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Titel: Antje Vollmer: „Wer sich für Mäßigung im Umgang mit Russland einsetzt, muss sich warm anziehen“

Datum: 24. April 2018 um 8:05 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Interviews, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik
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Antje Vollmer

„Wir sehen eine ständige Aufrüstung – militärisch und mit Worten“, sagt Antje Vollmer im Interview mit den NachDenkSeiten. Die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages warnt eindringlich vor einer weiteren Zuspitzung des Konflikts mit Russland und kritisiert mit deutlichen Worten Politik, Medien, aber auch ihre eigene Partei. Wer sich als Pazifistin und Befürworterin einer Entspannungspolitik innerhalb der Grünen-Partei stark mache, komme einem „Alien von einem fernen Stern“ gleich. Ein Interview von Marcus Klöckner über die Entspannungspolitik der alten Bundesrepublik und die Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik durch die „Nachwende-Eliten“.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wer mit Antje Vollmer redet, merkt schnell: Der Grünen-Politikerin geht es nicht um falschen Alarmismus. Vollmer ist eine erfahrene Politikerin. Sie war von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und saß immer wieder als Abgeordnete der Grünen im Parlament. Doch was die promovierte Theologin seit einigen Jahren beobachtet, bereitet ihr große Sorgen. Die Stützpfeiler der Entspannungspolitik, die von Politikern der alten Bundesrepublik verankert wurden, um einen Krieg mit Russland zu vermeiden, wurden eingerissen – von den Nachwende-Eliten. Vollmer ist es ein Anliegen, dass endlich eine offene Diskussion über den Wert der Entspannungspolitik, wie sie unter anderem Willy Brandt geprägt hat, und die Konsequenzen einer neuen deutschen Außenpolitik, die auf einen harten Kurs setzt, geführt wird.

Dem folgenden Interview sind zwei Aufrufe vorangegangen, an denen sich Vollmer und andere bekannte Persönlichkeiten des Landes beteiligt haben. Im Dezember 2014 initiierte unter anderem Vollmer einen Aufruf, den mehr als „60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien“ unterzeichneten. Tenor: „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ Der Aufruf verhallte.

Dann, am 12. April dieses Jahres, richtet sich Vollmer wieder an die Öffentlichkeit. Zusammen mit Günter Verheugen (SPD), Edmund Stoiber (CSU), Horst Teltschik (CDU) und Helmut Schäfer (FDP) warnen die Politiker parteiübergreifend eindringlich vor der Gefahr „eines dritten und letzten Weltkrieges“. Doch den Appell, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte, griffen Medien nicht weiter auf.

Stehen wir vor einem Dritten Weltkrieg, Frau Vollmer?

Wir stehen vor einer extrem zugespitzten Situation zwischen dem Westen und Russland. In dieser Situation können kleinere Ereignisse oder Fehlinterpretationen von Ereignissen zu einer weiteren Eskalation führen, die dann – und das ist die große Gefahr – keiner mehr kontrollieren kann. Ich bin der Ansicht, dass eine falsche Bedrohungsanalyse genauso gefährlich sein kann wie eine echte Bedrohung.

Wie zeigt sich diese zugespitzte Situation?

Wir sehen auf beiden Seiten, dass es zu einem Aufbau von Feindbildern kommt. Es gibt eine oft hysterische Mobilisierung in den Medien. Real wird eine ständige Aufrüstung geplant und durchgezogen – militärisch und mit Worten. Bei diesem Gemisch ist es so, dass auch kleinere Anlässe oder Konfrontationen nicht mehr kalkulierbar verlaufen können – zumal die meisten früheren Gesprächsforen nicht mehr aktiv sind.

Sie sind eine erfahrene Politikerin. Wie erklären Sie sich, dass wir es überhaupt mit einer derart zugespitzten Situation zu tun haben? Hier muss es doch im Vorfeld fatale Weichenstellungen gegeben haben. Der Konflikt mit Russland ist nicht über Nacht entstanden.

Meine These ist, dass es um die Jahrtausendwende, spätestens aber im Jahr 2005, eine grundsätzliche Veränderung der deutschen Außenpolitik gegeben hat.

Was meinen Sie damit?

Aus den Ereignissen der Revolutionen von 1989 und dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die falschen Schlüsse gezogen. Der Westen fühlte sich als Sieger der Geschichte und träumte von weiteren Regime Changes weltweit. Die Verdienste der Entspannungspolitik wurden geleugnet. Der erhebliche Beitrag der Sowjetunion zu dem Wunder, dass diese Veränderungen in Europa weitgehend gewaltfrei verliefen, wurde allmählich vergessen.

Sie haben sich nun bereits zum zweiten Mal mit bekannten Persönlichkeiten in einem Aufruf in Sachen Russland an die Öffentlichkeit gewandt.

Ja, es gab bereits 2014 einen Aufruf aus Anlass der Ukraine-Krise. Damals haben über 60 prominente Persönlichkeiten unterschrieben. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals eine solche Liste gegeben hat: Ein ehemaliger Bundespräsident, ein ehemaliger Bundeskanzler, diverse Ministerpräsidenten, Bundesminister – alle aus den unterschiedlichsten Parteien – aber auch bekannte Personen aus Kunst, Kultur, Vertreter von Kirchen, Gewerkschaften, Agrarorganisationen. Damals haben wir eindringlich davor gewarnt, die Kriegsgefahr in Europa nur als Phänomen aus der Vergangenheit zu betrachten.

Wie war die Reaktion?

Viele haben über unseren Aufruf müde gelächelt – die Medien erfanden das Etikett der Russland-Versteher. ARD und ZDF haben gar nicht berichtet. Die Süddeutsche Zeitung hat – wie heute übrigens auch – gleich abgelehnt, den Aufruf abzudrucken oder auch nur als Nachrichtenfaktum zur Kenntnis zu nehmen. Sie war zwar als erste informiert, hat die eigentliche Pointe aber offenbar nicht begriffen.

Dieser Aufruf hatte also aus Ihrer Sicht neben seiner eigentlichen Botschaft auch noch eine andere, ziemlich weiterreichende Bedeutung? Worum ging es?

Es war eine kollektive öffentliche Warnung von Vertretern der alten Bundesrepublik und ihrer Zivilgesellschaft davor, die Grundkoordinaten der deutschen Außenpolitik, die einmal parteiübergreifend von Willy Brandt bis zu Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher Geltung gehabt hatten, leichtfertig zu verändern. Wir sahen, dass die Grundpfeiler dieser alten Außenpolitik Stück für Stück eingerissen wurden, die einmal darauf ausgelegt war, eine stabile Sicherheitsarchitektur in der Mitte Europas anzustreben und mögliche Konflikte zwischen Ost und West zu deeskalieren.

Dieser Aufruf von damals war also ein Aufstand der alten Bundesrepublik gegen die Elite der Nachwendezeit und ihre neue Agenda in der Außenpolitik – eine Außenpolitik, die sich zwar „menschenrechtsgestützt“ nennt und hohe Werte propagiert, aber mit ziemlich aggressiven Methoden daherkommt: mit Sanktionen, Regime-Change-Versuchen, doppelten Standards in der Frage von Völkerrechtsverletzungen etc. Wir erhofften uns also eine offene Debatte über die Frage, ob und warum sich die Grundkoordinaten der deutschen Außenpolitik geändert haben und ob das gut ist für das Land.

Eine Diskussion, die noch immer aussteht?

Absolut. Wir müssen uns die Frage stellen: Was heißt es für Deutschland, aber auch für die Europäische Union, was heißt es für unsere europäische Zukunft, wenn die Nachwende-Eliten weiter jene neue Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen, die wir gerade beobachten können? Nach mehr als zwanzig Jahren muss die Frage nach dem Nutzen und den Ergebnissen dieser Politik erlaubt sein. Welche Erfolge hat diese neokonservative Politik eigentlich aufzuweisen?

Wenn man sich anschaut, wie diese Politik durchgesetzt wird, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die, wie Sie sie nennen, „Nachwende-Eliten“ ziemlich gut positioniert sind.

Das sind sie. Sie haben die Meinungsführerschaft in der Politik, in den Medien, aber auch in fast allen Thinktanks.

Die offene Diskussion in den Medien scheinen sie aber zu scheuen.

Sie werden ja auch selten in Frage gestellt. Da ist es leicht, sich der Debatte zu verweigern. Sie stehen fast nie vor der Notwendigkeit, Rechenschaft darüber abzulegen, was ihr Politikkonzept in der real existierenden Welt an Erfolgen und Misserfolgen aufzuweisen hat.

Wie war das denn jetzt bei dem zweiten Versuch? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Wir haben natürlich aus den ersten Erfahrungen gelernt. Wir wussten im Vorfeld, dass es kein Interesse der Medien gibt, die Grundsatzdebatte zu führen. Daher haben wir gedacht, wenn wir es schon nicht schaffen, über einen Aufruf die Diskussion entstehen zu lassen, dann könnten wir versuchen, einen Artikel zu veröffentlichen. Schließlich haben die großen Printmedien alle eine Rubrik für „fremde Federn“, also die Möglichkeit, auch Gastautoren zu Wort kommen zu lassen. Darüber wollten wir in der aufgeheizten Atmosphäre der Skripal-Affäre wenigstens die neue Bundesregierung erreichen.

Sie haben es wieder bei der Süddeutschen Zeitung versucht. Beim Leiter des Ressorts Außenpolitik, also bei Stefan Kornelius.

Das haben wir. Aber die Antwort war für uns, sagen wir: befremdlich.

Was wurde gesagt?

Die Veröffentlichung des Artikels wurde abgelehnt, weil wir fünf Autoren waren. Das sei zu viel.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat den Artikel (hinter einer Bezahlschranke) dann aber einige Tage später doch abgedruckt. Gerade mit Herrn Teltschik, dem früheren Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, hatten Sie jemanden dabei, der exzellent vernetzt ist. Eigentlich könnte man doch erwarten, dass es, wenn fünf Persönlichkeiten wie Stoiber (CSU), Verheugen (SPD), Teltschik (CDU), Schäfer (FDP) und Sie (Grüne) die Tür zu der Diskussion aufstoßen möchten, es auch funktionieren sollte. Wie erklären Sie sich, dass es Ihnen einfach nicht gelingt, trotz ihrer beiden Vorstöße in die Öffentlichkeit, die Debatte zum Laufen zu bringen?

Ich beobachte einen starken monokulturellen Einheitsdruck aufseiten der politisch Verantwortlichen, insbesondere in Deutschland. Angela Merkel ist übrigens eine Meisterin, wenn es darum geht, eine Einheitsfront zu bilden. Das versteht sie als ihre Aufgabe in der EU, wo sie dann die Rolle der Riegenführerin übernimmt. Sie hat geradezu ein Gen im Bilden von übergroßen Koalitionen. Dahinter steckt viel Angst, dass alle sich einordnen müssen, weil sonst der ganze Laden auseinanderfliegt.

Es gibt also einen enormen Binnendruck, der Dissens sehr schwer macht. Und immer gibt es zur Abschreckung einen Bösewicht, der außen stehen muss: mal Putin oder Orban, mal Tsipras oder Puigdemont. Das gehört zur Machtmethode: innerer Anpassungsdruck bei drohender Ausgrenzung. Bei diesem Vorhaben, die Einheit Europas mit Druck herzustellen, gibt es eine starke mediale Unterstützung. Ich beobachte in der Berichterstattung zum Beispiel eine extreme Feindbildprojektion auf Putin und Russland, die irrationale Züge trägt und weit über die notwendige und berechtigte Kritik hinausgeht.

Woher kommt diese Berichterstattung?

Auf jeden Fall hat sie sehr viel mit Unkenntnis zu tun. Man interessiert sich kaum ernsthaft für Russland. In manchen Medien scheint das Bild vorzuherrschen, das heutige Russland sei die gradlinige Fortsetzung der Sowjetunion, ja geradezu die Fortsetzung des Stalinismus. Stereotype Denkmuster und Vorurteile werden nicht mehr überprüft. Es gibt keinerlei offene Neugier auf das heutige real existierende Russland. Es reicht, wenn man Memorial, Pussy Riot und den Oligarchen Chodorkowski kennt.

Dass es im Kreml immer eine Fraktion gab, die stark nach Westen orientiert war, spielt in dieser Berichterstattung keine Rolle. Erschreckend ist, dass dieses fehlende Wissen über Russland nicht nur in den Medien zu finden ist. Wirkliche Russland-Experten im Auswärtigen Amt sind im Vergleich zu früheren Jahren auch sehr selten geworden.

Sarkastisch angemerkt könnte man sagen: Ein Journalismus und eine Politik, die ein wirkliches Erkenntnisinteresse an Land und Menschen haben und bereit sind, Russland aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen, wären beim Aufbau des Feindbildes eher hinderlich.

Das kann durchaus so sein. Wissen macht das Leben immer schwieriger. Dennoch: Es gibt einen großen Unterschied darin, wie die Menschen hier im Land das Verhältnis zu Russland wahrnehmen und sich wünschen und wie es die Eliten von Politik und Medien einschätzen.

Was meinen Sie?

Ein Beispiel: Vor kurzem gab es dieses Unglück in Sibirien, einen Kaufhausbrand mit vielen Toten – insbesondere mit vielen toten Kindern. Die Berliner Bevölkerung legte in großen Mengen Blumen und Teddybären vor der russischen Botschaft nieder und stellte Kerzen auf. Dieses Bild habe ich nirgendwo in der Berichterstattung gesehen. Als die Medien über das Unglück berichteten, konzentrierten sie sich auf die Schlamperei, die wieder mal typische russische Desorganisation. Sie berichteten, dass Putin sich mit den Trauernden nur in einem exklusiven Rahmen treffe, sich nicht der öffentlichen Kritik stelle. (Überschrift FAZ: Schönreden, verschweigen, vertuschen).

Die große Politik hat an diesem für die Russen sehr schmerzlichen Tag die russischen Diplomaten aus dem Land ausgewiesen – sie war vor allem mit der Strafe für die Skripal-Affäre beschäftigt und damit, dass alle Länder mitmachen mussten. Am Abend dieses Unglückstages gab es in Berlin in der russischen Botschaft ein Gedenkkonzert. Nicht ein einziger aktiver Politiker aus dem Bundestag besuchte die Veranstaltung. Matthias Platzeck und ich waren dort. Sonst niemand.

Waren Journalisten dort?

Nein, ich habe niemanden gesehen, nicht am Zaun und nicht drinnen.

Die Beispiele, die sie angesprochen haben, führen wieder zu der Frage, die wir vorhin kurz diskutiert haben, nämlich, wie es überhaupt zu der zugespitzten Situation kommen konnte.

Ich glaube, die Wurzeln liegen in der Euphorie der Nachwende-Zeit. Politiker und Journalisten verließen und vergaßen ihr Kerngeschäft und ihre Profession und wurden selbst Aktivisten – zum Beispiel, als sie die Umweltsünden bei der Olympiade in Sotchi anprangerten und fast zum Boykott der Spiele aufriefen oder als sie persönlich mitten auf dem Maidan standen und dachten: Es ist wieder so weit! Und diesmal sind wir live dabei!

In einem Interview gegenüber dem Hessischen Rundfunk haben Sie gesagt, dass die Berichterstattung zum Fall Skripal Züge einer vorbereitenden Kriegspropaganda trägt. Das sind harte Worte.

Wenn Journalisten selbst zu Aktivisten werden, haben sie durch die Ausstrahlung ihres Mediums eine zusätzliche Macht über die öffentliche Stimmung. Karl Kraus hat das explizit erforscht in den „Letzten Tagen der Menschheit“, als er die vor 1914 langsam ansteigende Aggressivität in den öffentlichen Medien als Vorbereitung und Gewöhnung an kriegerische Auseinandersetzungen interpretierte.

Wir müssen uns daher dringend die Frage stellen, wie wir wieder zu einem Qualitätsjournalismus kommen, dem es gelingt, sich auch mit der (vermeintlich!) guten Sache nicht gemein zu machen, sondern die Distanz zu wahren, ohne die kein Urteil möglich ist. Wir brauchen wieder Journalisten, die in der Lage sind, ihre eigenen Emotionen zu hinterfragen und sich selbst in ihrer Aktivistenrolle zu bremsen.

Wie sieht es denn mit den großen Polit-Talkshows im Fernsehen aus? Was fällt Ihnen da auf?

Sie sind ein Spiegelbild der Berichterstattung. Es finden sich kaum noch Gäste, die versuchen, die russische Seite kenntnisreich zu erklären oder zu verstehen. Das Etikett „Russland-Versteher“ ist längst ein Grund geworden, nicht hinzuhören. Die Leute, die diese Rolle übernehmen, also bereit sind, öffentlich Russland zu verstehen, können Sie an einer Hand abzählen.

Außerdem müssen sie für diese ungeliebte Rolle echte Dissidenten-Qualitäten haben. Sie stehen ziemlich allein in der Landschaft. Matthias Platzeck wird in der SPD alleingelassen, Frau Krone-Schmalz wird vom Journalismus diffamiert, General Harald Kujat hat wenig Unterstützung von den Militärs. Die Konzernchefs fürchten Sanktionen. Das heißt, wer sich für Mäßigung im Umgang mit Russland einsetzt, wer gar Fehler auf der eigenen Seite, im eigenen Lager, offen anspricht, muss sich warm anziehen.

In Ihrem Aufruf haben Sie geschrieben, dass die Erinnerungen an den Weltkrieg verblassen. Fehlt es Journalisten und Politikern mittlerweile an dem Verständnis, was ein großer Krieg für alle bedeuten würde?

Kriegserfahrungen sind ja Traumata, die man niemandem als Vorzug anrechnen sollte. Aber es stimmt: Beide deutschen Nachkriegsrepubliken und damit auch die Politiker dieser Zeit waren in Ost und West von der Kriegserfahrung traumatisiert oder zumindest geprägt.

Die Funktionsträger der alten Bundesrepublik waren sich sehr bewusst, dass zwischen uns und Russland kein Ozean liegt. Deswegen haben sie immer auf eine Ausgleichspolitik zwischen dem Westen und dem potentiellen Gegner im Osten gesetzt. Wir waren also verwurzelt im Westen, hatten aber das Bewusstsein, dass gerade wir mit dem Osten eine Verständigung suchen mussten. Und dieses Bewusstsein war parteiübergreifend. Es lässt sich finden bei Egon Bahr und Willy Brandt wie bei Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl.

Wie sehen Sie die Positionierung von Heiko Maas gegenüber Russland?

Maas zählt sich definitiv zu den neuen Eliten der Bundesrepublik, die anders denken und handeln als ihre Vorgänger. Es ist besonders traurig zu sehen, dass ausgerechnet ein neuer SPD-Außenminister das entspannungspolitische Konzept seiner eigenen Partei als überholt betrachtet. Wenn ich die Stellungnahme von Maas und seinem Außenamtsstaatsminister Michael Roth lese, dann sagen die Herren nichts anderes, als dass Entspannungspolitik nicht mehr in die heutige Zeit passt.

Maas hat das so formuliert, dass er nicht wegen der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, auch nicht wegen der Friedensbewegung in die Politik gegangen sei. Er hat vor Journalisten angekündigt, er würde gegenüber Russland einen viel härteren Kurs fahren als seine Vorgänger Steinmeier und Gabriel. Heiko Maas hat damit der gesamten Entspannungspolitik, deren Erfinder die Sozialdemokraten waren, eine klare Absage erteilt.

Aber seine Neuausrichtung wird scheinbar von der SPD mitgetragen.

Darüber staune ich. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wann gibt es bei den Sozialdemokraten eine Rebellion gegen diesen Strategiewechsel und Bruch mit den besten eigenen Traditionen? Der neue Außenminister sucht dabei gern die Nähe zur Bild-Zeitung und zu den „Atlantikern“ in allen außenpolitischen Redaktionen. Auch das ist neu: Früher kam die härteste anti-kommunistische Propaganda immer von der Bild-Zeitung und der Springer-Presse. Heute finden sich Artikel gegen das nicht mehr kommunistische, aber autoritäre Russland regelmäßig in der Zeit, dem Spiegel, der Süddeutschen, der FAZ und selbst in der taz.

Mit dieser Ausrichtung von Politik und Medien dürfte sich für uns als Gesellschaft ein ziemliches Problem geben, wenn es um vielschichtige Analysen geht.

Dieses Problem ist real. Was mir aber Hoffnung gibt, ist: Trotz dieser einheitlichen politisch-medialen Front positioniert sich die Bevölkerung in Umfragen anders. 70 bis 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sagen, dass sie eine Verständigung mit Russland wünschen.

Was zeigt uns das?

Ich lese daraus: Die Entspannungspolitik ist in der Bevölkerung sehr viel stärker verankert als bei den Politikern und Journalisten.

Wie kann man diese verfahrene Situation aufbrechen?

Ich appelliere dringend an die SPD, ihre Entspannungspolitik von früher zu verteidigen – auch gegen den heutigen Außenminister und seinen Staatsminister. Journalisten, Medien, Zivilgesellschaft müssen in eigenem Interesse die Debatte über die veränderten Koordinaten der neuen deutschen Außenpolitik führen. Die Verantwortlichen dieser neuen Konzepte müssen gezwungen werden, zu belegen, wie die versprochenen positiven Resultate ihrer Politik denn aussehen. Was hat die Politik des Regime Change gebracht? Sind wir dem Frieden in Europa und der Welt nähergekommen? Ist die Einheit Europas heute gesicherter, ist seine demokratische Strahlkraft leuchtender als in den 90-er Jahren?

Das ist ein Appell vor allem an Politik und Medien. Aber lassen Sie uns nochmal zu den Bürgern kommen. Wie können diese sich in der Situation verhalten? Was sollten Sie beachten, gerade auch im Hinblick auf die Schieflagen in der Berichterstattung?

Ich stelle fest: Das Netz rebelliert. Im Internet finden sich auch die Zweifel, die eigentlich von Journalisten in den Medien vorgetragen werden sollten. Im Netz findet sich zum Beispiel Widerstand gegen eine propagandistische und einseitige Berichterstattung, wie wir sie im Fall Skripal viele Tage erlebten. Dieser Widerspruch im Netz ist schwer als Kampagne der Rechtspopulisten oder von russischen Hackern zu interpretieren, obwohl auch das versucht wird.

Was wirklich fehlt, ist die Kraft auf der Straße. Um ein Beispiel anzuführen: Als es die jüngsten Angriffe der amerikanischen, britischen und französischen Bomber auf Ziele in Syrien gab, hatten die Grünen ihren Kongress in Berlin zur neuen Standortbestimmung und zum Einläuten der „vierten Phase“ ihrer Parteientwicklung. Frühere Grüne hätte es sofort auf die Straße getrieben: Beendet das Bombardement! Beachtet das Völkerrecht! Aber dieser Kongress tanzte und tagte weiter.

Ist es so schlimm um die Grünen bestellt?

Als Pazifistin und Befürworterin einer modernen Entspannungspolitik sind Sie innerhalb der Grünen heute ein Alien von einem fernen Stern. Dabei war der Glücksfall und das kostbare Wissen von 1989, dass Entspannungspolitik und Bürgerrechtsbewegung endlich zusammen wirksam waren. Das hat zum Erfolg und zu einer gewaltfreien Veränderung der Welt geführt. Ich kenne kein einziges positives Beispiel, dass Sanktionen, die neuerdings auch kühn als „gewaltfrei“ interpretiert werden, gewaltfreie Ergebnisse liefern. Sanktionen gehen immer auf Kosten der Bevölkerung, ruinieren ganze Volkswirtschaften und führen politisch zu einer extremen Entfremdung zwischen den Staaten.


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