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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Sprache und Wirklichkeit – ein schwieriges Verhältnis
Datum: 19. März 2018 um 16:45 Uhr
Rubrik: Gleichstellung, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Politische Meinungsbildung braucht klare Sprache, die sich genau auf Wirklichkeit bezieht. Zwei Grammatikformen werden aus diesem Blickwinkel bereits seit Jahrzehnten diskutiert: die Einzahlform mit generalisierender Bedeutung (das „generische Maskulinum“) und diejenigen Mehrzahlformen, in denen ausschließlich Männer genannt werden. Marlies Krämer zieht demnächst vor das Bundesverfassungsgericht, um das Recht zu erkämpfen, von ihrer Sparkasse als „Kundin“ angesprochen zu werden.
Der BGH hat ihr dieses Recht zunächst abgesprochen. Prof. Dr. Elisabeth Schrattenholzer[*] stellt diese Diskussion in einen umfassenderen Rahmen. Sie untersucht die Wirkung auf das Denken: Da wir Sprache, so wie sie ist, als Kinder übernehmen müssen, trainieren wir von Anfang an, einen Teil der Wirklichkeit sprachlich auszublenden. Anette Sorg.
Auch die Logik wird missachtet, wenn Frauen in den Mehrzahlformen nur gemeint sind, aber nicht genannt. Das autonome Denken, so die Ausführungen der Autorin, wird damit erheblich beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang widmet sie sich auch der Verwendung von Begriffen wie „postfaktisch“, „der Islam“ und „Identität“.
Die Mehrzahlformen und die Logik
Zwei Autos und zwei Fahrräder sind miteinander vier Fahrräder? Nein. – Zwei Gitarren und zwei Flöten ergeben miteinander vier Flöten? Nein. – Zwei Lehrerinnen und zwei Lehrer zusammengezählt sind vier Lehrer? Nein: Zum einen, weil diese Aussage der Wirklichkeit vor Augen nicht entspricht; zum anderen, weil damit ein Grundgesetz der Logik (und im weiteren Sinn auch der Mathematik und der Wissenschaftlichkeit) aufgekündigt wäre. Ein Teilbegriff einer Menge (Autos und Fahrräder) kann und darf niemals gleichzeitig deren Oberbegriff sein. Der Oberbegriff wäre im ersten Beispiel Fortbewegungsmittel, im zweiten Musikinstrumente, im dritten Lehrkräfte.
Allerdings fordert ein Grammatikgesetz, Logik und Realität zu umgehen, sobald es sich um weibliche und männliche Menschen und ihre Darstellung in Mehrzahlformen handelt. In so einem Fall darf der maskuline Teilbegriff (Lehrer) gleichzeitig Oberbegriff (Lehrer) sein. Die Frauen dürfen sich mitgemeint fühlen. Und nicht wenige Menschen wollen bei dieser Regelung bleiben. Das ist fürs Erste verständlich. Es braucht ein gehöriges Maß an Aufwand, um Verhaltensweisen zu ändern, die uns in Kindertagen beigebracht worden sind. Der Arzt und Wissenschaftler Joachim Bauer formuliert das aus der Sicht der Neurobiologie so: „Lebensgewohnheiten und Verhaltensmuster sind in Netzwerken unseres Gehirns festgeschrieben und lassen sich nur im Laufe eines längeren Lern- und Übungsprozesses verändern.“
Doch dieser Aufwand, so meine ich, lohnt sich. Warum, das möchte ich hier begründen.
Verletzung der Eigenständigkeit des Denkens
Versetzen wir uns als Gedankenexperiment in ein – sagen wir siebenjähriges – Kind. Es befindet sich mit allen anderen Kindern seiner Schule in einer Schulversammlung. Vor dem Kind stehen zwei Lehrerinnen und zwei Lehrer. Eine Autorität beginnt eine Rede mit den Worten: „Diese vier Lehrer hier …“
Das Kind ist jetzt mit zwei Wirklichkeiten konfrontiert: mit einer gesagten und mit einer gesehenen. Diese beiden widersprechen einander. Das Kind in unserem Gedankenexperiment ist zu jung, um die Autorität zu hinterfragen, und es hat schon Jahre mit ungezählten ähnlichen Falschmeldungen hinter sich. Immer wieder sagt die Autorität etwas anderes, als vor Augen steht, wenn es um Männer und Frauen geht. Das Kind lernt daher, Anschauung und – wie wir als Erwachsene hinzufügen können – auch die Logik gelten offenbar nicht immer. Das ist sehr verwirrend. Das Kind muss eine Denk-Doppelgleisigkeit entwickeln. Manchmal muss die Wirklichkeit vor Augen genau gesagt werden (zwei Meter und zwei Kilometer sind nicht vier Kilometer); manchmal darf sie nicht gesagt werden, sondern wird nach zunächst undurchschaubaren Gesetzen verbogen.
Wir, die Deutsch Sprechenden, haben diese Doppelgleisigkeit alle verinnerlicht. Wir können uns sprachlich in einem Raum bewegen, in dem weder Logik noch die Wirklichkeit vor Augen Gültigkeit haben. Manche kommen von dort leider nie wieder zum Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zurück. Sie brauchen ihr Leben lang eine Gruppe, in der alle das Gleiche sagen. Oder sie orientieren sich an einer Autorität, um zu wissen, was von der Wirklichkeit gesagt werden darf. Das nennt man Unmündigkeit.
Die Autonomie eines Kindes wird untergraben, wenn die Wirklichkeit vor Augen sprachlich falsch wiedergegeben werden muss. Das eigenständige Denken wird verunsichert. Der Psychotherapeut Alexander Mitscherlich nannte das Individuum ein „von Anfang an sozial vergewaltigtes Wesen“. Michel Foucault, der untersuchte, „entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen“, kam zu dem Schluss, dieser Zugriff der Macht „vollzieht sich in der Sprache“.
Ein Machtwort kann gebieten, Realität aus der Wahrnehmung auszublenden. Der Inhalt autoritärer Aussagen kann Vorrang vor Realität erzwingen, sei es auf subtile Art, sei es durch Androhung von Gewalt. Die Kirche hatte Anfang des 17. Jahrhunderts noch die Macht, die Aussage zu verbieten, dass sich die Erde um die Sonne bewegt. Galileo Galilei musste das ihm damals bereits Offensichtliche leugnen.
Ignaz Semmelweis
Ein besonders tragisches Beispiel für das Beharren auf überlieferten Lehrmeinungen ist das Leben des Arztes und Gynäkologen Ignaz Semmelweis. Seit Generationen hatten angehende Ärzte gelernt, es wären Kleinstlebewesen, die als Folge von Wunden selbsttätig entstehen, die dann den Tod einer Person herbeiführen können. Deswegen seien die Mediziner machtlos gegen das, was die Medizin heute Sepsis nennt. Nach langem Beobachten und Überlegen steigerte Semmelweis durch simple Hygienevorschriften die Überlebensrate der Frauen an der geburtshilflichen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien von unter 80 auf über 98 Prozent. Dieser Erfolg war statistisch verbürgt, aber in der Fachwelt nicht akzeptabel. Wieder einmal wurde so Offensichtliches geleugnet wie die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne bewegt. Semmelweis wurde mit Schimpf und Schande entlassen. Nach weiteren beruflichen Odysseen und einem Zusammenbruch starb er verkannt, verfemt und verzweifelt, nur 47-jährig, in einer psychiatrischen Klinik. Erst Jahrzehnte später wurde er rehabilitiert und wird seither als „Retter der Mütter“ gepriesen.
Das generische Maskulinum
Eine zweite Sprachgewohnheit schneidet in ähnlicher Weise wie die unlogischen Mehrzahlformen die Sprache von der erlebbaren Wirklichkeit ab, nämlich das generische Maskulinum: Eine Einzahl darf da eine Mehrzahl meinen, ein männliches Individuum kann sprachlich auch sämtliche Frauen, eine ganze Gruppe von Individuen, ja eine ganze Bevölkerung vertreten. Die genannten Inhalte und Eigenschaften gelten angeblich für alle. Daher ist das generische Maskulinum Meuchelmord am Realitätssinn. Ungültige Verallgemeinerungen und haltlose Vorurteile werden damit transportiert. Im Nationalsozialismus war es eine gern verwendete Ausdrucksform: „Der Deutsche ist …“, „der Russe wird …“, „der Jude hat …“ etc.
Werkzeuge zur Überprüfung, ob Worte und Begriffe realitätsentsprechend sind
Wer über Pläne, Lebensgestaltung oder gesellschaftliche Veränderungen redet, muss sich die Überprüfung der Sprache auf ihren Bezug zur Wirklichkeit gefallen lassen. Weder die realitätswidrigen Mehrzahlformen noch Aussagen mittels des generischen Maskulinums halten so einer Prüfung stand. Dass diese Sprachformen dazu beitragen, politische Verführbarkeit zu erleichtern, weil wir durch sie gewöhnt sind, vernebelte, ungenaue Aussagen hinzunehmen, lässt sich zwar vermuten, aber nicht ohne Weiteres belegen. Möglichkeiten, den Realitätsbezug der Sprache zu überprüfen, sind in jedem Fall zu begrüßen.
Zur Überprüfung, ob eine Aussage überhaupt ein mögliches Gegenstück in der Wirklichkeit haben kann, gibt es mehrere Strategien. Zwei davon möchte ich hier – in aller Kürze – vorstellen und empfehlen:
Bebildern
Bebildern wir zum Beispiel die Aussage, dass Gefühle nicht verletzt werden dürfen, anhand der Semmelweis-Geschichte. Wir drehen in Gedanken den Film „Semmelweis und seine Vorgesetzten“. Nun, das Gefühl der Eitelkeit seiner Vorgesetzten war durch Semmelweis’ Erkenntnisse offenbar schwer gefährdet, ihr Selbstgefühl – im weitesten Sinn als Heiler und Wohltäter der Menschheit – war angegriffen. Ihre Macht und ihr Prestige standen auf dem Prüfstand. Nichtsdestotrotz war es richtig und notwendig, Hygiene einzuführen. Die Gefühle der damaligen Professoren durften aufgrund des höheren Gutes Leben erhalten also verletzt werden.
Und wenn ein erzkonservativer Vater – um ein literarisches Beispiel zu nennen: wie Edoardo Galotti in Lessings Stück „Emilia Galotti“ – seine Tochter lieber tot sieht als verführt, weil Letzteres seine Gefühle mehr verletzen würde, so schätzen wir hierzulande und heute den Mord an der Tochter als ein erheblich schwerwiegenderes Verbrechen ein als die Verletzung von Edoardos Wertvorstellungen und Gefühlen.
Ein ganz anderes Beispiel: postfaktisch.
Die lateinische Silbe post heißt nach. Die deutsche Sprache kennt den Begriff posthum oder die Stilrichtung der Postmoderne, ein postkapitalistisches Zeitalter etc. Wenn wir ein postfaktisches Zeitalter bebildern wollten, was zeigen wir da? Ein Zeitalter nach den Fakten? Das lässt sich als Bild nicht herstellen. Wenn daher jemand von einem postfaktischen Zeitalter spricht, ist der angeblich kommunizierte Inhalt eine diffuse Nicht-Wirklichkeit. Wörter wie postfaktisch und das englische Pendant post truth haben, wie die österreichische Autorin und Journalistin Anne-Catherine Simon so treffend formuliert, „wenig Nutzen, im Gegenteil. Erstens vernebeln sie Dinge, wo genaues Benennen dringend gebraucht ist: Wer verbreitet wie Lügen? Und wie unterscheidet man zwischen Lügen und ideologisch unerwünschter Interpretation von Fakten?“
In ähnlicher Weise verhindern Aussagen im generischen Maskulinum und Aussagen mit ausschließlich maskulinen Mehrzahlformen einen direkten Bezug von Sprache zu Wirklichkeit. Das ist gefährlich. Nicht zuletzt bei Verträgen, Gesetzen und Vereinbarungen. Sprachformen, die etwas vage „anderes“ meinen, als sie tatsächlich sagen, erzeugen Unsicherheit und Möglichkeit zu Willkür.
Darüber hinaus gibt es allerdings Bereiche von Wirklichkeit, in denen Einigkeit über die Allgemeingültigkeit von Aussagen gar nicht eingefordert werden darf. Das zu klären, hilft das Drei-Bereiche-Modell.
Das „Drei-Bereiche-Modell“ (adaptiert nach Rupert Lay)
Sprache verbürgt – je nach Referenzbereich – wesenhaft unterschiedliche Verbindlichkeit für die Sprechenden und Hörenden. Die Allgemeingültigkeit von Aussagen ist nicht in jedem Fall gleichermaßen gewährleistet.
Im Folgenden wird „Welt-und-Wirklichkeitsbereich“ mit „W“ wiedergegeben.
Bereich W1: Sprache mit der Verlässlichkeit einer guten Landkarte
Jener Bereich der Welt, der an uns alle gleichermaßen von außen herantritt, also das sinnlich Wahrnehmbare und was unmittelbar daraus abgeleitet werden kann, wird im Drei-Bereiche-Modell W1 genannt. Sprache bezieht sich hier auf ein Außen, das für alle gleich ist. Wer sich mit dem Inhalt des Gesagten beschäftigen will, kann das mithilfe der eigenen Sprachkompetenz ohne Weiteres tun. In W1 funktioniert Sprache bei korrekter Verwendung als Landkarte der Wirklichkeit. Sie beruft sich, wie die Kartographie, auf Übereinkünfte des Abbildens der Welt. Exakt abbildende Sprache ermöglicht es – wie eine gute Landkarte –, dass wir erfolgreich von A nach B gelangen. Wir können von einem bestimmten Begriff – z. B. Baum, Haus, Straßenverkehrsordnung – zu dem so bezeichneten Wirklichkeitsanteil gelangen; beziehungsweise kommen wir von einem bestimmten Wirklichkeitsanteil meist zum selben Wort wie andere Deutsch Sprechende. Genau diese Konvertierbarkeit Sprache/Wirklichkeitsanteil verbürgt Verlässlichkeit des Gesagten. Diese wird aber durch falsche Mehrzahlbildungen gestört. Besteht beispielsweise eine Künstlerkolonie ausschließlich aus Männern oder gibt es dort auch Frauen? – Die Verlässlichkeit der Information ist ein höheres Gut als ein Grammatikgesetz.
Bereich W2: Reaktionen auf Äußeres, Deutungen der Welt und innere Befindlichkeiten
Die Reaktionen auf die Phänomene in W1 beinhalten Gefühle, persönliche Befindlichkeiten, Meinungen, Geschmäcker und Deutungen der Welt. Sie werden im Drei-Bereiche-Modell W2 genannt. Der Beweis für das Vorhandensein eines genannten Wirklichkeitsanteils liegt dabei im Inneren eines Menschen. Das ist ein für alle Menschen außerordentlich wichtiger Bereich. Im Austausch des Erzählens darüber wird Anerkennung des individuellen menschlichen Daseins gewürdigt, gefördert und bestätigt. Wir lernen einander damit als menschliche Individuen näher kennen.
Das alles kann und soll Sprache leisten. Sie stärkt dann Selbstgefühl, Autonomie, Empathie und die Wertschätzung der Vielfalt des Lebendigen. Mit den Inhalten auf diesem Gebiet ist es allerdings wie mit Träumen: Niemand kann beweisen, was er oder sie geträumt hat; der Wahrhaftigkeit einer Traum-Schilderung können wir nur vertrauen oder nicht vertrauen. Daher wäre es Fundamentalismus oder ungerechtfertigter Machtanspruch, Erkenntnisse aus W2 als verpflichtend für alle Menschen vorzuschreiben. Dass ein Fachgremium die Bibel oder Karl Marx’ Buch „Das Kapital“ so und so auslegt, kann und darf nicht heißen, dass diese Auslegung für alle Menschen ebenso verbindlich wäre wie die Tatsache, dass der Regen von oben nach unten fällt und die Erde sich um die Sonne bewegt.
Bereich W3: Das Unnennbare
Bei W3, dem dritten Bereich des Drei-Bereiche-Modells der Zuständigkeit von Sprache, handelt es sich um einen von vielen Menschen für wahr erachteten Bereich, der über das sinnlich Erfahrbare hinausginge. Dieser wäre dann gegebenenfalls unbenennbar und unbeschreibbar, da alle vorhandenen Wörter und Begriffe, und seien sie noch so abstrakt, jeweils einen Anteil des Erfahrbaren benennen. Für ein allumfassendes Darüber-Hinaus ist die Sprache nicht das geeignete Darstellungsinstrument.
Die Gültigkeit von sprachlichen Abbildungen der Wirklichkeit
Mittels des Drei-Bereiche-Modells ergeben sich daher folgende Gültigkeitsbereiche von sprachlichen Aussagen:
In W1 kann Einigung erzielt werden, können funktionierende Gesetze beschlossen und verlässliche Verträge vereinbart werden,
in W2 können Sprechende oder Schreibende Anteilnahme erwarten, Kunst ausüben, Welt deuten, Visionen äußern, Utopien, Dystopien … – und wir können uns gut und gerne über Widersprüchliches unterhalten, denn Widersprüchliches darf per definitionem gelten, solange es nicht die W1-Tatsachen verzerrt, verdreht oder leugnet. – Die Behauptung, dass die Sonne um die Erde kreist, musste revidiert werden. W1-Realität hatte letztlich mehr Beweiskraft als die autoritär verordnete Sicht der Dinge.
In W3 hat Sprache im günstigsten Fall die Funktion von Musik und kann Gleichgestimmtheit und atmosphärisches Einverständnis erzeugen – vergleichbare kulturelle Konditionierungen vorausgesetzt.
Zwei Beispiele einer Begriffsklärung anhand des Drei-Bereiche-Modells
Kaum ein Gespräch über öffentliche und politische Angelegenheiten kommt heute ohne Reflexion über den Islam aus. Sei es, dass die Angst vor dem Islam thematisiert wird, sei es die Frage, was denn der Islam sei, sei es die Suche nach Verständnis für den Islam oder Ähnliches. Was an diesen Fragen und Aussagen bezieht sich auf W1, worüber Einigung erzielt werden kann? Und was ist W2?
W1-Tatsache ist, dass es vielerlei islamische Glaubensrichtungen gibt. In einigen Ländern der Erde haben einzelne dieser unterschiedlichen Glaubensformen Einfluss auf die Gesetzgebung oder prägenden Einfluss auf die politische Gestaltung des Landes und auf private Lebensformen. Bemühungen, allgemeingültig festzulegen, was „der“ Islam denn sei, müssen ins Leere gehen. Dasselbe gilt für Christentum, Judentum und andere Religionen: Es existieren zahlreiche Deutungen und Strömungen, die einander teilweise diametral widersprechen. Es gibt also weder „den“ Islam noch „das“ Christentum. Solche irreführenden Benennungen entsprechen der Verwirrung, die das generische Maskulinum erzeugt. Extrem unterschiedliche Phänomene sollen mit einer einzigen Bezeichnung korrekt kommunizierbar benannt werden. Das kann nicht funktionieren.
Guter Wille vorausgesetzt, lassen sich jedoch die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz diskutieren und in W1 verlässlich und verbindlich festlegen. Aber es lässt sich nicht herausfinden, was der Islam oder das Christentum zu bestimmten Inhalten sagen. In jeder größeren Gruppe von Menschen gibt es unterschiedliche Meinungen zu welchem Thema auch immer.
Identität ist in jüngster Zeit ein politisch hochbrisanter Begriff geworden. Von Identitätspolitik wird geredet.
Um es ausdrücklich festzuhalten: Leider sind auch viele moralisch, ethisch und demokratisch untadelige Menschen in die Begriffsverwirrung um Identität eingestiegen. Wie gesagt, das Wort Identitätspolitik macht die Runde. Und nicht nur Paul Watzlawick hat festgestellt, dass dort, wo es ein konkretes Wort gibt, auch ein konkreter Inhalt angenommen wird. Das kann ein Irrtum sein wie im Fall der Identitätspolitik. Sie bezeichnet keinen sachlich feststellbaren Inhalt. Der Begriff ist ein gefährliches Manipulationssystem und Machtinstrument geworden. Ähnlich wie beim generischen Maskulinum wird mit dem Begriff Identität vieles angedeutet und nur selten etwas Haltbares ausgesagt. Hier schafft die Anwendung des Drei-Bereiche-Modells Klärung und kommunikative Sicherheit.
W1: Identität heißt Gleichheit mit sich selbst. Jede, jeder und alles ist immer gleich mit sich selbst. Die meisten Menschen hierzulande (mich eingeschlossen) haben glücklicherweise Dokumente, die beweisen, dass diese im Augenblick infrage stehende Person, die immer (wie alles andere auch) mit sich selbst identisch ist, staatsbürgerlich gesehen genau diesen speziellen Namen tragen darf und deshalb diese oder jene Rechte hat. Notfalls beweist es ein abgespeicherter Fingerabdruck im Pass.
Die rechtlich schwerwiegenden Konsequenzen, ob meine (wer immer das im Einzelfall sein mag) Identität als Person dieses Namens eindeutig beweisbar ist, können lebensrettend sein. Es überrascht daher nicht, dass Menschen nervös werden, wenn ihre Identität infrage gestellt wird. In der Rechtsprechung und sowohl staatsbürgerlich als auch psychisch ist sie hochgradig relevant.
Der Begriff Identität wird aber verwirrenderweise auch für ganz andere Inhalte verwendet: für Selbstbild, Identifikationen, Persönlichkeitsbeschreibungen, Individualität etc.: alles Phänomene in W2, die nur individuell bestimmbar sind und daher für die Allgemeinheit nicht verpflichtend sein können. Als stabile Gesetzesgrundlage wären sie untragbar. Äquivokation heißt der philosophische Fachbegriff, wenn unterschiedliche Inhalte mit ein und demselben Wort benannt werden. So betrachtet sind auch das generische Maskulinum und die realitätswidrigen Mehrzahlformen Äquivokationen.
Individualität ist genau das, was das Wort sagt; und das ist nicht Identität. Dasselbe gilt für Identifikationen: Sie sind etwas anderes als Identität. Werden Identität, Individualität und Identifikation mit demselben Wort bezeichnet, so entsteht nachhaltige Desorientierung. Das kommt denen zupass, die politisch manipulieren wollen.
Fingerabdrücke oder Dokumente beweisen Ich bin ich und Sie sind Sie. Wenn die Polizei ein Auto aufhält und die Person am Steuer nach der Identität fragt, ist ein Ausweis erforderlich. Sollte jemand in so einer Situation anfangen, über Heimat zu philosophieren, über irgendwelche Zugehörigkeiten, Abstammungen, Traditionen oder Selbstbilder, und behaupten, das wäre doch die Angabe der Identität, würde er oder sie wohl in Polizeigewahrsam genommen werden oder einem psychologischen Dienst übergeben.
Die vom österreichischen Verfassungsschutz mit Rechtsextremismus in Verbindung gesehenen Identitären („Identitäre Bewegung Österreich“: IBÖ), die sich ihrer internationalen Vernetzungen rühmen, sagen auf ihren Internetseiten: „Identitär kommt von Identität.“ Und: „Unter Identität versteht man das Bewusstsein eines Menschen von sich selbst.“ Nein: Identität ist Gleichheit mit sich selbst, unabhängig vom Bewusstsein. Sonst hätte ein schlafender Mensch keine Identität.
Weiter erklärt die IBÖ auf ihren Internetseiten, dass es drei verschiedene Ebenen der Identität gäbe, von denen es dann heißt: „Für uns stehen alle drei Ebenen unserer Identität auf gleicher Ebene.“ Dazu ist zu sagen: Entweder gibt es eine Ebene oder drei Ebenen. Aber von drei Ebenen zu sagen, dass sie auf gleicher Ebene stehen, ist blanker Unsinn. Mit so einem Satz ist auch nicht mehr die geringste Bezugnahme auf W1 – also auf den Bereich der Wirklichkeit, der an uns alle gleichermaßen von außen herantritt – möglich. Er lässt sich nicht bebildern. Mit diesem Satz funktionieren die Vereinbarungen über Sprache und Wirklichkeit nicht. Es lässt sich kein Zusammenhang von Sprache und Tatsachen erleben. Diese Art von Sprache ist für keinen konkreten Inhalt mehr haftbar zu machen, daher ist auch kein Inhalt einklagbar. Sie ist nur mehr Signal für das, was die Autorität will. Und Letzteres kann sich beliebig ändern. Wer sich dieser Sprach-, Denk- und Gangart einmal untergeordnet hat, die oder der gehorcht und findet schwer wieder zurück zu autonomem Denken und Handeln.
Aber:
Der Satz „Für uns stehen alle drei Ebenen unserer Identität auf gleicher Ebene“ ist um nichts abwegiger als der Satz „Zwei Lehrer und zwei Lehrerinnen sind vier Lehrer“. Die realitätswidrigen Mehrzahlformen verlangen ebenfalls ein Absehen von der Wirklichkeit – und Unterwerfung unter den Autoritätswillen. Auch deshalb sind sie abzulehnen. In seinem Buch „Mythen des Alltags“ schreibt Roland Barthes über die Tautologie: Sie „ist immer aggressiv. Sie bedeutet einen wütenden Bruch der Intelligenz mit ihrem Objekt. Sie ist die arrogante Androhung einer Ordnung, in der man nicht denken würde.“ Für das generische Maskulinum und die disrealen Mehrzahlformen gilt dasselbe. Beide Grammatikformen schaffen einen „Bruch der Intelligenz mit ihrem Objekt“. Nur sind die Auswirkungen dieser wütenden Aggression gegen das anschauliche Denken noch viel umfangreicher, als das bei der Tautologie der Fall ist, weil die Sprachformen, um die es dabei geht, nahezu allgegenwärtig sind und von vielen Menschen nach wie vor als korrekt angesehen werden.
Resümee
Geben Sie dem Kind, das Sie einmal gewesen sind, recht. Zu Recht hat dieses Kind nicht verstanden, warum zwei Lehrerinnen und zwei Lehrer vier Lehrer sein sollten. Auch wenn die neu zu erdenkenden Sprachformen manchmal kompliziert und jedenfalls ungewohnt sind (LehrerInnen, Lehrer*innen, Lehrer_innen oder Ähnliches): Es ist ein Grundgesetz der Logik, dass der Teilbegriff einer Menge nicht gleichzeitig deren Oberbegriff sein darf. Wer realitätswidrige Mehrzahlformen bislang für okay oder entschuldbar gehalten hat, sollte die Sache mit Blick auf die Logik, die ja für korrektes Argumentieren unabdingbar ist, noch einmal überdenken.
Es würde allerdings der Wunsch nach Einhaltung des verfassungsrechtlich verankerten Gleichheitsgrundsatzes genügen, die realitätswidrigen Mehrzahlformen zu ächten. Denn dem Geist dieses Gesetzes gemäß ist alles zu ändern, was der Gleichbehandlung von Menschen zuwiderläuft; daher gegebenenfalls auch Denk-, Sprach- und Grammatikgewohnheiten.
Das schwierige Verhältnis von Sprache zu Wirklichkeit verdient unsere Aufmerksamkeit. Und es verlangt unser Differenzierungsvermögen, damit genaue Sprache zu verlässlichen Ergebnissen führen kann. „Propaganda, auch Manipulationen, sind dann erfolgreich, wenn die Botschaften permanent wiederholt werden“, schreibt Albrecht Müller in den „NachDenkSeiten“. Falsche Mehrzahlformen sind in betäubender Zahl wiederholt worden – und sie werden immer noch wiederholt. Die damit vielleicht sogar unfreiwillig transportierte Botschaft, dass Frauen in der Mehrzahl nicht der Rede wert seien, sollte zugunsten der Wirklichkeit, zugunsten der Frauen und zugunsten verlässlicher Information nicht mehr wiederholt werden.
[«*] Elisabeth Schrattenholzer, geboren in Wien, promovierte 1985 (Theaterwissenschaft und Germanistik) und habilitierte sich 2004 im Fach „Sprachgestaltung“ an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, wo sie bis 2017 lehrte. Sie ist Autorin mehrerer Sachbücher und zahlreicher Artikel zum Thema Sprache und veröffentlichte auch literarische Werke. Näheres siehe: elisabeth-schrattenholzer.at.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
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