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Titel: Angstrepublik Deutschland – die Meinungsmache wirkt
Datum: 14. Juni 2018 um 9:35 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demoskopie/Umfragen, Medien und Medienanalyse, Strategien der Meinungsmache, Terrorismus
Verantwortlich: Jens Berger
Fragt man die Deutschen nach ihren Ängsten, erhält man ein surreales Bild. Laut einer groß angelegten Langzeitstudie der R+V Versicherung ist die Angst vor dem Terrorismus die mit einigem Abstand größte Angst der Deutschen. 71% fürchten sich davor. Kurz nach der Jahrtausendwende lag dieser Wert noch bei 21%. Dabei ist hierzulande doch die Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag zu sterben, verschwindend gering. Risikostudien beziffern sie auf 0,0000049%. Was ist passiert? Warum haben unsere Mitbürger so viel Angst vor einer Gefahr, die sich statistisch kaum ausdrücken lässt? Erstaunlich auch: Zur gleichen Zeit sind die „wirtschaftlichen Ängste“ auf ein Rekordtief gesunken. Die Angst vor Arbeitslosigkeit sank binnen eines Jahres gar von 43% auf 27%. Auch hier spricht die Statistik eine deutlich andere Sprache. Die Meinungsmache scheint zu wirken. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Dass Risiken meist irrational und verzerrt wahrgenommen werden, ist bekannt. Sinnbildlich sei hier der übergewichtige Raucher genannt, den die Angst vor dem Dioxin in seinem Frühstücksei treibt. Oft sind derartige Ängste Modeerscheinungen, die eng mit aktuellen Ereignissen zu tun haben. So haben wir nur dann Angst vor Dioxin in den Eiern, wenn derartige Meldungen mal wieder durch die Gazetten geistern. Wenn zwei Wochen später die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird, haben sich die Ängste wie durch magische Hand verflüchtigt. Nur wenige irrationale – also in diesem Falle nicht durch Zahlen erklärbare – Ängste schaffen es, sich so tief in die Seele einzunisten, dass sie zu einer „Dauerangst“ werden. Die Angst vor dem Terrorismus gehört mittlerweile dazu.
Von Jahr zu Jahr haben wir mehr Angst vor dem Terrorismus. Dies ist eigentlich erstaunlich, da die Anzahl der Todesfälle durch einen Terroranschlag in unseren Gefilden keineswegs steigt, sondern vor allem im langfristigen Vergleich sogar deutlich zurückgegangen ist. Doch dies spiegelt sich freilich nicht in den Themenschwerpunkten der Medien wider. Eine selbst durchgeführte Übersicht über die Talkshowthemen des letzten Jahres ergab, dass das in fast jeder zweiten Talkshow eigentlich nicht zusammengehörende, aber dennoch immer wieder miteinander vermischte Potpourri „Islam, Terror, Flüchtlinge, Integration“ thematisiert wurde. Ganze zehn Mal war der Terrorismus sogar das Aufmacherthema bei Will, Illner, Plasberg und Co. Kann es da ernsthaft verwundern, dass die Menschen Ängste aufbauen?
Fernsehen und Internet sind nun einmal für sehr viele Menschen eine Art modernes „Lagerfeuer“, an dem uns die Alten und Weisen, heute werden sie wohl eher Experten genannt, über Gott und die Welt berichten. Und da kann dann die reale Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag zu Schaden zu kommen, noch so gering sein – der mahnende Finger rückt rationale Bedenken in den Hintergrund. Und Politik und Medien reizen das Thema ja auch voll aus. Jeder bärtige Psychopath im syrischen Hinterland wird zum neuen Terrorfürsten hochgeschrieben und jeder Zivilversager mit stechendem Blick und Wut auf den Westen, der sein tristes Dasein in den Banlieues von Paris oder den Plattenbauten von Berlin gegen eine Kalaschnikow in Syrien eintauscht, wird zu einer Bedrohung der freien westlichen Welt erklärt. Klar, dass man da schon mal irrational reagiert und Angst bekommt. Und es ist ja nicht der Terrorismus. Auch die Angst vor „politischem Extremismus“, „Spannungen durch den Zuzug von Ausländern“ und der „Überforderung der Deutschen/Behörden durch Flüchtlinge“ gehören zu den größten Ängsten der Deutschen. Erstaunlich.
Rein rational müssten wir eigentlich viel eher Angst vor den Gefahren haben, die tatsächlich unser Leben gefährden. Alleine der Genuss von Tabak tötet Jahr für Jahr 121.000 Deutsche. 9.815 Menschen sterben jährlich bei Unfällen im Haushalt. Das Fensterputzen ist – rein rational betrachtet – millionenfach gefährlicher als der Besuch eines Weihnachtsmarktes. Pro Woche sterben in Deutschland mehr Menschen bei Haushaltsunfällen als seit Gründung des Heiligen Römischen Reiches zum Opfer von Terroristen wurden. Aber zugegeben – das Thema „Der Fenstersturz von Wanne-Eickel“ eignet sich nur sehr bedingt als Talkshowthema. Anders sieht es da schon bei den realen Gefahren aus, die eine direkte Folge des Neoliberalismus sind. Dazu zählen beispielsweise die multiresistenten Keime in den deutschen Krankenhäusern. Rund 30.000 bis 40.000 Todesfälle gehen hierzulande jährlich auf deren Konto und viele Menschenleben ließen sich ohne Probleme dadurch retten, dass im deutschen Gesundheitssystem simpelste Hygienevorschriften eingehalten werden. Haben Sie schon einmal eine Talkshow gesehen, in der die Fachpolitiker der großen Parteien einen „nationalen Sicherheitsplan“ gefordert hätten, um dieses tödlichen Problems Herr zu werden? Nein, natürlich nicht. Multiresistente Keime tragen weder Bart noch Turban, sondern sind Nebenerscheinungen der Profitmaximierung im Gesundheitssektor – ein denkbar ungeeignetes Feindbild für profitmaximierend denkende Politiker.
Während die Themenkombo Terror-Islam-Migration in den Talkshows omnipräsent ist, wird am modernen Lagerfeuer nur noch sehr ungern über soziale Themen gesprochen. In weniger als fünfzehn Prozent aller Talkshows des letzten Jahres wurden sozialpolitische Probleme, Lobbyismus, Privatisierung, Arbeitslosigkeit oder die Rente thematisiert. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Angst der Deutschen vor den damit zusammenhängenden Schicksalsschlägen auffallend sinkt. Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist mit 27% so gering wie nie zuvor – noch 2009 hatten 65% der Deutschen Angst davor, arbeitslos zu werden. Ebenfalls auf Rekordtief sind die Ängste vor einer steigenden Arbeitslosenquote und die Angst vor einer Wirtschaftskrise. Nur jeder zweite Deutsche hat Angst davor, im Alter zum Pflegefall zu werden. Sind die Ängste so gering, weil so wenig darüber berichtet wird? Oder wird so wenig berichtet, weil die Ängste so gering sind? Kritiker würden zu ersterer, Medienvertreter wohl eher zu letzterer Erklärung greifen und damit grandios danebenliegen.
Der Schriftsteller Thomas Pynchon sagte einst: „Wenn sie es schaffen, dass Du Dir die falschen Fragen stellst, brauchen sie sich keine Sorgen über die Antworten zu machen“. Solange wir Angst vor Terrorismus haben, spielt dies der Politik der Bundesregierung natürlich in die Karten. Die aktuellen Ängste der Deutschen sind systemkonform; sie zu nähren und zu mehren ist somit eine Aufgabe, die politisch durchaus gewollt ist. Etwaige „Kollateralschäden“, wie die Stärkung der AfD, die gekonnt auf der Welle dieser Ängste reitet, sind dabei offenbar opportun.
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