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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Über die vergessenen „Neben“wirkungen von Hartz IV und Agenda 2010: Die Zerstörung der sozialen Sicherheit.
Datum: 11. Januar 2010 um 16:59 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Ein Freund berichtete mir gestern davon, seiner Tochter sei nach 18 Jahren Betriebszugehörigkeit die Kündigung „empfohlen“ worden, weil sie im letzten Jahr zu viele Krankheitstage hatte – verbunden mit entwürdigenden Drohungen. Einer unserer Hinweisgeber aus Thüringen hat seinen Arbeitsplatz im Süden wieder einmal verloren, obwohl er die Mühe der Mobilität auf sich nimmt. Fünfzigjährige verlassen nach der Kündigung heulend ihren langjährigen Arbeitsplatz. So geht es Tausenden. Hartz IV droht. Albrecht Müller
Die lange vergessene Hauptwirkung: Die Verbreitung von Angst vor dem Arbeitsplatzverlust
Lange Zeit wurde Hartz IV nur unter dem Aspekt der Wirkung auf Arbeitslose und frühere Sozialhilfeempfänger diskutiert. Wir haben in den NachDenkSeiten und in den Jahrbüchern, in „Machtwahn“ und „Meinungsmache“ immer wieder versucht, die Aufmerksamkeit auf die Wirkung dieser so genannten Reformen auf die noch arbeitenden und potentiell vor der Entlassung stehenden Menschen zu lenken. Jetzt langsam wird dies begriffen. Immerhin hat Anne Will gestern Abend von sich aus auf die Angst vor der Arbeitslosigkeit hingewiesen, die mit Hartz IV verschärft wurde. Siehe dazu auch die Hinweise von heute. Diese Angst, der Verlust der zumindest einigermaßen gewährten sozialen Sicherheit vor den finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit, hat in der Tat die Szene total verändert. Das war aus meiner Sicht auch so geplant. Hartz IV und andere Elemente der Agenda 2010 zielten darauf, der Arbeitnehmerschaft und ihren gewerkschaftlichen Vertretungen das Rückgrat zu brechen. Das ist über weite Strecken gelungen.
Eine ebenfalls vergessene Hauptwirkung: Rücksichtslose Arbeit“geber“ haben moralisch Oberwasser bekommen
Wer sich umhört und Einblick in die Verhältnisse zwischen Unternehmensmanagern und den Arbeitern und Angestellten eines Unternehmens gewinnt, erfährt, dass sich die Atmosphäre wesentlich geändert hat. Partnerschaftliche Verhältnisse sind Seltenheit geworden. „In“ sind heute der kaltschnäuzige Umgang, die Missachtung menschlicher Belange, Druck und Drohung. Dies gab es immer schon. Aber die Begleitmusik von Hartz IV hat die Atmosphäre verändert. Das Wort vom „Fordern“ hat quasi alle zu potentiellen Missbrauchern der Arbeitslosenversicherung und der sozialen Leistungen in diesem Bereich gemacht; die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe haben ihr übriges getan. Mit dem Anschein, dass „Fordern“ in jedem Fall notwendig sei, ist der Charakter des Anrechtes auf eine Arbeitslosenversicherung zerstört worden. Auch das verändert das Verhältnis von Chefs zu Mitarbeitern. Fordern, nur noch fordern, ist auch auf der Ebene der Betriebe zum Usus geworden.
Hartz IV und die Agenda 2010 haben in Kombination mit dem beschäftigungspolitischen Nichtstun besonders schlimme Auswirkungen
Vermutlich fällt es den meisten Teilnehmern sowie den Zuschauern und Zuhörern der öffentlichen Debatte um Hartz IV gar nicht mehr auf, dass mit dieser Reform der Schwerpunkt der Regierungsarbeit vom Kampf gegen Arbeitslosigkeit auf die Verwaltung der Arbeitslosigkeit verschoben worden ist. Über weite Strecken hat sich die Bundesregierung vor allem um die Technik der Reformgesetze und die bessere Verwaltung der Arbeitslosigkeit gekümmert. Probleme der Zusammenlegung von Arbeitsverwaltung und Sozialhilfe und die Organisation der Zumutbarkeit standen im Mittelpunkt der Debatte. Auch jetzt, beim Nachdenken über die Revision von Hartz IV, gelten die Gedanken vor allem neuen Regelungen zur Behandlung der Arbeitslosen und nicht dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für Beschäftigung.
Das ist schon sehr eigenartig. Denn die demütigende Wirkung der Entlassung in die Arbeitslosigkeit wird ja insbesondere dadurch verschärft, dass die Betroffenen Menschen heute kaum mehr eine Alternative finden oder diese nur mit immer weiteren Einkommensverschlechterungen für sich erkaufen können. Die Arbeitsmarktlage, die gekennzeichnet ist von einem dramatischen Ungleichgewicht zu Ungunsten der Arbeitnehmerschaft, verschärft die Wirkung der Hartz-Reformen.
Nötig ist eine Generalrevision, die beides enthält:
Die jetzt debattierten und vorgeschlagenen Revisionen deuten in die richtige Richtung, wenn die Verlängerung der Zahlung des Arbeitslosengelds I verlangt wird Sie sind aber nicht ausreichend, in jedem Fall fehlt die beschäftigungspolitische Komponente. Noch schlimmer: Trotz allen Schwadronierens über Wachstumsbeschleunigung stehen die Zeichen auf Absenkung öffentlicher Beschäftigung zum Beispiel; die Gemeinden geraten immer mehr unter den Druck mangelnder finanzieller Ausstattung; sie sparen an binnenmarktwirksamen Ausgaben und entlassen Leute statt Neue einzustellen. Es gibt hier keinerlei rationale Zusammenschau. Die Politik enthält prozyklische Elemente der Verschärfung des Beschäftigungsabbaus neben kleinen Versuchen des Beschäftigungsaufbaus.
Das hat viel damit zu tun, dass die politische Aufgabe der makroökonomischen Steuerung in Deutschland über einen Zeitraum von gut 20 Jahren nicht mehr gesehen wurde und auch jetzt nur halbherzig gesehen wird.
Wir weisen auch deshalb immer wieder darauf hin, weil auch in Kreisen, die sich fortschrittlich nennen, die Einsicht in beschäftigungspolitische Notwendigkeiten auf eine Fülle von Vorurteilen stößt: auf die Kritik an „Wachstums“politik, auf den Glauben an das vorhergesagte Scheitern des Kapitalismus, auf den Glauben, Vollbeschäftigung könne es nie mehr geben und so weiter.
Hartz IV sei ein wichtiger Systemwechsel. Man müsse Schröder dafür dankbar sein. Das glaubt man in konservativen wie in sozialdemokratischen Kreisen.
Der erwähnte Hinweis von Anne Will auf die durch Hartz IV geförderte Angst der noch Arbeitenden ist eine rühmliche Ausnahme in der öffentlichen Debatte. Ansonsten wird diese stark geprägt von einer seltsamen Mischung
Der typische, leidlich gebildete Mittvierziger und Zeit-Leser entnimmt sein Urteil über diese Reform genau diesem scheinbar aufgeklärten Zeit-Milieu: Was Schröder gemacht hat, sei richtig gewesen; leider wird ihm das noch nicht gedankt – so die hier verankerte mediale Sicht der Dinge.
Typisch auch die Reaktion einer altgedienten Sozialdemokratin aus ursprünglich linkem Milieu, gesegnet mit Erfahrung mit früheren Sozialhilfeempfängern: Jetzt endlich sei mit den Schröderschen Reformen die Arbeitsmarktförderung dieser Menschen möglich geworden.
Das sind jeweils Betrachtungen aus engem Blickwinkel – und jedes Mal artikuliert und verstärkt durch meinungsmachende Medien. Und in allen diesen Fällen bleibt außen vor, was Hartz IV und die Agenda 2010 unter den Arbeitnehmern insgesamt angerichtet hat. Siehe oben.
Deshalb halte ich das Studium von Vorgängen der „Meinungsmache“ für wichtig, wenn man die politischen Abläufe und die Irrwege der Entscheidungsfindung erkennen will. Der Kernsatz des Buches „Meinungsmache“ gilt auch für diese Betrachtung: Jene, die über viel Geld und publizistische Macht verfügen, haben erkannt, dass sie die politischen Entscheidungen bestimmen können, wenn sie die Herrschaft über das Denken der Menschen erreichen. Häufig reicht schon die Herrschaft über die Meinung der Multiplikatoren.
Diese Herrschaft muss gebrochen werden, wenn man eine wirkliche Revision von Hartz IV und Agenda 2010 erreichen und obendrein vermeiden will, dass die Reformen nach dem Muster von Hartz IV weitergehen.
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