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Titel: Wir wollen nicht Alleinherrscher sein. Von Mohssen Massarrat.
Datum: 28. April 2018 um 11:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Aufrüstung
Verantwortlich: Redaktion
Der Schlagabtausch zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und dem iranischen Außenminister Javad Sarif auf der 54. Münchener Sicherheitskonferenz fand wieder einmal große mediale Resonanz. Manche Zeitungen haben ihn sogar als das Ereignis dieser international viel beachteten Tagung hochstilisiert. Während in der Berichterstattung den gegenseitigen Attacken der Kontrahenten großer Raum gegeben wurde, übersahen die Medien schlicht die eigentlich wichtige Botschaft des iranischen Außenministers Sarif: „Wir wollen eine starke Region. Was wir nicht wollen, ist ein Alleinherrscher in der Region zu sein.“ Diese Ansage stellt m. E. eine richtungsweisende Kehrtwende von der bisher gültigen Doktrin des Irans dar, die erste Macht, also „Alleinherrscher“, in der Region anstreben zu wollen. Seit der Ankündigung dieses Ziels im 25-Jahre-Perspektivplan 1996-2021 (nach iranischem Kalender 1375-1400) unter dem Präsidenten Rafsanjani entstanden bei Irans Nachbarstaaten tiefe Verunsicherung und großes Misstrauen gegenüber Iran, dem Land also, das wegen seiner territorialen Größe, seiner Bevölkerungszahl und seiner Ressourcen ohnehin eine Großmacht darstellt. Mit ihren großkotzig wie gänzlich überflüssigen Alleinherrschafts-Ambitionen lieferte der Iran den USA und derem militär-industriellen Komplex den handfesten Grund frei Haus, Irans arabische Nachbarländer zur Aufrüstung zu animieren. Von Mohssen Massarrat.
Das Wettrüsten in der Region wurde seit langem geschürt
Das Wettrüsten im Mittleren und Nahen Osten, das seit Mitte der 1970er Jahre andauernd angestachelt und auf eine immer höhere Stufe gehoben wird, stellt bei näherem Hinsehen die Wurzeln sämtlicher Konflikte und Kriegsverbrechen dar, die seit beinahe vier Dekaden in dieser Region stattgefunden haben. Es begann mit den sprunghaft steigenden Ölpreisen in 1973/74 und den daraus hervorgegangenen Devisenungleichgewichten. Für das neu entstandene Problem der Devisenüberschüsse der größten Opec-Staaten Iran, Saudi Arabien, Irak und anderen Ölstaaten einerseits und der Devisendefizite des Westens andererseits erfand man rasch die Lösung „Öl gegen Waffen“. Diese „Lösung“ sollte sich aber als ein äußerst lukratives Geschäft für die westliche Rüstungsindustrie erweisen, aber gleichzeitig auch als ein höchst kriegsträchtiges Mittel für den Mittleren Osten – mit über 2 Mio. Todesopfern, Hunderttausenden Kriegsflüchtlingen und mehreren Tausenden Mrd. US-Dollar Sachschäden. Zu allererst haben die USA ab 1975 das Schah-Regime im Iran – ihr wichtigster Verbündeter jener Zeit – mit den modernsten Waffen ausgerüstet und zur stärksten Militärmacht am Persischen Golf erkoren. Während Irans Rüstungsausgaben im Zeitraum 1975-1980 von 2.053 auf 6.229 Mrd. Dollar auf mehr als das Dreifache anstiegen, erhöhte der Irak seine Rüstungsausgaben im selben Zeitraum von 0.324 auf 2.080 Mrd. Dollar – also auf mehr als das Sechsfache. Dieses erste Wettrüsten erschütterte die inneren und äußeren Machtverhältnisse in der Region. 1979 wurde das Schah-Regime durch die Islamische Revolution gestürzt und dessen ihm ergebene Armee zerschlagen. Iraks Diktator Saddam Hussein nutzte das entstandene Machtvakuum und besetzte in einem Blitzkrieg 1981 die südiranische Ölregion. Der iranisch-irakische Rüstungswettlauf in den 1970er Jahren hat damit nicht nur den ersten acht Jahre andauernden Golfkrieg ausgelöst, sondern auch zwei weitere Golfkriege in 1991 und 2003 mit verursacht, die schließlich zum Sturz des irakischen Diktators führten. Auch die sich anschließende Rüstungseskalation und das iranische Atomprogramm sowie die Entstehung des „Islamischen Staates“ resultierten aus den vorausgegangenen blutigen Kriegsgeschehen im Mittleren Osten.
Dank Obama und Irans Reformkräften konnte zwar mit dem Iran-Atomabkommen ein erster wichtiger Schritt gegen die laufende Rüstungseskalation unternommen werden. Gleichzeitig hat Obama jedoch Saudi Arabien mit dem Verweis auf die militärische Überlegenheit Irans seit 2011 militärisch massiv aufgerüstet und dieses Land zum viertgrößten Waffenimporteur und dem Land mit dem höchsten Anteil von Militärausgaben am BIP in der Welt gemacht. Nach Angaben von SIPRI sind die Militärausgaben Saudi Arabiens von 29.5 Milliarden US Dollar in 2011 auf 80 Milliarden US Dollar in 2015 gestiegen. Eine solche Aufrüstung in diesen wenigen Jahren hat es in der Geschichte des Landes noch nie gegeben. Donald Trump setzte diese Rüstungspolitik seines Vorgängers fort und entfachte mit dem neuen, 100 Milliarden umfassenden Rüstungsdeal mit Riad im Mai 2017 einen neuen Rüstungswettlauf, der den zwischen Iran und Irak von vor über 30 Jahren bei weitem in den Schatten stellt. Dieser enthält das Potential, einen neuen Flächenbrand zu entfachen, der den Mittleren Osten für Jahrzehnte zurückwerfen und den bestehenden Kreislauf Öl und Blut gegen Waffen bis in die nächsten Jahrzehnte verlängern würde. Trump hat zudem auch das Iran-Atomabkommen radikal in Frage gestellt und den drei europäischen Staaten Großbritannien, Frankreich und Deutschland bis zum 12. Mai 2018 eine Frist gesetzt, das Abkommen mit dem Iran grundlegend zu modifizieren. Die von ihm angeprangerten Aspekte, die in das Abkommen zusätzlich aufgenommen werden müssten, umfassen vier Bereiche:
Erstens die Begrenzung der Reichweite der iranischen Raketen, zweitens den umfassenden Zugang der internationalen Atomenergiebehörde zu allen militärischen Einrichtungen des Irans, Unterlassung aller militärischen Aktivitäten und Einflussnahmen Irans in der Region und viertens die Annullierung der Begrenzung des Abkommens auf 10 Jahre. Viele Experten sind sich darin einig, dass der Iran derart weitreichende Forderungen Trumps wird kaum akzeptieren können. Eine Ablehnung dieser Forderungen oder gar die Aufkündigung des Abkommens seitens der Islamischen Republik hat Trump in seiner Iran-Strategie möglicherweise eingeplant. Tatsächlich würde er den inneriranischen Gegnern des Abkommens wirkungsvolle Argumente in die Hand geben, die dazu dienen, die Regierung Rohanis zur Aufkündigung des Abkommens zu drängen. Damit hätte die US-Regierung den handfesten Grund, ein Scheitern des Abkommens Iran in die Schuhe zu schieben und die internationale Öffentlichkeit auf einen Krieg einzustimmen. Die Gefahr einer Neuauflage des USA-Iran-Konflikts, der schon unter George W. Busch in 2006 beinahe zu einem Krieg gegen Iran geführt hätte, ist leider erneut gestiegen. Umso besorgniserregender ist, dass Trump sich mit der Ernennung von zwei erklärten Iran-Gegnern, John Bolton zum Chef des Nationalen Sicherheitsrats und Mike Pompeo zum neuen Außenminister, offensichtlich auf einen Konfrontationskurs zu Iran begibt. Auch Trumps unerwartete Kursänderung zu Nordkorea, so erfreulich diese auch ist, könnte dahingehend interpretiert werden, dass die US-Regierung sich demnächst schwerpunktmäßig auf einen Crash-Kurs mit Iran konzentrieren will. Denn es gibt keinen einzigen Staat in der Welt, der eine Konfliktentschärfung mit Nordkorea nicht unterstützen würde. Dagegen unterlassen Israel und Saudi Arabien, Hauptverbündete der USA im Mittleren und Nahen Osten, keinen Versuch, um die USA zu einer gewaltsamen Konfrontation mit Iran zu ermuntern.
Neuorientierung der iranischen Regionalpolitik
Vor diesem Hintergrund spricht einiges dafür, dass Irans Regierung nunmehr gegensteuern will und vor allen Dingen die EU gegen ein solches Szenario einbinden will. Die Korrektur des historischen Fehlers, die stärkste Macht in der Region werden zu wollen, scheint zu diesem Zweck ein intern abgestimmter erster Schritt zu sein. Bemerkenswert ist auch die Ansage des iranischen Außenministers, was Iran anstelle von „Alleinherrscher“ anstrebt. „Der Iran tritt für ein neues System kollektiver Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten ein“, fügte Sarif in der Münchener Sicherheitskonferenz hinzu[1]. Das sind also neue und im Grunde auch sensationelle Töne, die eine sinnvolle Perspektive eines dauerhaften Friedens in der Region eröffnet. Eine in ihrem Wesen wirkungsvolle Friedensperspektive ist m. E. auch die beste Reaktion auf Trumps Streben nach einem neuen Krieg in der seit vierzig Jahren durch Kriege, Zerstörung und über 2 Millionen Tote geschundenen Region. Diese Alternative würde ferner auch unter Beweis stellen, dass es gegen einen Krieg immer eine Friedensoption gibt, durch die die Kriegsstrategien, so hinterlistig sie auch geplant sein mögen, durchkreuzt und sogar in Friedensperspektiven umgelenkt werden können.
Die Rolle der EU und des Irans
Das Konzept einer gemeinsamen Sicherheit für die größte Krisenregion der Welt hatte schon immer seine Berechtigung. Heute ist sie zu einer zwingenden friedenspolitischen Aufgabe ersten Ranges geworden. Die Durchsetzung dieser Strategie bedarf allerdings einer internationalen Anstrengung. Die EU hätte dabei die Gelegenheit, diese durch einen der wichtigsten Staaten des Mittleren Ostens in die Debatte geworfene Option positiv aufzugreifen und mit allen Mitteln zu unterstützen. Sie hätte mit einem solchen Schritt vielleicht sogar auch die historische Chance, ihre Iran- und Mittelostpolitik auf neue und von den Vereinigten Staaten unabhängige Gleise zu stellen und die Grundlage für eine gegenüber den USA wirklich eigenständige Außenpolitik aufzubauen.[2] Alle gegenwärtigen Konflikte in der Region, der Syrien- und der Kurdistankonflikt, der Israel-Palästina-Konflikt und eine allgemeine Abrüstung aller Waffengattungen einschließlich der Massenvernichtungswaffen, als Gegenentwurf zum unaufhörlichen Wettrüsten, gehören in den Rahmen einer gemeinsamen Sicherheit und ökonomischen Kooperation im Mittleren und Nahen Osten. Nicht nur der Mittlere Osten, sondern auch Europa und der Weltfrieden insgesamt wären dann alle die Gewinner dieser konkreten Utopie.
Auch Iran kommt bei dem Aufbau des Konzepts der „Gemeinsamen Sicherheit“ im Mittleren Osten wegen seiner geostrategischen Rolle und Ressourcen eine herausragende Rolle zu. Eine Konflikt entschärfende und Krieg verhindernde Strategie aus der Region käme den kurz- und langfristigen Interessen der EU-Staaten allein wegen der Verhinderung weiterer Masseneinwanderungen von Flüchtlingen nach Europa sinnvoll entgegen. Hinzu kommen auch andere gravierende Vorteile für beide Seiten, wie beispielsweise die Intensivierung der ökonomischen Austauschbeziehungen, vor allem im Energiesektor, und bei der langfristigen Energiesicherheit für die EU. Aus diesen und vielen anderen Gründen kann erwartet werden, dass sich in den EU-Staaten die Position derjenigen durchsetzen würde, die gewillt sind, die gegenwärtige Politik der blinden Gefolgschaft von der US-Mittel- und Nahost-Politik zu lösen. Die langfristigen Resultate einer Politik der gemeinsamen Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten und die Vertiefung der ökonomischen und kulturellen Beziehungen mit Europa sind so reichhaltig und vielfältig, dass sich noch so große Investitionen in diese Richtung lohnen dürften.
Deshalb dürfte es bei der bloßen Ankündigung einer neuen Regionalpolitik der iranischen Regierung nicht bleiben. Irans Regierung sollte in diesem Zusammenhang auch nicht auf ein Wunder warten, zumal alle Kräfte in der Region mit ihren entschlossenen Handlungen in die gegenteilige Richtung aktiv sind. Entweder übernimmt Iran aktiv und entschlossen die Initiative für den Aufbau einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur und dabei auch die Verantwortung für die Durchsetzung dieser epochal einzigartigen Perspektive. Oder diese Perspektive wird nie zustande kommen. Die Vorbereitung dieses Weges schließt über vertrauensbildende Maßnahmen hinaus viele Dimensionen ein, von denen im Folgenden beispielhaft einige genannt werden:
Der Autor ist Professor i. R. für Politik und Wirtschaft der Universität Osnabrück und lebt in Berlin. Sein aktuelles Buch „Braucht die Welt den Finanzsektor . Postkapitalistische Perspektiven“ erschien 2017 im Hamburger VSA-Verlag.
[«1] Sarif ist hier mit der Verwendung des Begriffs „kollektive Sicherheit“ unpräzise, um nicht zu sagen, einem begrifflichen Fehler aufgesessen. Als „kollektive Sicherheit“ wird in der Wissenschaft der internationalen Beziehungen ein System für Staaten gleicher ökonomischer Strukturen und gemeinsamer Werte bezeichnet. Demnach entstanden die NATO und der Warschauer Pakt als klassische Systeme der kollektiven Sicherheit. Die Staaten im Mittleren und Nahen Osten teilen keine gemeinsamen Werte und sind auch ökonomisch unterschiedlich geprägt. Für diese Staaten eignet sich daher das Konzept „Gemeinsame Sicherheit“, das ein Sicherheitssystem zwischen Staaten mit unterschiedlichen Entwicklungs- und Wertemustern meint. Klassisches Beispiel dafür ist die von Michael Gorbatschow vorgeschlagene Sicherheitsarchitektur zwischen den europäischen Staaten und Russland (Das gemeinsame europäische Haus zwischen Lissabon und Wladiwostok).
[«2] Leider sind die EU-Regierungen gegenwärtig darauf fixiert und dem Irrglauben aufgesessen, ihre Unabhängigkeit im Verhältnis zu den USA durch weitere Aufrüstung und massive Belastung der europäischen Haushalte zu erreichen. Der 2%-Beschluss der Nato und damit eine Verdoppelung der Haushalte der EU-Staaten ist eher ein Konjunkturprogramm für die Rüstungsindustrie in Europa und vor allem in den USA. Militärisch würde sie dadurch als David hinter Goliath niemals von den USA unabhängig werden.
[«3] Dazu scheint die historische Erfahrung sinnvoll, dass viele Staaten der Region, einschließlich Iran, ihre Teilnahme an der Helsinki-Konferenz, zugesagt hatten, die gemäß einem UN-Beschluss im Dezember 2014 beginnen sollte. Das Projekt scheiterte jedoch daran, dass Israel und die USA in allerletzter Sekunde ihre Teilnahme verweigerten. Durch den problematischen UN-Beschluss zur Teilnahme aller Staaten als Vorbedingung war ein Vetorecht in den Beschluss eingebaut, das das Scheitern der Konferenz im Grunde vorprogrammiert hatte.
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