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Titel: Fragen und Antworten zum Fall Skripal bei der Tagesschau – wenn Subjektivität objektiv daherkommt
Datum: 16. März 2018 um 9:59 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innere Sicherheit, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Jens Berger
Tagesschau.de hat ein FAQ, also eine Seite mit Fragen und Antworten, zum vermeintlichen Giftgasanschlag auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal geschaltet. Das ist löblich, denn Fragen und Antworten gibt es zuhauf. Gar nicht löblich ist jedoch, dass die Tagesschau sehr einseitig informiert. Mehr noch – durch das Weglassen zahlreicher Informationen wird ein vermeintlich objektiver Antwortkatalog präsentiert, der eigentlich doch sehr subjektiv ist und in Teilen sogar ganz direkte Meinungsmache enthält. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Wichtig wäre hier zu erwähnen, dass Artikel IX der Chemiewaffenkonvention keine „Kann-Bestimmung“ ist, sondern die unmittelbare Zusammenarbeit auf Basis des OVCW-Statuts (engl. OPCW) als Regelfall festgelegt wird. Die Anrufung anderer internationaler Organisationen, wie des UN-Sicherheitsrats, den Großbritannien ja eingeschaltet hat, sieht die Chemiewaffenkonvention zwar generell vor – aber eben nicht im „Verfahren bei einem Ersuchen um Klarstellung“, um das es hier ja erst einmal geht. Großbritannien hat also entgegen des klar festgelegten Verfahrensablaufs der Chemiewaffenkonvention die Phasen der Klarstellung und Feststellung übersprungen und geht gleich zu einem Verfahrensschritt über, der im Maßnahmenkatalog eigentlich erst viel später auftaucht. Das wirft natürlich die Frage nach dem „Warum“ auf …
Da gibt es keine „Unklarheit“. Großbritannien hat die OVCW nicht eingeschaltet[*], wie aus einem Schreiben der russischen OVCW-Delegation vom 13. März klar hervorgeht und von der OVCW auch so bestätigt wird. Falsch ist demnach auch, dass „beide Seiten auf stur geschaltet“ hätten. Russland verlangt vielmehr seit gut einer Woche (siehe Schreiben der Delegation), dass Großbritannien endlich ein formelles Verfahren bei der OVCW eröffnet, um gemäß der in der Chemiewaffenkonvention festgelegten Abläufe seinerseits aktiv werden zu können. Wenn britische Regierungsmitglieder abseits der Chemiewaffenkonvention in Reden, die für die Medien und die Öffentlichkeit bestimmt sind, Ultimaten stellen, so ist dies diplomatisch in der Tat ungewöhnlich; ja man könnte sogar von einer „Zirkusnummer“ sprechen.
Die Begründung, man sei gemäß der OVCW nicht verpflichtet, „Proben des Giftes an Russland auszuhändigen“ ist indes sehr clever. Wenn Großbritannien das OVCW-Verfahren nicht eröffnet, ist es natürlich auch nicht verpflichtet, die Maßnahmen dieses Verfahrens einzuhalten. Das ist ja sicherlich auch der Grund, warum Westminster die OVCW nicht anruft. Denn sobald ein offizielles Verfahren eröffnet ist, wäre Großbritannien dann auch gezwungen, Russland und der OVCW Proben auszuliefern. Diesen Zusammenhang hätte die Tagesschau freilich darstellen müssen. Ansonsten versteht der Leser doch gar nicht, um was es geht.
Diese Informationen sind richtig, aber leider auch unvollständig. Wichtig wären beispielsweise die Zusatzinformationen, dass die Nowitschok-Stoffe während der Sowjet-Ära in der Nukus-Anlage entwickelt und produziert wurden, die im heutigen Usbekistan liegt, das gleich nach seiner Unabhängigkeit die USA angerufen und beauftragt hat, Nukus zu schleifen, was nach Aussagen des Direktors des Henry L. Stimson Centers vor dem US-Senat auch 2003 abgeschlossen war. Hinzuzufügen wäre an dieser Stelle auch, dass Russland nach offiziellen Angaben der OVCW im Oktober 2017 die Vernichtung seines kompletten C-Waffen-Arsenals abgeschlossen hat.
Interessant wäre sicher auch die Information gewesen, dass die Nowitschok-Stoffe laut toxikologischen Fachaufsätzen speziell designet wurden, um nach damaligen technischen Stand von den NATO-Staaten eben nicht nachweisbar zu sein. Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage, wie Großbritannien eigentlich den Nachweis geführt haben will. Wir halten fest: Die Briten behaupten, einen Stoff einer Gruppe, die laut OVCW-Bericht von 2011 in keinem wissenschaftlichen Dokument jemals aufgetaucht ist und von der die OVCW 2013 sagte, man habe zu wenig Informationen, um überhaupt die Existenz der Nowitschoks bestätigen zu können, innerhalb weniger Tage sicher analysiert zu haben. Mehr noch: Die Briten behaupten auch gleich noch, dass nur die Sowjetunion diesen Kampfstoff besessen hätte. Das heißt, dass auch die Analytiker der Briten keine Vergleichsprobe (Sample) besitzen, anhand derer sie die Probe aus Salisbury klar bestimmen könnten. Das ist bestenfalls unglaubwürdig und muss bei der oben behandelten Frage, warum „London keine Beweise vorlegt“, natürlich auch berücksichtigt werden.
Lesen Sie dazu bitte auch: Craig Murray legt nach und nennt die „Nowitschok-Story“ eine Neuauflage des Schwindels über irakische Massenvernichtungswaffen.
Anstatt bereits nach dem Einleitungssatz der „Antwort“ schon vom Thema abzukommen und auf Meinungsmache zu schalten, wäre es hier Aufgabe der Tagesschau gewesen, die Reaktion Russlands einmal völkerrechtlich zu bewerten und die Aktionen Großbritanniens dem gegenüberzustellen. Großbritannien wendet sich nicht – wie es die Chemiewaffenkonvention für diesen Fall vorsieht – an die OVCW, sondern schaltet öffentlichkeitswirksam den UN-Sicherheitsrat ein; wohlwissend, dass der für diesen Fall nicht zuständig ist und ohnehin nichts gegen eine Vetomacht beschließen kann. Man könnte dies auch als „Theater“ bezeichnen. Russlands Reaktion besteht im Wesentlichen darin, die Beteiligten auf Basis des Völkerrechts an den Verfahrenskatalog der Chemiewaffenkonvention zu erinnern. Was daran nun eine „Abwehrstrategie“ sein soll, weiß wohl auch nur die Tagesschau. Selbst wenn Russland für den Anschlag verantwortlich wäre, gehört es doch wohl zu rechtsstaatlichen Gepflogenheiten, auf einen völkerrechtlich anerkannten Verfahrenskatalog hinzuweisen. Dies als „Abwehrstrategie“ zu brandmarken, ist wirklich unterstes Niveau.
Dass Deutschland, Frankreich und die USA sich dem völkerrechtswidrigen Vorgehen Großbritanniens anschließen, war im momentanen antirussischen Klima leider zu erwarten. Dass die NATO, die ein militärisches Verteidigungsbündnis ist, zu diesem Fall überhaupt befragt wird, spricht für sich …
… und dass die Tagesschau dann noch um ungelegte Eier, die auf Basis der Fakten vollkommen hysterisch wirken, kreist, lässt tief blicken. Wer stellt denn ernsthaft die Frage nach dem Bündnisfall? Das ist doch abstrus.
Taktisch sind solche abstrusen Übertreibungen aber durchaus interessant. Wenn man nur die Handlungsoptionen mit möglichst abstrusen Überreaktionen anreichert, wirken mögliche Aktionen wie ein Boykott der Fußball-WM oder eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen im Vergleich schon fast wieder diplomatisch, ja soft. Obgleich sie dies natürlich nicht sind. Eine ähnliche Strategie scheint das gesamte FAQ der Tagesschau zu verfolgen. Hier werden – vor allem durch Weglassung – subjektive Wahrheiten der Redaktion als objektive Abwägungen dargestellt und indem man stellenweise die Argumentation überzieht, entsteht am Ende ein fälschlicher Eindruck der Ausgewogenheit.
[«*] Es gab gestern Pressemeldungen, nach denen Boris Johnson ein Einschalten der OVCW angekündigt hat. Diese Ankündigung ist jedoch in keinem offiziellen Dokument zu finden und wurde von der britischen Regierung bis dato auch nicht kommentiert. Da Johnson öfters falsche Fährten legt, betrachten wir diese Aussagen auch momentan noch als Ablenkungsmanöver. Mit der konkreten Kritik des Tagesschau-FAQ hat dies ohnehin nichts zu tun, da offenbar auch die Tagesschau Johnsons Äußerungen ignoriert.
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