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Titel: „Es wird zu Recht von einem neuen Kalten Krieg gesprochen“

Datum: 18. Juni 2018 um 8:25 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Euro und Eurokrise, Europäische Union, Finanzen und Währung, Interviews
Verantwortlich:

Andreas Wehr

Es gab eine Zeit, da sprachen Politiker immer wieder von einem „gemeinsamen Haus Europa“. Alle Völker dieses Kontinents sollten gemeinsam in dem Haus zusammenfinden. Das ist viele Jahre her. Andreas Wehr, der sich seit langem mit der Europäischen Union und mit ihrer Entwicklung auseinandersetzt, wirft im NachDenkSeiten-Interview einen kritischen Blick auf die EU unserer Zeit. Der Jurist warnt vor einer Institution, die sich hin zu einer Militärmacht entwickeln möchte und zugleich Russland als „traditionelles westliches Feindbild“ wiederbelebt. Ein Interview über eine EU, deren verantwortliche Köpfe viele Weichen falsch gestellt und scheinbar nichts dazugelernt haben. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Über viele Jahre haben Politiker gerne von einem „gemeinsamen Haus Europa“ gesprochen. Da war die Rede von Friede unter den Völkern Europas, von Wohlstand, von einer engen Gemeinschaft. In welchem Zustand befindet sich heute dieses „gemeinsame“ Haus?

Die Redewendung vom „gemeinsamen Haus Europa“ wurde vor allem von Michael Gorbatschow gebraucht und beschrieb die Ende der 80-er Jahre weitverbreitete Hoffnung, dass anstelle des Kalten Krieges eine europäische Friedensordnung treten könnte, in der das Haus Europa für alle auf diesem Kontinent lebenden Völker eine gemeinsame Heimstatt ist. Dies hätte aber die Auflösung der NATO und die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems unter Einbeziehung Russlands bedeutet. Dazu ist es nicht gekommen.

Was ist passiert?

Nach der Auflösung der sozialistischen Staatengemeinschaft in Osteuropa und dem Ende der Sowjetunion fiel der Westen bald wieder in das alte Schema der Konfrontation mit Russland zurück, spätestens mit Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins im Jahr 2000. Entgegen den anfänglichen Zusicherungen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten, nahm man ein osteuropäisches Land nach dem anderen in das westliche Bündnis auf.

Viele westliche Politiker würden die Entwicklung anders beschreiben.

Im Westen nimmt man leider die historisch berechtigten russischen Ängste vor Einkreisung und Invasionen nicht zur Kenntnis. Es ist ja nicht so, dass allein die Erinnerung an den heimtückischen deutschen Überfall 1941 dort im Alltagsbewusstsein überaus präsent ist. Tatsächlich war Russland in seiner Geschichte immer wieder das Opfer von Invasionen. Nach dem Knebelungsfrieden von Brest-Litowsk marschierten 1918 deutsche Soldaten bis vor die Tore von Petrograd. Wenig später fielen dann die Armeen nahezu aller imperialistischen Staaten in das Land ein, um die junge Sowjetunion zu erwürgen. Die Erinnerung an den Feldzug Napoleons, bei dem sogar Moskau von feindlichen Truppen erobert wurde, ist in dem großen Roman Krieg und Frieden von Leo Tolstoi aufbewahrt. Aber auch die verheerenden Invasionen der Tataren, Schweden und Polen in den Jahrhunderten zuvor haben im nationalen Bewusstsein tiefe Spuren hinterlassen.

Und heute stehen Truppen von NATO-Staaten an der russischen Westgrenze. Es wird daher zu Recht von einem neuen Kalten Krieg gesprochen. Wir erleben eine gefährliche Zuspitzung der Spannungen mit Russland. Die Europäische Union zeigt keine Bereitschaft, eine eigenständige, unabhängige Haltung einzunehmen. Die EU-Mitgliedsländer folgen vielmehr wie Vasallen der von Washington ausgegebenen Linie.

Sie setzen sich seit langem mit der Europäischen Union auseinander. Was war und was ist die EU überhaupt für ein Gebilde?

Bei der Bewertung der Europäischen Union (EU) sollte man von zwei Tatsachen ausgehen: Sie ist zum einen ein Vertragssystem, das souveräne Staaten miteinander abgeschlossen haben. Dafür haben sie zwar Rechte an gemeinsame Einrichtungen wie die Europäische Kommission, das Europäische Parlament bzw. den Europäischen Gerichtshof abgegeben mit der Konsequenz, dass die auf Unionsebene beschlossenen Rechtsakte bzw. die Urteile des Gerichtshofes direkte Wirkung gegenüber dem einzelnen Bürger entfalten. Das bedeutet aber nicht, dass die Mitgliedsstaaten damit zugleich ihre Souveränität aufgegeben haben. Sie sind vielmehr selbständige Staaten im vollen Besitz ihrer Souveränitätsrechte geblieben. Diese Stellung der EU-Mitgliedsländer ist mit der britischen Entscheidung, die EU 2019 zu verlassen, in Erinnerung gebracht worden.

Großbritannien hat sich für den Brexit entschieden.

Ja, und es ist das souveräne Recht eines Staates, sich in einer Union zu binden oder eben, wie im Fall des Brexits, diese Bindung wieder aufzugeben. Die EU ist ein Bündnis souveräner Staaten. Sie ist keine Union, wie sie die Vereinigten Staaten von Amerika darstellt, und sie wird sehr wahrscheinlich eine solche Union auch nie werden.

Was gilt es noch zu berücksichtigen, wenn wir wissen wollen, was die EU für ein Gebilde ist?

Mit ihr wurde in erster Linie ein Binnenmarkt geschaffen. Es ist daher bezeichnend, dass sie sich in den ersten Jahren ihrer Existenz schlicht „Gemeinsamer Markt“ nannte. Am Beginn stand die Schaffung einer Zollunion, das heißt die Abschaffung aller Binnenzölle und die Übertragung der Kompetenz für die Erhebung von Außenzöllen auf die Brüsseler Behörden. Anschließend konzentrierte man sich auf die Abschaffung der zwischen den Mitgliedsstaaten bestehenden nichttarifären Handelshemmnisse. Bei der weiteren Entwicklung des Binnenmarktes folgte man den Prinzipien der vier liberalen Grundfreiheiten: der Freiheit für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen. Diese Grundfreiheiten werden daher auch als die eigentliche Verfassung der Union bezeichnet.

Aber die EU geht noch weiter.

In der Tat. Mit der Unterwerfung von immer mehr Lebensbereichen in den Mitgliedsländern unter die Kontrolle des Marktes – etwa durch die Privatisierung von Post, Telekommunikation, Bahn, ja selbst von Bereichen der Bildung und der Gesundheit – ist zugleich die Zuständigkeit und damit die Macht der EU gewachsen, da sie überall die Marktbeziehungen regelt.

Der „Gemeinsame Markt“ wurde mit der Schaffung der gemeinsamen Währung Euro, die heute in 19 der 28 Mitgliedsländern gilt, vertieft. Da ein Markt auch einen gemeinsamen Rechtsrahmen benötigt, wurden der EU im Rahmen des Programms „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ justizielle und innenpolitische Zuständigkeiten übertragen. Schließlich ging man daran, auch die außenpolitischen Kompetenzen der Union zu erweitern. So wurde etwa ein eigener diplomatischer Dienst der EU geschaffen. Die Entscheidungen für die Einführung des Euro, über eine gemeinsame Justiz- und Innenpolitik sowie über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wurden auf dem historischen Gipfel von Maastricht 1992 getroffen. Damals befand sich die EU in einer Phase der schnellen Integration. In diese Zeit fällt auch die Aufnahme von nicht weniger als zehn neuen Mitgliedern im Jahre 2004, darunter acht mittelost- und osteuropäische Länder.

Wo sehen Sie derzeit die größten Probleme?

In meinem Buch Die Europäische Union habe ich die Entwicklung der EU in drei Phasen eingeteilt. 1950 – 1985: Aufstieg und Stagnation, 1985 -2005: Zeit der schnellen Integration und ab 2005: Rückschläge und Krisen. Mit dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags 2005 bei Volksabstimmungen erst in Frankreich und dann in den Niederlanden endete eine lange Periode der beschleunigten Integration, die mit der neoliberalen Wende Anfang der achtziger Jahre begonnen hatte. Seitdem erlebt die Union immer neue und zugleich immer tiefere Krisen.

Da wäre zum Beispiel die internationale Finanzkrise ab 2007.

Da zeigte sich, dass der Euro für viele Mitgliedsländer des Südens nur eine Schönwetterwährung war. Da für die internationalen Finanzmärkte die Existenz einer gemeinsamen europäischen Währung im Falle des Ausbruchs einer Krise die gemeinsame Haftung aller EU-Länder, und somit auch Deutschlands, für die Verbindlichkeiten aller Mitgliedsstaaten bedeutete, erhielten mit der Euro-Einführung auch ökonomisch traditionell schwache Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien so günstig Kredit wie nie zuvor in ihrer Geschichte.

Doch nach dem faktischen Zusammenbruch des internationalen Kreditsystems in der Weltfinanzkrise 2007 erwiesen sich diese Erwartungen an eine gemeinsame Haftung aller Eurostaaten als trügerisch. Während sich die südlichen Peripheriestaaten und ihre Banken auf den Kapitalmärkten nicht mehr refinanzieren konnten, ließen sich die über weiterhin hohe Liquidität verfügenden kerneuropäischen Staaten mit Deutschland an der Spitze viel Zeit, um die fehlenden Kredite durch Mittel aus dem dafür erst geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu ersetzen. Solche Hilfen waren und sind aber in Mittel- und Nordeuropa alles andere als populär, vor allem in Deutschland gibt es gegenüber diesen Transferzahlungen eine starke Opposition.

Was man aber nachvollziehen kann, oder?

Natürlich. Es handelt sich doch bei uns vor allem um einen Widerstand gegen die Folgen eines Projekts, von dem die breite Masse der Bevölkerung selbst kaum profitiert. Der Euro wurde in Deutschland vor allem von den Exportindustrien und dem Finanzkapital durchgesetzt. Dort wollte man unbedingt die gemeinsame Währung, um die eigenen Geschäfte fortan einfacher und risikosicherer in der EU betreiben zu können. Jetzt, wo es in der Eurozone Probleme gibt, ruft man in altbekannter Weise nach dem Staat und lässt die Steuerzahler teure Hilfsprogramme bezahlen. Das muss einfach zu Unmut führen.

Wir müssen festhalten: Die Eurokrise ist bis heute nicht ausgestanden. So ist ungewiss, ob Griechenland nach dem Ende des dritten Hilfspakets im August dieses Jahres auf weitere Hilfen durch die übrigen Euroländer angewiesen bleibt. In Spanien schwelt die Bankenkrise weiter und mit Italien ist jetzt ein weiteres Euroland zum Problemfall geworden.

Es gibt aber noch weitere Krisen, mit denen die EU es zu tun hat.

Ja. Zu nennen sind hier vor allem die Gegensätze in der Flüchtlingskrise zwischen den west- und den osteuropäischen Staaten und die überraschende Entscheidung der Briten, die EU 2019 verlassen zu wollen.

Was bedeutet der Brexit für die EU?

Den Ausgang der Abstimmung vom 23. Juni 2016 kann man in seiner Bedeutung kaum überbewerten. Der Brexit bedeutet schließlich einen Rückschlag für die Erwartung vieler, dass die EU unaufhaltsam um immer neue Mitglieder erweitert wird und damit irgendwann die Behauptung, Europa sei mit der Europäischen Union identisch, Realität wird. Der Brexit stellt daher für die EU eine strategische Niederlage dar, von der sie sich nur schwer erholen kann, wenn überhaupt.

Warum?

Mit Großbritannien verlässt das von der Bevölkerung und seiner Ökonomie her zweitwichtigste Land die EU. Was seine Wirtschaftskraft betrifft, so entspricht sie der der 20 schwächsten EU-Mitglieder. Eine überragende Rolle kommt Großbritannien heute auch in der Außen- und Sicherheitspolitik zu: Es ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, sein Militär dürfte das kampfstärkste der Union sein und es verfügt über eine bedeutende Rüstungsindustrie. So gehört Großbritannien zu den wenigen Ländern in der Welt, die in der Lage sind, Atom-U-Boote zu bauen.

Aus welchen Gründen haben die Briten für den Austritt gestimmt?

Die Gründe der Briten sind für die Zukunft der EU von großer Bedeutung. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Kampagne der Rechtspopulisten von der UK Independent Party (UKIP) den Ausschlag gab. Entscheidend war vielmehr, dass viele Briten aus Sorge um die eigene nationale Selbstbestimmung gegen die weitere Mitgliedschaft stimmten. Für sie war schlicht der Gedanke unerträglich, dass in Brüssel die Europäische Kommission und in Luxemburg der Europäische Gerichtshof weiterhin über ihre Köpfe hinweg entscheiden.

Auch Linke, etwa die sozialistische Tageszeitung Morning Star, stritten aus diesem Grund für den Austritt. Es ging daher im Brexit-Votum vor allem um die Bewahrung der durch die EU gefährdeten nationalen Selbstbestimmung. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch in weiteren Mitgliedsländern bald solche Diskussionen aufkommen, etwa in jenen osteuropäischen Staaten, die gegenwärtig von Brüssel und Berlin unter Druck gesetzt werden, gegen ihren Willen Asylbewerber aufzunehmen.

Wie sehen Sie die Entwicklung hin zu einer gesamteuropäischen Armee?

Die Bemühungen der EU, zu einer Militärmacht werden zu wollen, sehe ich mit Sorge, denn sie gehen einher mit höheren Rüstungslasten der Mitgliedsländer und sie führen notwendigerweise zu einer Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik der Union. Eine europäische Armee würde zudem bedeuten, dass der Westen, neben den USA, dann über eine zweite Militärmacht verfügen würde. Dies ist aber eine alles andere als gute Perspektive für die um Selbständigkeit und das Recht auf eine eigenständige Entwicklung ringenden Völker der Dritten Welt, schließlich versuchen auch die Länder der EU schon jetzt immer wieder, dort ihre Interessen mit wirtschaftlichem Druck, aber auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Zum Glück aber ist die Union bei ihrem Bemühen, auch militärisch eine weltweit agierende Größe zu werden, bisher nicht sehr erfolgreich gewesen. Die Entscheidung über den Einsatz der Armee gehört nun einmal traditionell zum Kern nationaler Souveränität und auf dieses Recht will und kann nun einmal kein Mitgliedsland verzichten. Ich glaube daher, dass es in absehbarer Zeit weder eine europäische Armee noch eine Militärunion, wie sie kürzlich von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen angekündigt wurde, geben wird.

Heute besteht in der EU ja nicht einmal Einigkeit in der Bewertung wichtiger internationaler Konflikte. Das zeigte sich erst kürzlich bei der Beratung im EU-Außenministerrat über den Angriff auf Syrien unter Führung der USA. Die beiden EU-Mitglieder Großbritannien und Frankreich hatten sich daran beteiligt, andere Länder, etwa Deutschland, zeigten „volles Verständnis“ dafür und eine dritte Gruppe, hierzu gehörten vor allem die neutralen Mitgliedsländer, nahmen diese Aggression lediglich zur Kenntnis. Das ist alles andere als eine geschlossene europäische Haltung in internationalen Fragen, die fortlaufend gefordert wird!

Wie geht die Politik vor, wenn es darum geht, die Europaarmee den Bürgern schmackhaft zu machen? Wird hier auch mit Feindbildern gearbeitet?

Wie schon beschrieben erleben wir gegenwärtig eine zu verurteilende Wiederbelebung des traditionellen westlichen Feindbildes Russland. Mit den von diesem Land angeblich ausgehenden Aggressionen werden sowohl die Stationierung von Bundeswehrkontingenten an der russischen Westgrenze als auch Forderungen nach höheren Ausgaben für die Verteidigung gerechtfertigt.

Als weitere Begründung für die forcierte Aufrüstung der EU-Mitgliedsstaaten wird angeführt, dass man bei der „Verteidigung Europas“ nicht mehr länger uneingeschränkt auf die USA unter Präsident Donald Trump setzen kann. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Gedanken mit den Worten zum Ausdruck gebracht: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei.“ Doch statt die EU zu einer Militärmacht zu entwickeln, sollten sich ihre Mitglieder vom abenteuerlichen außenpolitischen Kurs der USA absetzen und etwa auf Russland zugehen und einen Ausgleich mit dieser Macht suchen.

Wie sehen Sie die Berichterstattung der Medien, wenn es um die EU geht? Fehlt es an einem kritischen Journalismus?

Die Berichterstattung in Deutschland über die EU ist für gewöhnlich in einem nur sehr eingeschränkten Maße kritisch. Als Ganzes wird sie von den Medien so gut wie nie in Frage gestellt. Zwar stört man sich an der einen oder anderen ihrer Entscheidungen, etwa am Verbot herkömmlicher Glühlampen, an der Festlegung eines bestimmten Krümmungsgrades von Gurken und damit an einer „Regulierungswut“ von EU-Bürokraten. Doch diese Kritik bleibt an der Oberfläche, sie bezieht sich nicht auf den Charakter der EU als einer Organisation, die im Interesse des Großkapitals die auf der nationalstaatlichen Ebene erkämpften demokratischen Rechte beständig weiter aushöhlt.

Wie erklären Sie sich diese Berichterstattung?

In Deutschland sind Nationalismus und Europäismus eine enge Verbindung eingegangen. Zum Ausdruck kommt dies etwa in den Thesen des ehemaligen Innenministers Thomas de Maizière zu einer deutschen Leitkultur. Dort heißt es: „Als Deutsche sind wir immer auch Europäer. Deutsche Interessen ließen sich oft am besten durch Europa vertreten und umgekehrt könnte Europa ohne ein starkes Deutschland nicht gedeihen. Wir sind vielleicht das europäischste Land in Europa – kein Land hat mehr Nachbarn als Deutschland. Die geografische Mittellage prägte das deutsche Denken und die Politik.“ Mit anderen Worten: Die Befürwortung der EU ist deutsche Staatsräson.

Wo aber Erhalt und Ausbau der Europäischen Union zum nationalen Interesse erklärt werden, muss auch jedes Abweichen vom Pfad der Integration als Anschlag darauf gewertet werden, dies gilt erst recht für einen Austritt aus der EU. Damit geraten die Bemühungen einzelner Mitgliedsländer, ihre nationalen Rechte zu verteidigen, ins Visier. So wurden Griechenland und andere Krisenländer in dem Versuch, die ihnen aufoktroyierte Austeritätspolitik zu durchbrechen, zu Gegnern Berlins. Die osteuropäischen Länder werden vor allem von Deutschland unter Druck gesetzt, endlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Und Großbritannien soll für seine Entscheidung, die Union zu verlassen, bestraft werden.

Was ist Ihre Prognose? Wie geht es mit der EU weiter?

Gegenwärtig ist eine ganze Reihe von Büchern auf dem Markt, die reißerisch das Scheitern der EU bzw. ihr baldiges Ende beschwören. Ich bin vorsichtig, was solche Ankündigungen betrifft. Die EU befand sich bereits mehrfach in der Krise und sie hat sie bisher alle überlebt. Ich erinnere nur an das bereits erwähnte Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags. Auch damals läuteten bereits viele Medien der EU das Totenglöckchen. Aber aus dem Verfassungsvertrag wurde der Lissabonner Vertrag, und es ging weiter. Das europäische Integrationsprojekt ist den Herrschenden in Deutschland und anderen Mitgliedsländern einfach viel zu wichtig, als dass man es kampflos aufgeben würde.

Ohne Zweifel gibt es aber eine gewisse Ratlosigkeit über den weiteren Weg der Union. Die Verwirklichung des europäischen Traums von einer „immer engeren Union“ rückt in immer weitere Ferne.

Von Andreas Wehr erschien im Februar 2018 im Verlag PapyRossa das Buch „Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise“. Im Mai 2018 erschien in der Reihe Basiswissen des PapyRossa Verlags die 3., grundlegend aktualisierte und erweiterte Auflage seines Buches „Die Europäische Union“. Andreas Wehr ist Mitbegründer des Marx-Engels-Zentrums Berlin mez-berlin.de.
Mehr unter: andreas-wehr.eu


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