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Titel: Fake: Es gibt kein Handelsdefizit der USA gegenüber der EU
Datum: 16. Juni 2018 um 11:50 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Globalisierung, Steuerhinterziehung/Steueroasen/Steuerflucht, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Die US-Regierungen seit Barack Obama kritisieren die Europäische Union, sie verursache durch unfaire Methoden ein US-Handelsdefizit und die EU müsse das ändern. Doch das Defizit gibt es gar nicht, im Gegenteil. Das Defizit ist ein Fake, nachgebetet von Politikern und Alpha-Journalisten, die die globale Steuerflucht von Konzernen am Standort USA decken. Von Werner Rügemer.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Schon US-Präsident Barack Obama hatte die EU und insbesondere Deutschland immer wieder kritisiert: Das von ihnen verursachte US-Handelsdefizit sei weitaus zu hoch, die EU müsse ihre Wirtschaftspolitik ändern. Obamas Nachfolger Donald Trump wiederholt diese falschen Behauptungen und Forderungen und verschärft sie durch die Auferlegung von neuen Zöllen.
Trump beziffert das Handelsdefizit der USA gegenüber ihren Handelspartnern für das Jahr 2017 auf insgesamt 811 Milliarden US-Dollar, der größte Teil gegenüber China. Der zweitgrößte Teil davon mit 153 Milliarden entfällt nach der Polemik dieses besonders dümmlichen Demagogen auf die EU, und davon wiederum mehr als ein Drittel allein auf Deutschland. Doch bei gesamtwirtschaftlicher Betrachtung ergibt sich auf ganz einfache Weise ein gegenteiliges Bild. (Alle hier genannten Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2017)
Fake-Begriff „Freihandel“
Die Obama/Trump-Behauptung stützt sich auf das, was traditionell seit den Anfängen des Kapitalismus als Ware bezeichnet wird und Gegenstand klassischer Freihandelsverträge war, also auf industrielle Produkte wie Textilien, Kühlschränke, Maschinen, Motorräder, Autos, dann auch auf agrarische Produkte wie Baumwolle, Getreide, Mais, Reis, Obst, Fleisch und Getränke.
Tatsächlich entsteht bei den industriellen Produkten, die aus der EU in die USA exportiert werden, ein Handelsdefizit der USA und ein EU-Exportüberschuss: Das geht insbesondere von drei EU-Staaten aus, in denen die größte industrielle Produktion stattfindet – Deutschland, Italien, Frankreich, in dieser Reihenfolge. Deutschland erwirtschaftete mit dem Export vor allem von Autos, Maschinen und Spezialtechnik einen Überschuss gegenüber den USA von 63,9 Milliarden, Italien von 32,4 Milliarden und Frankreich von 11,2 Milliarden. Den Rest zu den 153 Milliarden steuerten die weiteren 25 EU-Staaten bei, zu denen ja z.B. auch noch Großbritannien mit einer gewissen industriellen Basis gehört.
Aber da fehlt etwas. Das hat auch mit dem heute ständig weiterverwendeten Freihandels-Begriff zu tun. NAFTA, TTIP, CETA und so weiter: Alle diese Abkommen werden als Frei“handels“-Verträge bezeichnet. Bei ihnen geht es allerdings zum wenigsten um industrielle und agrarische Produkte, bei denen die Zölle weitgehend abgeschafft oder weit abgesenkt wurden – schließlich gab es seit 1947 (GATT, WTO) zahllose Freihandels-Verhandlungen und -Verträge. Aber beim neueren Typ dieser Verträge, seit NAFTA (1994), geht es um das, um was es seit der damals voll in Fahrt gekommenen „Globalisierung“ im Wesentlichen geht: Um Investitionen, in der Fachsprache FDI genannt, Foreign Direct Investments, grenzüberschreitende Investitionen im Ausland. Deswegen sind ja die privaten Schiedsgerichte so zentral geworden: Bei denen geht es nicht um Zölle, sondern um die Sicherung von Investitionen.
Ausgeblendet I: Dienstleistungs-Produkte
So blenden die US-Vertreter und ihre Nachbeter ganz primitiv zwei längst zunehmend wichtig gewordene Bereiche der internationalen Wirtschaftsbeziehungen aus: Dienstleistungs-Produkte und Gewinntransfers. Und das sind die Bereiche, in denen die USA mit ihrem Wirtschaftsmodell und ihrer Art der Globalisierung seit Jahrzehnten die besonders aktiven Antreiber und größten Profiteure sind.
Beziehen wir also zunächst die Dienstleistungs-Produkte ein, die von US-Finanzakteuren wie den Wall Street-Banken, Kapitalorganisatoren wie Blackrock und Blackstone, von US-Unternehmensberatern, Wirtschaftskanzleien, Rating- und PR-Agenturen und, eigentlich sehr bekannt, von weltweit führenden Software-, Digital- und Internet-Unternehmen wie Amazon, Apple, Microsoft, Google, Facebook in der EU verkauft werden – dann sieht die Bilanz ganz anders aus: Dann haben die USA gegenüber der EU einen Überschuss von 51 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet, und die EU hat hier ein Defizit von 51 Milliarden US-Dollar. Sodass sich also das behauptete US-Defizit von 153 Milliarden im ersten Schritt schon mal auf 102 Milliarden reduziert.
Ausgeblendet II: Gewinn-Transfers von Konzernen
Gehen wir zur nächsten Blindstelle: Einen noch viel größeren Überschuss zugunsten der USA und ein noch viel größeres Defizit zulasten der EU produzieren die mehreren Dutzend US-Großkonzerne, zum Teil dieselben, die schon genannt wurden: Sie entziehen die Gewinne ihrer Niederlassungen in der EU hier weitestgehend der Besteuerung und transferieren einen Teil an ihre US-Zentralen: General Electric, IBM, Coca Cola, Microsoft, Amazon, Apple, Google, Starbucks und so weiter. Das ergibt immerhin 106 Milliarden US-Dollar mehr als in der Gegenrichtung.
So ist also das US-„Handels“defizit schon völlig dahingeschmolzen und hat sich in einen US-Überschuss und ein EU-Defizit von 4 Milliarden verwandelt. So einfach ist das.
Das ist so einfach, in faktischer und politischer und medialer Hinsicht, weil hier die vasallische Komplizenschaft der Europäischen Kommission und der führenden Regierungen der EU-Staaten sich auswirkt, allen voran der von CDU, CSU und SPD geführten deutschen Bundesregierungen, ob die Bundeskanzler Schröder oder Merkel heißen, ob die Finanzminister Steinbrück, Schäuble oder Scholz heißen und ob die EU-Kommissionspräsidenten Barroso oder Juncker heißen: Barroso wechselte zu Goldman Sachs, Juncker hat die Finanzoase Luxemburg aufgebaut und wurde von Merkel/Schäuble zum Präsidenten der EU-Steuerhinterziehungs-Industrie hochbugsiert. Die Finanzoasen-Staaten spielen hier nämlich eine entscheidende Rolle.
Die Steuerhinterziehungen (pardon, laut Price Waterhouse Coopers und Ernst & Young handelt es sich um „Steuergestaltung“) und Gewinntransfers von Konzernen mit Standort USA laufen nämlich fast ausschließlich über die großen EU-Finanzoasen: vor allem über die Niederlande, über Luxemburg, Großbritannien mit dem an die City of London angeschlossenen Dutzend der britischen Kanal- und karibischen Inseln und über das von der EU als Finanzoase aufgebaute Irland. Für die Brosamen der Verwaltungsgebühren der hunderttausenden an Briefkastenfirmen halten die Regierungen und Leitmedien die Klappe und käuen das gefakete US-Handelsdefizit wieder.
Ausgeblendet III: Gewinntransfers von Privatpersonen
Einen weiteren Bereich klammern die Fake-Wiederkäuer aus. Er ist vergleichsweise klein, gehört aber zum Gesamtbild und zeigt ebenfalls die ungleichen Verhältnisse.
Auch die Bilanz der sogenannten Sekundäreinkommen geht zugunsten der USA aus. Das sind die Finanztransfers von Privatpersonen, also vor allem von Unternehmern, Managern und gut bezahlten Mitarbeitern, Militärs und Diplomaten. Im hier behandelten Jahr überwiesen US-Amerikaner aus EU-Staaten 10 Milliarden US-Dollar mehr in die USA als EU-Bürger aus den USA in die EU überwiesen.
Dienstleistungs-Produkte, Gewinn- und sonstige finanzielle Transfers: Alle diese Zahlen kennen auch US-Präsidenten oder könnten oder sollten sie kennen oder sich von ihren zahlreichen einschlägigen Beratern sagen lassen. Die Zahlen werden ja im Auftrag der US-Regierung erstellt, Jahr für Jahr, vom Bureau of Economic Analysis, BEA, das zum Department of Commerce gehört. Die Tabellen sind über Internet in Sekundenschnelle einsehbar. Mithilfe dieser Tabellen konnte kürzlich das Münchner ifo-Institut leicht darlegen: Das behauptete US-Handelsdefizit gibt es nicht, vielmehr besteht – wenn man die oben genannten US-Überschüsse zusammenzählt – ein EU-Defizit von 14 Milliarden.
Ausgeblendet IV: Gewinn-Transfers von Aktionären
Die US-Statistikbehörde – und damit auch das ifo-Institut – ist allerdings nicht ganz auf dem letzten Stand. BEA kann nur die Daten sammeln, die nach den US-Gesetzen von den Unternehmen selbst veröffentlicht werden. Da fehlt einiges Wichtige aus gegenwärtigen Praktiken.
Die weithin unregulierten Finanzakteure wie Blackrock & Co, Blackstone & Co, die Hedgefonds, die Wagnis-Kapital-Finanziers, die Privatbanken, die elitären Investmentbanken wie Emmanuel Macrons ehemalige Bank Rothschild platzieren die Aktienpakete und Wertpapiere ihrer Kunden – auch die Aktien in Unternehmen mit Standort in der EU – hochprofessionell und flächendeckend in den zwei Dutzend Finanzoasen. Die letztlich wirtschaftlich Berechtigten sind dabei für Steuer- und Statistikbehörden nicht sichtbar. Da würde sich vermutlich beim Übergewicht der US-Investoren noch ein weiteres „Handels“-Ungleichgewicht ergeben.
„Handels“bilanz-Defizit mit China
Um den Mechanismus und die systemische internationale Verbreitung der Fakes zu verdeutlichen, sei kurz auf China eingegangen. Trump verteufelt auch die Volksrepublik wegen des angeblich von ihr ebenfalls verursachten US-„Handelsdefizits“. Es ist weitaus das größte, das die USA mit einem anderen Staat haben. 2017 betrug es 358 Milliarden US-Dollar. Da fehlen aber ebenso die Dienstleistungs-Produkte und die Gewinntransfers. Dazu ein ganz einfaches Beispiel: Allein die IPhones, die Apple in den Sonderwirtschaftszonen wie Shenzhen endmontieren lässt, kommen als chinesische Importe in die USA und erhöhen das US-Handelsdefizit um Milliarden.
Von wegen der dümmlichen, an seine getäuschten Wähler gerichteten Behauptungen des US-Präsidenten „China hat uns Millionen Arbeitsplätze gestohlen“ – Nein, es waren hunderte von US-Konzernen, gefördert von US-Regierungen, die seit Mitte der 1980er Jahre gierig Millionen Arbeitsplätze in den USA abgebaut und Niedriglöhne in China, Taiwan, Puerto Rico und anderswo genutzt haben und weiter zu nutzen versuchen, sich bereichern und die US-Arbeiter und die US-Volkswirtschaft und den US-Staat und andere Staaten verarmen, mithilfe von Komplizen. Da rührt auch der Demagoge Trump nicht dran, genauso wenig wie bei den Gewinntransfers.
Da müssen andere ran
Selbst die hier genannten offiziellen Quellen und Zahlen über die heutigen Wirtschaftsbeziehungen – verständlich für jedermann und jedefrau – kommen bei unseren „verantwortlichen“ Regierungs-Dödeln in Deutschland und auch beim schlauen Ex-Bankier Macron und bei der EU-Kommission nicht an.
Auch daran kann man die primitive, flächendeckende, bis politisch ganz oben reichende Verdummung erkennen, die heute in der westlichen Wertegemeinschaft vorherrscht. Die „Verantwortlichen“ in der EU müssten ihre komplizenhafte Vasallenhaltung aufgeben und könnten selbstbewusst auftreten. Warum tun sie es nicht? Da müssen andere ran.
Letzte Buchveröffentlichung des Autors: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur. 226 Seiten, Köln 2. Auflage 2017 (Papyrossa-Verlag)
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