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Titel: Steuersenkung die „Mutter aller Reformen“

Datum: 20. Oktober 2009 um 9:20 Uhr
Rubrik: Das kritische Tagebuch, FDP, Steuern und Abgaben, Wahlen
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Wenn man das, was über die bisherigen Koalitionsgespräche kolportiert wird, ernst nimmt, dann scheinen Steuersenkungen das oberste Ziel für die neue Regierung zu sein. Aktuell gehen die Positionen nur noch über die Höhe der Steuerentlastung (35 Milliarden will die FDP und 20 bzw. 25 Milliarden die Unionsparteien) und über den Zeitpunkt der Einführung auseinander.
Besonders die FDP macht sich für Steuersenkungen stark. Westerwelle ist an sein Wahlversprechen gebunden: Er werde keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, der nicht die bindende Zusage einer Steuersenkung enthält, hat er in seinen Reden immer wieder bekräftigt. Wolfgang Lieb

Die Debatte über Steuersenkungen scheint einen gewichtigen Einfluss auf das Wählervotum gehabt zu haben. Auch nach der Bundestagswahl halten laut ZDF-Politbarometer vom 16. Oktober über zwei Drittel der Befragten (68%) Steuersenkungen für richtig und wichtig und der FDP wird bei diesem Thema am meisten Kompetenz zugetraut.

Wer hätte nicht gerne Steuersenkungen. Wer hätte nicht gerne auch Freibier. Westerwelle hat beim Thema Steuersenkungen alle Propaganda-Register gezogen: „Dass 52 Prozent vom normalen Arbeitseinkommen mittlerweile an den Staat gehen, halten wir für ungerecht.“ „Von einem durchschnittlichen Arbeitseinkommen nimmt der Staat durch Steuern und Abgaben mehr als die Hälfte”, dieser Satz fehlte in keiner seiner Wahlkampfreden.

Im Vordergrund der Koalitionsverhandlungen stehen vor allem die Steuern und nicht die Abgaben. “Ein niedriges, einfaches und gerechtes Steuersystem ist die Mutter aller Reformen”, wird Westerwelle in der Zeit zitiert.

Im Gespräch ist derzeit angeblich nicht eine Mehrwertsteuersenkung, es geht um die „ungerechte“ und „leistungshemmende“ Einkommensteuer:
„Leistung muss sich lohnen. Die FDP will den Bürgerinnen und Bürgern wieder mehr ihres hart erarbeiteten Geldes belassen. Wir wollen einfache, niedrige und gerechte Steuern für mehr Netto vom Brutto“, heißt es im FDP-Wahlprogramm.
Die Lohnsteuer scheint ja auch bei den Menschen das größte Ärgernis zu sein.

Die übliche Propagandaformel lautet, von den Lohnerhöhungen (wenn es sie denn gäbe) kommt im Geldbeutel der Leute zu wenig an, weil von jedem Euro der mehr verdient wird, mehr als die Hälfte der Staat kassiert. Besonders der Mittelstand wird mit dem Beispiel erschreckt, der Spitzensatz der Lohn- oder Einkommensteuer von 42 Prozent greife schon bei einem zu versteuernden Einkommen 52.552 Euro, und man tut gerade so, als handle es sich dabei um ein Monatsbruttoeinkommen von 4.380 Euro. 42 Prozent Lohnsteuer, das wäre ein monatliches „Netto vom Brutto“ von 2.540 Euro. 1.840 Euro vom Brutto kassiert der Staat.

Schaut man einmal in die Steuertabelle so liegt die Durchschnittsbelastung bei einem Lohn eines alleinstehenden Beziehers eines Einkommens von 50.000 Euro allerdings bei jährlich 12.950 Euro (Anlage 1, PDF – 200 KB) oder bei monatlich 1.080 Euro. So viel „kassiert“ der Staat vom Brutto. Das sind aber bei weitem nicht 42 Prozent sondern 25,9 Prozent durchschnittliche Steuerbelastung (Anlage 2, PDF – 152 KB). Bei Verheirateten sind es nach Splittingtabelle sogar nur noch 16,7 Prozent (Anlage 3, PDF – 168 KB).

Selbst bei einem Alleinverdiener mit 120.000 Euro zu versteuerndem Einkommen ist die Durchschnittsbelastung bei weitem noch nicht beim Spitzensteuersatz von 42 Prozent, sondern erst bei 35,3 Prozent angekommen. Laut Splittingtabelle liegt bei 120.000 Euro zu versteuerndem Einkommen die Durchschnittsbelastung bei 28,6 Prozent.

Die größten Sprünge liegen – nebenbei bemerkt – bei den unteren Einkommen. Nach der Grundtabelle (Alleinverdiener) beginnt die Durchschnittsbelastung mit 10.000 Euro bei 3,5 Prozent, steigt auf 9,7 Prozent bei 15.000 Euro und auf 13,8 bei 20.000 Euro. Ab 40.000Euro flacht sich die Kurve ab, steigt von 24,4 Prozent auf 25,9 bei 50.000 Euro, steigt danach bei jeweils 5.000 Euro mehr an Einkommen um 1,4 Prozent, 1,3 Prozent, 1,0 Prozent bis die Durchschnittssteuerbelastung von 95.000 auf 100.000 Euro nur noch von 33,5 Prozent auf 33,9 Prozent steigt. Bei kleineren und mittleren Einkommen ist der prozentuale Anstieg also erheblich steiler als bei höheren und höchsten Einkommen.

Es lohnt sich derzeit noch nicht auszurechnen, was das von der FDP vorgeschlagene Stufenmodell für welche Einkommensgruppe an Steuererleichterungen bringt, denn ein Koalitionskompromiss liegt noch nicht vor. Ob es tatsächlich zu einer Verringerung der inflationsbedingten so genannten „kalte Progression“ bei den unteren und mittleren Einkommensbeziehern kommt, wird sich erst noch zeigen müssen.

Klar ist aber, dass mit einer Senkung des derzeitigen Spitzensteuersatzes von 42 auf 35 Prozent in der höchsten Stufe vor allem die hohen und höchsten Einkommen am stärksten entlastet würden.

Vor allem aber macht ein Vergleich zwischen der Wahlkampfpropaganda und den tatsächlichen durchschnittlichen Einkommensteuerbelastungen deutlich, wie die Menschen hinters Licht geführt wurden.

Auf die Diskrepanz zwischen den extremen Zuspitzungen Westerwelles und der Wirklichkeit wurde in der breiten öffentlichen Debatte bis heute nicht hingewiesen. Geschweige denn, dass Westerwelle bewusste Irreführung vorgeworfen wurde.

Die Steuerdebatte ist derzeit ein zentrales Thema, aber es ist nur eines von vielen Themen mit denen man belegen kann, worunter bei uns der öffentliche Diskurs leidet.
Obwohl jeder auf seinem Gehaltszettel leicht nachrechnen könnte, dass die Wahlkampfaussagen von Westerwelle falsch oder zumindest maßlos übertrieben sind, haben viele Menschen selbst ihre eigene Wirklichkeit einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen und haben – auch angesichts fehlender Aufklärung – den Wahlkampfparolen geglaubt.

Es ist ja inzwischen zum allgemeinen Bewusstsein geworden, dass der Staat seine Bürger nur ausnimmt und er nichts dafür an Gegenleistung bekommt.
Der Kampfruf der Reagonomics „Hungert den Staat aus“, ist auch inzwischen offenbar auch bei uns zum Allgemeingut geworden. Die Folgen der Reagan- oder der Thatcher-Ära sind bekannt: Die Reichen konnten sich einen schwachen Staat leisten, die Ärmeren mussten teuer dafür bezahlen.
Steuersenkungen heißt weniger Geld für den Staat, das heißt weniger Geld für Arbeitslose, weniger für Schulen und Hochschulen, weniger Richter und Staatsanwälte, weniger für Kultur etc.


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