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Titel: „Nur die Toten finden hier ein besseres Leben.“ – Das Massaker und die blutigen Tage von Gaza
Datum: 9. April 2018 um 9:27 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Der Karfreitag der Christen, der Beginn des Pessach-Fests der Juden, der „Tag des Bodens“ der Palästinenser: der 30. März bescherte Gaza ein Blutvergießen, wie es die Mittelmeerenklave seit Ende des letzten großen Krieges im Sommer 2014 nicht erlebt hatte. Beim Auftakt einer mehrwöchigen Protestaktion gegen die längste militärische Okkupation der Welt wurden 18 Menschen von israelischen Sicherheitskräften getötet, Hunderte weitere teils schwer verletzt. Von Jakob Reimann[*].
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Gaza wird in Kürze unbewohnbar sein
2015 erklärten die Vereinten Nationen in einem wegweisenden Report, der Gazastreifen würde bei anhaltenden Entwicklungen bis zum Jahre 2020 buchstäblich unbewohnbar. Nachdem sich Israel 2005 aus Gaza zurückzog, gewann die Hamas im folgenden Jahr die Parlamentswahlen. Israel richtete eine umfassende Blockade ein, in dessen Zuge Luft-, See- und Landwege des winzigen Küstenstreifens hermetisch abgeriegelt wurden, seit einiger Zeit kooperiert hierin auch die ägyptische Regierung mit der israelischen. Als Folge brach die lokale Wirtschaft endgültig zusammen. Mit über 40 Prozent hat Gaza die höchste Arbeitslosenquote der Welt. Jeglicher Warenverkehr wird von der israelischen Regierung kontrolliert und maximal eingeschränkt, ebenso jede Bewegung von Personen. Die rund zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens sind auf einer Fläche gerade einmal der Größe Bremens buchstäblich eingesperrt.
Hinzu kommen die periodisch wiederkehrenden Bombardierungen Gazas, nach dem Selbstverständnis der israelischen Regierungen als Reaktion auf den Beschuss mit in der Regel selbst zusammengebastelten Raketen, die – zum Glück! – nur in absoluten Ausnahmefällen Sachschäden verursachen, geschweige denn menschliche Opfer zur Folge haben. Allein seit Ende der Zweiten Intifada 2005 gab es neben vielen kleinen und mittleren Operationen des israelischen Militärs drei ausgewachsene Kriege in Gaza. In der 51 Tage währenden Bombardierung 2014 wurden 2.251 Palästinenser getötet, darunter 1.462 Zivilisten, über Elftausend weitere verletzt und über Zweihunderttausend wurden durch Hauszerstörungen obdachlos. Auf der anderen Seite starben 69 Israelis.
Hinzu kommt die systematische Bombardierung ziviler Ziele in Gaza wie Schulen, Moscheen, öffentlichen Plätzen sowie Wohn- und Krankenhäusern. Der einzige Flughafen wurde 2001 zerstört, 2014 das einzige Kraftwerk sowie 360 Industrieanlagen und Zehntausende Hektar Ackerfläche. Haben die Bombardierungen offiziell stets die Entwaffnung und Schwächung der Hamas zum Ziel, sollten sie vielmehr als Kriege gegen die palästinensische Wirtschaft und den Gazastreifen in seiner Gesamtheit verstanden werden.
Gaza wird dominiert von der Hamas auf der einen Seite sowie hermetischer Abriegelung und periodischen Kriegen auf der anderen. Es ist entscheidend, diese strukturelle Gewalt zu verstehen, dieses lebensfeindliche Umfeld, das in Gaza herrscht, da es andernfalls unmöglich ist, die jüngsten Ereignisse auch nur im Ansatz zu begreifen.
70 Jahre Unabhängigkeit – 70 Jahre Nakba
1976 kam es seitens der israelischen Regierung in Galiläa in Nordisrael zu einer massiven Enteignungswelle arabischen Lands mit der Absicht der Eingliederung in jüdische Gemeinden, in dessen Zuge es zu einem Generalstreik kam und sechs Menschen von den Sicherheitsbehörden getötet wurden. Mit dem „Tag des Bodens“ erinnern Palästinenser im In- wie Ausland jedes Jahr am 30. März an dieses historische Ereignis und symbolisch an die tagtäglich voranschreitende Landnahme durch den Staat Israel.
So auch 2018. Die Hamas und viele weitere Organisationen riefen zum „Tag des Bodens“ zu friedlichen Demonstrationen in Gaza auf und initiierten mit der Errichtung von Zeltcamps im Grenzgebiet zu Israel eine sechswöchige Protestaktion, die das tägliche Leid der Bevölkerung Gazas zurück in das bezüglich des Palästisrael-Konflikts oft gleichgültige Weltbewusstsein bringen soll. Die Protestaktion wird mit dem erklärten Ziel Jerusalem am 15. Mai enden – dem 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels, den Palästinenser als ebenso historischen Tag jährlich betrauern; denn des Einen Unabhängigkeitstag ist der Anderen „Nakba“ (dt. Katastrophe): die gewaltsame Vertreibung und Ermordung von rund 750.000 Palästinensern durch jüdische Milizen 1948.
Die Proteste am 30. März, zu denen sich rund 30.000 Personen versammelten, verliefen in der überwiegenden Mehrheit friedlich und ähnelten oft Volksfesten, es gab gratis Essen, Wasser und WiFi. Teils größere Menschengruppen bewegten sich hingegen näher an den Grenzzaun heran. Molotow-Cocktails flogen, Jugendliche warfen und schleuderten Steine, waren dabei jedoch derart weit entfernt, dass sie unmöglich den Zaun erreichen konnten. Reifen wurden angezündet und in Richtung der Grenze gerollt: Was das israelische Militär als Angriff auf seine Sicherheitsinfrastruktur darstellte, ist aufgrund der massiven Rauchentwicklung aus palästinensischer Sicht als Smokescreen zum Schutz vor israelischen Scharfschützen zu verstehen.
Das israelische Militär feuerte daraufhin Tränengasgranaten auf die Demonstranten ab, vereinzelt kam es zu Artillerie- und gar Panzerbeschuss, bald eröffneten die rund um den Zaun in Stellung liegenden Sniper das Feuer.
Das Massaker vom 30. März
Am Ende des Tages wurden 17 Palästinenser getötet. Das israelische Militär gibt an, es hätte ausschließlich auf die „Hauptanstifter“ der Proteste gefeuert, identifiziert jedoch nur zehn der Toten als Mitglieder von Terrorgruppen, während die Hamas erklärte, dass fünf der Toten Teil ihres bewaffneten Armes wären.
Unter den Toten befanden sich Jugendliche und Männer, die zweifelsfrei keiner bewaffneten Organisation angehörten. Ein Farmer wurde durch Artilleriefeuer auf seinem Feld getötet. Ein unbewaffneter Jugendlicher wurde beim Rauchen einer Zigarette per Kopfschuss getötet. „Unglücklicherweise finden hier nur die Toten ein besseres Leben,“ beschreibt der Vater des getöteten Jugendlichen die verzweifelte Lage in Gaza.
Human Rights Watch zitiert Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza City, nach deren Angaben 1.415 weitere Menschen verletzt wurden, 758 davon durch scharfe Munition, die restlichen überwiegend durch Verletzungen aufgrund von Gummigeschossen und Tränengas.
Bereits zwei Tage vor dem Blutbad verkündete Gadi Eizenkot, oberster Befehlshaber des israelischen Militärs, er habe „mehr als 100 Scharfschützen“ an die Grenze zum Gazastreifen verlegt und ihnen explizit den Schießbefehl erteilt, sollten sich Personen dem Grenzzaun nähern. Am Tag darauf postete das Büro von Premier Netanjahu auf Twitter ein Video eines unbewaffneten, regungslosen Palästinensers, dem ins Bein geschossen wurde mit der Überschrift „Das ist das Mindeste, was jedem blüht, der den Sicherheitszaun zwischen Israel und Gaza überqueren will.“ Es kann also keineswegs von Reaktion, denn vielmehr von Vorsatz die Rede sein.
Die „mehr als 100 Scharfschützen“ machten schließlich die Drohungen ihrer Vorgesetzten wahr. Videos verbreiteten sich wie ein Lauffeuer im Internet, die etwa zeigten, wie eine Gruppe Jugendlicher beim Beten oder ein langsam laufender Mann beschossen, mehrere am Boden liegende Jugendliche unter Beschuss genommen oder ein in die dem Zaun entgegengesetzte Richtung rennender Jugendlicher in den Rücken geschossen wurden.
Am Tag danach twitterte das israelische Militär: „Nichts geschah unkontrolliert, alles war präzise und angemessen. Wir wissen, wo jede einzelne Kugel gelandet ist.“
(Der Post wurde mittlerweile vom IDF-Account gelöscht.)
In den Tagen nach dem „Tag des Bodens“ wurde ein weiterer Mann erschossen, einer von einer israelischen Drohne getötet und einer erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen, wodurch die Zahl der Toten der ersten Protestwoche auf 20 anstieg. Auch am Freitag darauf trafen sich Tausende Palästinenser zu Protestaktionen, wobei sieben Menschen getötet und 1.350 weitere verletzt wurden, 400 davon durch scharfe Munition.
Vor einer Weile traf ich mich in Tel Aviv in einer Kneipe mit einem ehemaligen israelischen Soldaten. Die ganze Nacht lang unterhielten wir uns über den Gaza-Krieg im Sommer 2014 und die Bodenoffensive, bei der er mit dabei war. In kürzester Zeit erschoss er dort mindestens neun Menschen, eventuell bis zu 20. Von keinem einzigen konnte er mit Gewissheit sagen, ob es sich um einen Kombattanten oder einen Zivilisten handelte. Doch diesen Unterschied gebe es in Wahrheit eigentlich gar nicht, da sich Gaza mit seiner Wahl der Hamas 2006 in seiner Gesamtheit schuldig und so zum legitimen Ziel gemacht hätte, rechtfertigt der Ex-Soldat seine offensichtliche Freiwild-Mentalität.
Angesichts der toten Zivilisten am „Tag des Bodens“, der Hunderten durch scharfe Munition Verletzten und der vielen Videos, die den Beschuss von Unbewaffneten dokumentieren, ist die Behauptung der israelischen Regierung, die Scharfschützen wären ausschließlich gegen Terroristen vorgegangen, schlicht grotesk: Am 30. März 2018 verübte das israelische Militär in Gaza ein Massaker.
„Die moralischste Armee der Welt“
Auch wenn das israelische Militär zunächst behauptete, auf Schüsse von Seiten der Demonstranten reagiert zu haben, gab Human Rights Watch an, sie habe keinerlei Beweis gefunden, dass auch nur ein einziger Demonstrant eine Schusswaffe benutzt hätte. Auch stellten die Demonstranten in keinem Fall eine unmittelbare Bedrohung der israelischen Sicherheitskräfte dar, womit der Einsatz scharfer Munition auf unbewaffnete Demonstranten „gesetzwidrig“ war, so die renommierte NGO weiter.
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sowie UN-Generalsekretär António Guterres forderten eine Untersuchung der Ereignisse vom 30. März. Der israelische Verteidigungsminister, Avigdor Lieberman – der 2015 verkündete, er wolle illoyalen Arabern „mit einer Axt den Schädel abhacken“ – schloss interne Untersuchungen jedoch kategorisch aus und verweigerte jegliche Kooperation im Rahmen unabhängiger Untersuchungen durch internationale Gremien. Vielmehr rechtfertigte er gegenüber dem israelischen Army Radio die Toten damit, das israelische Militär „tat, was getan werden musste,“ und fügte hinzu: „Ich denke, dass jeder Einzelne unserer Truppen eine Medaille verdient.“ Premierminister Netanjahu bemühte die berüchtigte Floskel, das israelische Militär sei „die moralischste Armee der Welt“.
Es ist diese Ignoranz der Kriegsfalken innerhalb der Netanjahu-Regierung – der rechtsextremsten Regierung in der Geschichte des Landes – sowie ihre historische Gewissheit über absolute Straffreiheit, die der Garant für neues Töten und neue Kriege sind.
Gaza braucht für Mensch und Waren durchlässige Grenzen sowie das fundamentale Recht auf Selbstbestimmung. Nur so kann ein Maß an Wiederaufbau und wirtschaftlicher Entwicklung bewerkstelligt werden, das den Druck aus diesem explosiven Kessel nimmt. Eine neue Welle der Gewalt, die Dritte Intifada, oder der nächste Bombenkrieg Israels könnte endgültig Gazas Kollaps herbeiführen.
Bilder: Al Jazeera
[«*] Jakob Reimann bloggt auf JusticeNow! Er hat im Sommer 2014 sein Masterstudium in Biochemie in Dresden absolviert und arbeitet mittlerweile an der naturwissenschaftlichen Fakultät der An-Najah National University in Nablus, Palästina. Er forscht über die Auswirkungen chemischer Industrieanlagen auf Umwelt und Gesundheit der Menschen in der Westbank. Er ist zudem freiwillig für die Flüchtlingsorganisation PICUM tätig.
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