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Titel: Denkfehler, Mythen und Legenden bestimmen über weite Strecken die öffentliche Debatte und die politischen Entscheidungen

Datum: 22. Juni 2018 um 10:55 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Strategien der Meinungsmache
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Kern des Buches „Die Reformlüge“, das ich 2004 veröffentlicht habe, war die Beschreibung von 40 Denkfehlern, Mythen und Legenden, die das politische Leben damals bestimmt haben.
Die Debatte über Exportüberschüsse war der Anlass, zu überprüfen, ob der damalige Aufklärungsversuch etwas bewirkt hat. Vielleicht ein bisschen. Aber leider sind sehr viele der damals beschriebenen Denkfehler immer noch virulent, das meint: Sie prägen das Denken und die politischen Entscheidungen. Im Folgenden finden Sie eine Übersicht über die 40 Denkfehler und dann auch noch aus aktuellem Anlass den Text zum Mythos: „Wir leben vom Export“. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die in 2004 beschriebenen Denkfehler, Mythen und Legenden haben die Politik über weite Strecken bestimmt und sie tun das heute noch

Im Inhaltsverzeichnis der „Reformlüge“ wie auch auf dem Lesezeichen des Buches sind die 40 Denkfehler aufgelistet. Siehe hier:

Prüfen Sie anhand dieser Liste selbst die Relevanz für die Vergangenheit und für die Gegenwart. Die aus meiner Sicht prägenden Denkfehler habe ich rot markiert, jene, die heute zusätzlich immer noch sehr wirksam sind, sind grün markiert. Diese Unterscheidung allerdings ist nicht so bedeutsam wie die Tatsache selbst, dass Denkfehler in so weitem Maße unsere Wirklichkeit und unser Leben bestimmen. Ich gehe in Stichworten auf ein paar dieser markierten Denkfehler ein:

Zu Ziffer 1. „Alles ist neu“ und 2. „Die Globalisierung ist ein neues Phänomen“:

Das können Sie heute in vielerlei Äußerungen und Texten wiederfinden. Es ist heute genauso falsch wie damals.

Zu Ziffer 3. „Wir brauchen die permanente Reform“

Der darin enthaltene Missbrauch des guten Wortes Reform wird immer noch fortgeführt. So kann man heute in den Zeitungen lesen, dass von Griechenland erwartet wird, dass dort die “Reformen“ fortgesetzt werden.

Zu Ziffer 5, 6 und 7; sie gelten der Agitation zum demographischen Wandel und zur Altersvorsorge. Diese Denkfehler und Legenden waren von großer Relevanz für die Einführung der Riester-Rente und insgesamt den Schwenk zur Teilprivatisierung der Altersvorsorge. Auch von der neuen Koalition wird auf der Basis dieser Legenden verfahren. Die neue SPD-Vorsitzende Andrea Nahles hat heute wie in der Vergangenheit als Ministerin für Arbeit und Soziales an diese Mythen geglaubt, sie jedenfalls genutzt für ihre Unterstützung der Ausdehnung der öffentlich geförderten Privatvorsorge auf dem Feld der betrieblichen Altersvorsorge.

Zu Ziffer 16 „Wir sind national nicht mehr handlungsfähig“

Das ist ein sehr interessanter und relevanter Denkfehler, der dabei hilft, anderen Völkern und sich selbst die eigene Gestaltungsfähigkeit abzusprechen. Damit werden wir uns auf den NachDenkSeiten demnächst wieder einmal zu beschäftigen haben.

Zu Ziffer 17 „Wir leben vom Export“

Die Analyse dieses Denkfehlers wird unten komplett wiedergegeben. Der Text stammt aus dem Jahr 2004. Dort wird auch auf das eingegangen, was Gegenstand eines Beitrags vom vergangenen Dienstag war: das Denken in real terms, in güterwirtschaftlichen Größen.

Zu Ziffer 19 „Steigende Aktienkurse sind gut“

Die Fortdauer dieses Irrglaubens können Sie jeden Abend beim Börsenbericht der Tagesschau wiederfinden. Und nicht nur dort!

Zu Ziffer 20 „Wir können nur das verteilen, was wir vorher erwirtschaftet haben“

Das war der Hilfsmythos zur Verhinderung einer verteidigungspolitischen Debatte und ebensolcher Taten. Er wirkt immer noch.

Zu Ziffer 21 und 22 „Arbeit muss billiger werden!“ und “Die Lohnnebenkosten sind zu hoch“

Das waren wichtige Mythen, die die Einführung des Niedriglohnsektors befördert haben und die Agenda 2010 vorbereiteten und begleiteten.

Zu Ziffer 24 „Der Arbeitsmarkt ist zu unflexibel“

Dieser Denkfehler bestimmte den Inhalt der sogenannten Reformen über weite Strecken.

Zu Ziffer 25 „Wir müssen länger arbeiten“

Das war zusammen mit den Denkfehlern zur Demographie und Altersvorsorge relevant für die Erhöhung des Renteneintrittsalters.

Zu Ziffer 27 „Das Normalarbeitsverhältnis – ein Auslaufmodell“

Dieser Denkfehler hat die Arbeitsmarktpolitik bestimmt. Manche haben immerhin gelernt, heute den eingetretenen Zustand zu beklagen

Zu Ziffer 31: „Wer spart, baut Schulden ab“

Dieser Denkfehler sorgte für die ideologische Sperre gegen Beschäftigungsprogramme.

Zu Ziffer 32 „Mehr Eigenverantwortung, weniger Sozialstaat“, Ziffer 36 „Der Staat ist zu fett geworden“ und Ziffer 37 „Deregulierung und Privatisierung sind angesagt“

Das waren und sind die Denkfehler und Mythen, die den Abbau sozialstaatlicher Regeln und Leistungen und auch die Privatisierung und Deregulierung erleichtert haben.

Zu Ziffer 39 „Wir setzen auf die Zivilgesellschaft“

Das ist ein Dauerbrenner, der in modischen linksbürgerlichen Texten und Verlautbarungen permanent vorkommt.

Insgesamt ist das Ergebnis der Durchsicht bedrückend. Die Initiative zur Gründung der NachDenkSeiten und der Beginn der Arbeit an meinem Buch „Die Reformlüge“ fallen zeitlich und gedanklich zusammen. Beides ziemlich für die Katz, könnte man salopp feststellen. Aber wenn man die Liste vollständig durchprüft, kann man da und dort feststellen, dass einiges inzwischen gelernt wurde. Das gilt für vieles nicht, zum Beispiel für den Denkfehler Nr. 17 „Wir leben vom Export“.

Der Text zu diesem Denkfehler folgt hier, obwohl er im Jahre 2007 schon einmal auf den NachDenkSeiten nachzulesen war:

Auszug aus: Albrecht Müller, „Die Reformlüge.“ Seiten 212-215

Denkfehler 17: »Wir leben vom Export.«

Ob der Satz »Wir leben vom Export«, den wir so häufig gebrauchen, richtig oder falsch ist, das ist schwer zu sagen. Es hängt von den Umständen ab. Um das Problem und den dahintersteckenden Irrtum zu verstehen, ist es hilfreich, zwei Denkweisen kennenzulernen, mit denen Ökonomen wirtschaftliche Vorgänge darzustellen versuchen. Das ist zum einen die sogenannte güterwirtschaftliche Betrachtung oder das Denken in real terms, und das ist zum anderen das Denken in Geldgrößen oder in monetary terms. Zur Analyse mancher Probleme ist es hilfreich zu lernen, in real terms, also in güterwirtschaftlichen Größen, zu denken. Das muss man bewusst lernen, weil wir normalerweise im Alltag immer in Geldgrößen denken und auch wirtschaftliche Vorgänge danach bewerten. Man sagt zum Beispiel: »Ich verdiene 2000 Euro«, und man sagt nicht: »Ich verdiene so viel, dass ich mir soundso viel Brot und Würste und Kleider und ein Stück Auto kaufen könnte und so weiter.«

Auch in unseren außenwirtschaftlichen Beziehungen denken wir zuallererst immer an das Geld, an die Geldgröße. Wenn ein Land mehr exportiert als es importiert, dann ist das gut, so sagen wir, weil wir dann Devisen einnehmen oder Geldforderungen gegenüber Ausländern erwerben. »Wir leben vom Export«, so lautet deshalb die gängige Meinung.

Doch zunächst einmal ist dazu anzumerken, dass dieser Satz in seiner Schlichtheit nicht richtig ist. Wir leben von Gütern – von den Gütern, die wir hier produzieren, und von solchen, die wir importieren. Damit kleiden wir uns, damit fahren wir auf unseren Straßen herum; was wir an Nahrungsmitteln produzieren und importieren, essen wir. Das sind die Produkte, von denen wir leben. Das erkennt man, wenn man in real terms denkt.

Erst wenn wir fragen, wie wir das bezahlen, was wir essen, trinken, nutzen und als Dienstleistung in Anspruch nehmen, kommt die Frage auf, wo und wie wir dieses Geld verdienen. Das geschieht zu etwa 70 Prozent bei der Produktion von Gütern für unseren inländischen Markt und zu etwa 30 Prozent bei der Produktion von Gütern für den Export.

Nun produzierten wir im Jahr 2002 für 43 Milliarden US-Dollar mehr Güter, als wir zur Finanzierung der hier produzierten und konsumierten Güter und zur Finanzierung der Importe und Vermögenstransfers brauchten. Das heißt, wir hatten einen Leistungsbilanzüberschuss von 43 Milliarden Dollar. Darüber freuen wir uns in der Regel, weil wir sagen: »Wir leben vom Export, also ist es gut, wenn man Überschüsse erzielt, weil wir dann Devisen verdienen.« Dabei müssten wir beim zweiten Nachdenken eigentlich wissen, dass es ziemlich dumm ist, mehr Waren zu liefern, als man bekommt. Was nutzen uns die Devisen, die wir für den Saldo von 43 Milliarden US-Dollar bekommen? Was nutzen uns die Schuldscheine der Amerikaner oder der Russen? Wir essen keine US-Schatzanleihen und auch keine Dollars und schon gar keine Rubel. Wir essen Bananen und fahren Autos und kleiden uns mit Baumwolle, Wolle oder modernen Kunststoffen. Mit Dollars bekleidet sähen wir ziemlich nackt aus. Und selbst Gold zu essen ist nicht sonderlich appetitlich. Und doch glauben so viele an den Maßstab Geld.

In der üblichen Bewertung, wir lebten vom Export, steckt dennoch ein Körnchen Wahrheit, genauer gesagt, es stecken darin zwei Körnchen Wahrheit:

Zum einen führt der internationale Warenaustausch, also Exporte und Importe, dazu, dass man größere Serien und Stückzahlen produzieren kann. Somit steigt über diese Exporte und über die Importe (!) die Produktivität unserer Volkswirtschaft insgesamt, und zudem bekommen wir auf diese Weise überhaupt erst Güter, die wir in unserem eigenen Land gar nicht haben – das sind nicht nur Bananen, sondern auch Edelmetalle, Mineralöl und so weiter.

Zum zweiten hat der Satz, wir lebten vom Export, dann eine gewisse Berechtigung, wenn ein Land mangels Kapazitätsauslastung unterbeschäftigt ist und Arbeitslosigkeit herrscht, wie das bei uns zur Zeit der Fall ist. Wenn wir keine Exportüberschüsse hätten, stünde es um unsere Arbeitslosenrate und auch um die Schulden des Staates noch schlechter. Diejenigen, die für den inländischen Markt produzieren, sind für die Beschäftigung allerdings genauso wichtig. Das sind die Handwerker, die Dienstleister, die Fabriken, die Menschen im öffentlichen Dienst, in den Schulen, auf den Müllautos.

Also: Die Möglichkeit, durch eine Ankurbelung des Exports und die Erzielung von Exportüberschüssen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, ist nicht unbedeutend, aber erstens muss man dabei beachten, dass diese Beschäftigung immer nur ein kleiner Teil dessen ist, was insgesamt an Beschäftigung erfolgt und nötig wäre. Und zweitens muss man bedenken, dass eine solche Politik der Exportüberschüsse auf Dauer nicht zu halten ist. Die Exportüberschüsse eines Landes sind nämlich zugleich immer die Defizite anderer Länder. Auf Dauer kann aber ein Land letztlich nicht Leistungsbilanzdefizite hinnehmen, nur weil andere mit Leistungsbilanzüberschüssen ihre Beschäftigungsprobleme lösen wollen. Das ist auch für die gesamte Weltwirtschaft nicht gut. Ein Blick auf die Entwicklung der Leistungsbilanzdefizite der USA zeigt das. Wenn ein Land so massiv, wie die USA es in den letzten zehn Jahren getan haben, auf Kosten des Rests der Welt lebt, also immer mehr importiert als es exportiert, dann besteht die Gefahr einer massiven Spekulation gegen die Währung dieses Landes. In dieser Gefahr sind wir heute.

Es gibt also gute Gründe, Exporte und Exportüberschüsse neutraler zu betrachten und Einvernehmen darüber zu erreichen, dass möglichst alle Länder versuchen, über einen längeren Zeitraum ihre Leistungsbilanzen einigermaßen ausgeglichen zu halten. Das heißt in unserem konkreten Fall, dass wir endlich etwas tun müssen, um die Produktion für den inneren Bedarf anzukurbeln. Das geht nur, wenn im Inneren mehr Nachfrage entsteht und diese zusätzliche Nachfrage den Drang zum Export entlastet.

Es wäre daher ganz gut, wir würden uns angewöhnen zu denken: Wir leben von dem, was wir produzieren, und von dem, was wir importieren. Und wir finanzieren es mit dem Erlös dessen, was wir hier bei uns für den inländischen Markt produzieren, und dem Erlös dessen, was wir exportieren. Eine etwas differenziertere Betrachtungsweise tut auf jeden Fall gut.


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