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Titel: Dreikönigstreffen: „Jetzt regiert die FDP“

Datum: 7. Januar 2010 um 9:23 Uhr
Rubrik: Das kritische Tagebuch, FDP, Markt und Staat, Privatisierung
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Auch beim traditionellen Dreikönigstreffen der FDP gehörte es wieder einmal zu den Eigenheiten der Reden Westerwelles, dass er höchst selten Probleme konkret benennt. Das erspart ihm, sie zu analysieren und aus einer gründlichen Auseinandersetzung Lösungen abzuleiten. Seine rhetorische Welt ist die ständige Wiederholung von abgegriffenen Phrasen. Wo ihm seine Ideologie keine Sprüche anbietet, ist er sprachlos. Westerwelle ist eine Marketing-Figur für eine Ideologie, deren Scheitern wir soeben erleben. Das ist das Raffinierte und zugleich Gefährliche. Er redet von einer „geistig-politischen Wende“, dabei trimmt der politische „Leichtmatrose“ (Stoiber) nur die Segel für die Beibehaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Crash-Kurses. Wolfgang Lieb

Westerwelle geht in seiner neuen Rolle als Mitglied der Regierung bestenfalls implizit auf die anstehenden Herausforderungen an die deutsche Politik ein. Er spricht weder über die Finanzkrise, noch über die Wirtschaftskrise, noch darüber, wie die Regierung den Haushalt in Ordnung bringen will, das ist für ihn „Gegenwartsfixierung“:

„Wir wollen ein Deutschland, das sich nicht im Gestrüpp der Tagespolitik verheddert, sondern das sich mit langen Linien auf die Zukunft einstellt.“

Westerwelle versucht wie ein Schauspieler, der die immer gleiche Rolle schon seit Jahren spielt, seinem immer gleichen Text bei jedem Auftritt immer wieder neues Leben einzuhauchen. Westerwelle deklamiert in gespreizter Pose über „mehr Freiheit zur Verantwortung“, über die „Mitte“, über die „Lust am Wettbewerb“, über mehr Wachstum, mehr Export, über mehr „Chancen für das Neue“, über „mehr Zukunft wagen“, über eine „neue Haltung“, selbst die Phrase von der Leistung, die sich wieder lohnen müsse, durfte in Stuttgart nicht fehlen.

Das Raffinierte dabei ist, dass er die Regierungszeit von Rot-Grün und der Großen Koalition als ein „Jahrzehnt der bürokratischen Staatswirtschaft“ karikiert, dass er selbst die CDU und die Kanzlerin in eine sozialdemokratische Ecke stellt. Westerwelle tut also so, als sei nicht schon mit der Durchsetzung der Lambsdorff-Agenda unter den 16 Jahren Helmut Kohls und vollends mit der Agenda 2010 Schröders die einschneidendste marktliberale Wende in der Nachkriegsgeschichte vollzogen worden, und zwar mit allen Elementen, die nun Westerwelle als seine „geistig-politische Wende“ ankündigt.

Wurde etwa nicht unter dem Schlagwort „Eigenverantwortung“ die gesetzliche Rente ruiniert und die private Eigenvorsorge eingeführt? Wurde nicht etwa mit der Föderalismusreform, aus „Lust am Wettbewerb“ der kooperative Föderalismus zugunsten des wettbewerblichen Gegeneinanders abgeschafft, dessen folgen wir nun im Chaos der Bildungspolitik erfahren müssen? Wurden nicht aus „Lust am Wettbewerb“ die Löhne und die sog. „Lohnnebenkosten“ gedrückt, um unsere Nachbarländer nieder zu konkurrieren? Wurde nicht die gesamte Wirtschaftspolitik auf „mehr Export“ ausgerichtet und wurde nicht der Titel des Exportweltmeisters geradezu zum Staatsziel erhoben? Wurde nicht von den Kommunen, über die Länder die „Staatswirtschaft“ von der Post bis zu Schulbauten durch Privatisierung und PPP verscherbelt? Wurden nicht durch einen verantwortungslosen Unternehmensteuersenkungswahn die Staatsquote deutlich unter den Durchschnitt des Euro-Raumes gesenkt und dadurch erst die Staatschulden aufgetürmt? Haben Schröder und Clement – um nur ein Detail aus der Rede zu benennen – nicht die ethischen Grenzen gegen die Genforschung schon längst weitgehend geschleift?

Man könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen und man könnte Westerwelles Rede Punkt für Punkt durchgehen und man würde – wenn man die Verheißungen auf ihre Substanz reduziert – nur feststellen, dass Westerwelle nichts anderes anstrebt, als eine Erhöhung der Dosis der gescheiterten Medikation. Um sich als Wunderheiler aufzuspielen, gaukelt er vor, als habe er eine neue Medizin anzubieten. Und das ist das Gefährliche an dieser „geistig-politischen Wende“.

Anders als noch bei Kohls „geistig-moralischer“ Wende, braucht sich Westerwelles „geistig-politische Wende“ nicht einmal den Anschein von Moral zu geben, denn sie kann auch keine für sich in Anspruch nehmen. Denn Westerwelle und seine FDP müssen nicht lügen, um Wortbrüche zu begehen. Sie deuten schon die ursprüngliche Bedeutung der Worte so um, dass sie eine Lüge enthalten. So geht es etwa bei dem Slogan „Arbeit muss sich wieder lohnen“, keineswegs darum dass Arbeit wieder gut be-„lohnt“ wird, sondern ausschließlich darum, dass die Steuern und Abgaben auf den Lohn gesenkt werden.

Machen wir bei dem von Westerwelle vorgetragenen Gesellschaftsbild einmal die Probe aufs Exempel:

„Wir Liberale haben ein Gesellschaftsbild: wir vertrauen zuerst auf die Kraft der Bürger, und setzen erst dann auf den Staat.“

Hat denn der Sozialstaat ein anderes Verständnis, außer dass er hinzufügt, dass dort wo die „Kraft“ des einzelnen Bürgers nicht ausreicht, die Solidarität der Gesellschaft gefordert ist?

„Wir glauben, dass die Bürgerinnen und Bürger für sich selbst besser entscheiden können als noch so wohlmeinende Politiker es für sie je tun könnten.“

Das ist die klassische staatsfeindliche Kampfformel, wie sie schon von den Urvätern des Neoliberalismus Ludwig Mises und vor allem auch seinem Schüler Friedrich August von Hayek gegen jedes gesellschaftliche, soziale oder ökologische Anliegen ins Feld geführt wurde. Jeder Einzelne kenne seine Interessen und Bedürfnisse besser als jede kollektive Vernunft. Keine Regierung, auch keine demokratische, wisse mehr von den Nöten und Wünschen des Volkes, als die Individuen selbst. Der Staat ist das Biest, das ausgehungert werden müsse, so lautete der Schlachtruf der Reaganomics und des Thatcherismus. Der freie Unternehmer, der freie Konsument auf dem freien Markt lenken sich selbst. Die Ergebnisse sind bekannt.

Der Steuerzahler zahlt nach dieser individualistischen Ideologie seine Steuern nicht, damit der Staat eine ausreichende Versorgung mit öffentlichen Gütern, insbesondere im Bereich der Bildung und der Infrastruktur gewährleistet. Nein, sagt Westerwelle in einer Anleihe zu Sloterdijks Staat als bettelndem Almosenempfänger, „der Steuerzahler schenkt dem Staat etwas Geld“.

Und konsequenterweise fährt Westerwelle fort:

„Wir wollen eine freie und faire Gesellschaft.“

Die Voraussetzungen von Freiheit für den Einzelnen spielen bei ihm keine Rolle. Deshalb muss es auch nicht mehr gerecht, sondern nur noch fair zugehen. Und eine faire Gesellschaft braucht eben nicht mehr sozial gerecht zu sein oder gar auf Gleichheit zu achten, nein, „fair ist eine Gesellschaft, wenn sich Leistung lohnt.“ Und das „lohnt“ darf man hier durchaus als Geldwert ausdrücken. In Westerwelles Denkwelt gibt es also keine Skandale um die Entlohnung von Bankstern und es gibt nicht den leistungsbereiten Arbeitnehmer, der durch das reichlich „entlohnte“ Spekulantentum seinen Lohn gekürzt bekommt oder gar seinen Arbeitsplatz verliert. In seiner Denkwelt kommt es nicht vor, dass der Lohn den jemand durch seinen beruflichen Aufstieg bekommt, immer mehr von der sozialen Herkunft bestimmt wird.

„Fair ist eine Gesellschaft, in der Leistung sich lohnt: In der Schule, im Beruf, im Leben. Unfair ist eine Gesellschaft, die ihrer Jugend die Illusion des anstrengungslosen Einkommens vorgaukelt.“

In einer Gesellschaft, in der jedes fünfte Kind arm ist, in der weit über hundert Tausend Schulabgänger keinen Ausbildungsplatz haben und in Wartschleifen landen, in der selbst junge Akademiker von einem unbezahlten Praktikum zum anderen verwiesen werden, kann das Gerede von einer „Illusion eines anstrengungslosen Einkommens“ nur noch als blanker Zynismus bezeichnet werden.

„Fair ist eine Gesellschaft, in der jeder die Chance hat, durch gute Bildung seinen Weg zu gehen. Unfair ist eine Gesellschaft, die in der Bildung den Mangel verwaltet und junge Talente vergeudet.“

Dieser Phrase könnte man durchaus zustimmen, doch sie hat mit der Politik der FDP nichts zu tun. Wie FDP-Generalsekretär Lindner stolz verkündet, regiere seine Partei in allen großen Bundesländern, doch wo hat sie dort auch nur ein Stück weit dazu beigetragen, dass jeder seine Chance hat und dass dort in der Bildung nicht nur der Mangel verwaltet wird.

„Fair ist eine Gesellschaft, in der ein Leben harter Arbeit eine sichere Rente bringt. Unfair ist eine Gesellschaft, in der Rente zum Almosen wird, weil der Mut zur politischen Entscheidung fehlt.“

Man schaue sich dazu nur einmal das rentenpolitische Konzept der FDP an: Dort steht wörtlich, dass die gesetzliche Rente „nicht mehr die Aufgabe der Lebensstandardsicherung übernehmen, sondern nur noch eine erhöhte Basissicherung darstellen“ könne. Es ist doch vor allem die FDP die am liebsten alle sozialen Sicherungssysteme privatisieren und der Unsicherheit der Kapitaldeckung aufliefern würde.

Westerwelle hält an der beispielsweise unter Ronald Reagan grandios gescheiterten Ideologie, durch Steuersenkungen Wachstum zu erzeugen und damit die dafür in Kauf genommen Schulden refinanzieren zu können, fest. Auch da bleibt er der radikalsten Variante des Neoliberalismus treu.
Das unausgesprochene Ziel sollte dabei aber niemand aus den Augen verlieren: Es geht letztlich – wie damals – um das Aushungern des Staates. Mit der in neu in der Verfassung verankerten „Schuldenbremse“ steht ja das Instrument schon zur Verfügung, die Steuersenkungen auf Pump über die Abschaffung sozialstaatlicher „Staatswirtschaft“ wieder zu kompensieren. Deshalb braucht Westerwelle auch kein Wort darüber zu verlieren, wie er sich die Konsolidierung des Haushalts vorstellt. Der Zwang wird sich automatisch einstellen.

Dann wird endlich „Freiheit“ herrschen, dass die Bürgerinnen und Bürger selbst entscheiden können, wie sie ohne den Staat und ohne die solidarische Gesellschaft zurecht kommen. Jeder hat dann die Freiheit, unter der Brücke zu schlafen.

Überall dort, wo Westerwelle in seinem politischen Amt gefordert wäre, da schweigt er sich aus:
Kein Wort über den Koalitionskonflikt um die Vertriebenen-Präsidentin Steinbach. Nichts Konkretes zu Afghanistan. Ganze 17 Zeilen zur Außenpolitik, für die er Verantwortung trägt.
Überall dort, wo die neoliberale Ideologie keine Formeln mehr anbietet, ist Westerwelle sprachlos.


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