle der V-Leute von Polizei und Geheimdiensten beim Zustandekommen und Gewährenlassen des NSU!
Katharina König-Preuss weiß, dass es dabei um einen teilverstaatlichten, neonazistischen Untergrund geht. Das ist nicht nur pointiert ausgedrückt, sondern das ganz vorsichtige Fazit, wenn man über 45 (bisher enttarnte) V-Leute im NSU-Netzwerk als Staatsanteil wertet. Was hier Klaus-Dieter Fritsche zum Staatsgeheimnis macht (woran sich alle Parlamentarier bis heute halten), ist der Umstand, dass V-Leute, die schwere Verbrechen möglich machen oder begehen, in eine „Staatshaftung“ genommen werden können.
Ist es also nicht für eine Linke essentiell, herauszufinden, welche aktive, einflussreiche Rolle staatliche Stellen und Politiken spielen? Oder spielt die eigene parteipolitische Rolle dabei eine so herausragende, dominierende Rolle, dass man gerade als rot-rote Regierung in Thüringen das hier angesprochene „Staatsgeheimnis“ in die eigene Staatsraison überführt?
Anders gesagt: Wenn Neonazis gezielt Kleinhändler mit migrantischem Hintergrund ermorden, dann ist das Rassismus. Wenn V-Leute in tatrelevanter Weise darin involviert sind, dann gibt es für die politische Führung dieser V-Leute noch mehr Gründe als Rassismus.
Auch Katharina König-Preuss kennt die jahrzehntelange, blutige Geschichte von Gladio. Wenn sie auch diese auf den „zugrundeliegenden Rassismus“ reduzieren möchte, dann ist das beschämend.
Es gibt also Motive, die eben nicht dieselben sind wie die der NSU-Mitglieder. Staatliche Instanzen, die den NSU so benutzen, wie man das mit den Neonazis gemacht hat, die man in „Gladio“ zusammengefasst hatte.
Kurzum, es geht um das Verständnis, dass es mehr zum NSU-Komplex zu sagen gibt, als dass sich über zehn Jahre ein paar mörderische Nazis, ein paar rassistische Polizeibeamte und ganz viele Serien-Zufälle zusammenfanden.
All das, was eine Suche nach anderen Schlussfolgerungen begründet, was Rassismus in ein Herrschaftsverhältnis einfügt, tut Katharina König-Preuss hingegen als „stumpfe ‚Die-da-oben‘-Tendenzen“ ab.
Ja, in der Tat, es geht auch im NSU-Komplex um die „Die-da-oben-Tendenzen“. Das nannte man in der Linken einst auch Staatsanalyse und Herrschaftskritik. Wer das heute so verächtlich abtut, staucht den Kampf gegen den Rassismus zu einem antirassistischen Bekenntnis zusammen.
Wolf Wetzel
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? 3. Auflage, Unrast Verlag 2015
Quellen:
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=44580