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Titel: „Mit dem Wissen wächst der Zweifel“

Datum: 13. Oktober 2009 um 10:41 Uhr
Rubrik: DIE LINKE, Lobbyismus und politische Korruption, Strategien der Meinungsmache
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Auf dieses Wort von Goethe machte mich ein Freund der NachDenkSeiten aufmerksam. Es tut gut, wieder zweifeln zu lernen. Es täte vor allem dem Bürgertum, das sich für gebildet hält, gut, nicht alles zu glauben, was ihm vorgesetzt wird. Wer die uns umgebenden Manipulationsversuche durchschaut, erkennt mehr und spart die Zeit, falschen Erklärungsmustern hinterherzulaufen. Die Diskussion um Jamaika an der Saar ist ein neues gutes Beispiel dafür. Albrecht Müller.

Die Unwissenden – dazu zählen in der heutigen Zeit nicht nur Leser der Bild-Zeitung und Zuschauer von RTL, Pro7 und Sat1, sondern auch die Leser von Zeit, Spiegel, Süddeutsche Zeitung und anderer renommierter Blätter – suchen jetzt mit Unterstützung ihrer Leitmedien nach allerlei Erklärungsmustern. Sie werden dabei von interessierter Seite, also z.B. von den Grünen an der Saar oder von Andrea Nahles unterstützt: Wieder einmal ist Lafontaine schuld.

Ein bisschen Zweifel täte da ganz gut, wenn man sich davor bewahren will, zu falschen Analysen verleitet zu werden.
An der Entscheidung für eine schwarz-gelb-grüne Koalition an der Saar kann man gut beobachten, welche Bedeutung klug und auch langfristig angelegte Strategien der Meinungsbeeinflussung – neben der allfälligen Lobbyarbeit – für politische Entscheidungen haben. Im konkreten Fall waren dies:

  1. die systematische Stigmatisierung der Linken,
  2. die Verteufelung Lafontaines,
  3. die gekonnt verbreitete Behauptung von der so genannten Sozialdemokratisierung der Union.

Dazu kommen dann noch die seit Jahren von den Rechtskonservativen betriebene Lobbyarbeit und Infiltration. Beim Vorsitzenden der saarländischen Grünen war das deutlich spürbar, früher schon bei Christine Scheel, die sogar schon Botschafterin der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft war, des gleichen Oswald Metzger in seiner Zeit als Grüner.

Die Entscheidung der Saar-Grünen, ein Bündnis mit der CDU und FDP einzugehen, wurde darüber hinaus durch einen gravierenden strategischen Fehler der SPD erleichtert: Indem sich die SPD inhaltlich immer mehr den konservativen Vorstellungen angepasst hat, wurde sie auch immer weniger unterscheidbar von der Union. Damit hat die SPD selbst die Hemmschwelle zum Umstieg der Grünen zur CDU abgebaut. Dieser strategische Fehler geht bis auf das Jahr 1973 zurück, als die Rechte in der SPD begonnen hat, das soziale und reformerische (im guten Verständnis des Wortes) Image abzubauen. Mit der Agenda 2010, mit der Förderung der Finanzindustrie und der Entscheidung für die Beteiligung an militärischen Einsätzen außerhalb des NATO-Bereichs und jenseits der Verteidigung hat sich die SPD so sehr dem Erscheinungsbild der konservativen Parteien angenähert, dass sowohl ihre Attraktivität beim Wähler als auch ihre Vorzugsrolle als Partner der Grünen nachhaltig beschädigt wurden.

Das Image der SPD wurde also durch politische Taten beschädigt und der CDU angepasst; zugleich hat die CDU – siehe oben c. – systematisch an der Veränderung ihres Images in Richtung „sozial“ gearbeitet. Letzteres war vermutlich der entscheidende Faktor für die Öffnung der Tür zwischen Grün und Schwarz – wie zuvor in Hamburg jetzt auch im Saarland.

Das Spiel wurde in verschiedenen Variationen gespielt. Es wurde und wird behauptet, Angela Merkel habe sich von den neoliberal geprägten Leipziger Beschlüssen des Jahres 2003 weg bewegt; Jürgen Rüttgers lässt sich als Arbeiterführer feiern; Geißler tritt Attac bei und wettert gegen Gier und Kapitalismus und lobt dann Angela Merkel. Eine Skizze des strategisch wichtigen Spiels zur Vermittlung des Eindrucks, Angela Merkels CDU sei „sozialdemokratisiert“, findet sich auf den Seiten 344-351 meines Buches „Meinungsmache“. Dort beschreibe ich im Kapitel 20, „Meinungsmache zur Sicherung von Macht und Einfluss“, wie sich die Union gekonnt vielfältige Wählergruppen und zugleich die neue Koalitionsoption Schwarz-Grün erschlossen hat. Weil man das Rad nicht immer wieder neu erfinden muss, füge ich den Text am Schluss an.

Die Strategie der Union, sich das Image einer sozialdemokratischen Partei zu geben, war ausgesprochen erfolgreich. Diese Vorstellung wird inzwischen von vielen, gerade auch im so genannten Bildungsbürgertum, geteilt. Sie wird von vielen Medien geteilt und weiterverbreitet. Beispielhaft sei auf zwei Medienprodukte desselben Tages, des 7.10.2009, hingewiesen: einmal auf den Beitrag „Rechtsruck? Ach was“ von Cora Stephan im Deutschlandradio Kultur

Dort heißt es:

Man kann sie alle beruhigen, die nun zittern – da ja doch “die Rechte” die Wahl gewonnen habe. Aber woher denn. Angela Merkel hat die Wahl gewonnen, jene Frau, die es geschafft hat, die Christdemokratische Partei Deutschlands in eine aus tiefstem Herzen sozialdemokratische Kraft umzuformen.

Das ist toll, aber kaum toller als bei Heribert Prantl in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung vom 7.10.:

Die Parteien haben voneinander einiges gelernt. Die CDU von der SPD eher das Richtige; die SPD von der CDU gewiss das Falsche. Die CDU hat seit 2005 ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik erfolgreich sozialdemokratisiert; das hat ihr eher gutgetan. Die SPD dagegen hat ihre Parteikultur christdemokratisiert; das hat ihr furchtbar geschadet, das hat sie fast kaputtgemacht.

Wenn man sich die Politik der Union mit Angela Merkel in den vergangenen Jahren anschaut – die großzügige Hilfe an die Finanzindustrie, die Verweigerung von allgemeinen Mindestlöhnen, die Privatisierung von wichtigen öffentlichen Einrichtungen, die Einführung von Studiengebühren, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und zugleich weitere Senkung der Unternehmenssteuern und so weiter – wo ist da die Sozialdemokratisierung? Auch bei dem, was jetzt programmatisch für Schwarzgelb in der Zukunft besprochen wird, zeichnet sich diese Sozialdemokratisierung nicht ab.

Wir werden in einer Serie die kommende Programmatik und die Taten von Schwarz-gelb auf die Behauptung von der Sozialdemokratisierung spiegeln: „Von wegen Sozialdemokratisierung“ wird die Serie heißen. Von Herzen würden wir übrigens wünschen, diese Serie müsste gar nicht beginnen oder gleich wieder einschlafen.

Der kleine Widerhaken im Kopf

In den Mails von neuen NachDenkSeiten-Nutzern wie auch in Gesprächen mit Lesern meiner Bücher, insbesondere von „Meinungsmache“, taucht immer wieder ein Motiv auf: wir hätten ihnen geholfen, wieder zweifeln zu lernen; wir hätten geholfen, die Welt und vor allem die Medien anders zu sehen. In der Tat: es wird Viele geben, die beispielsweise die Einlassungen von Cora Stephan und Heribert Prantl mit Nicken begleiten, und es wird solche geben, die in diesen Texten das Ergebnis und das Medium bewusst angelegter Strategien der Meinungsbeeinflussung erkennen. Letztere haben eine Art Widerhaken im Kopf. Sie wissen, dass es die bewusst betriebene Manipulation gibt. Die Anderen nehmen quasi alles für bedenkenswert, was ihnen serviert wird. Für sie gilt: Wer nicht wahrnimmt, welche Rolle die gezielte Meinungsbeeinflussung spielt, wird viel Zeit mit falschen Analysen vergeuden.

An vielen Beispielen lässt sich zeigen, wie das Publikum in die beiden Gruppen zerfällt:
Die einen glauben zum Beispiel, Peer Steinbrück sei der beste Finanzminister nach Helmut Schmidt gewesen; die andern wissen um seine Verstrickung mit der Finanzindustrie und sehen mit Grausen, dass er zusammen mit Angela Merkel unseren Kindern und Enkeln mit Hunderten von Milliarden für die Banken und Versicherungen eine schwere Last aufgebürdet hat.

Die einen glauben wirklich, der demographische Wandel zwinge zur Förderung der Privatvorsorge; die anderen wissen, dass Banken und Versicherungen die demographischen Veränderungen missbrauchen, um mit der Angst der Menschen Geschäfte zu machen.

Die einen glauben, die Schrödersche und Merkelsche Reformpolitik hätte einen Wirtschaftsboom und 2 Millionen neue Arbeitsplätze gebracht; die andern wissen, dass die neuen Arbeitsplätze im wesentlichen unwürdige Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeitsplätze und Minijobs brachten und der angebliche Aufschwung schon vor der Finanzkrise mangels Binnennachfrage zusammenbrach.

In den letzten Tagen sprach ich mit einem Freund, einem gebildeten Menschen und typischen Leser der „Zeit“ über das Problem der „Meinungsmache“. Ich skizzierte die politischen Entscheidungen und Vorhaben, die dem öffentlich bekundeten Image der Sozialdemokratisierung von Frau Merkels Union widersprechen. Und wir sprachen über die tatsächliche Rolle von Peer Steinbrück. Und über das Versagen des so genannten Bildungsbürgertums. „Vielleicht sollten wir doch mehr wissen“, das war sein ermunterndes Resümee. Mit dem Wissen wächst der Zweifel.

Die einen glauben eben daran, die Union habe sich von ihrem neoliberalen Leipziger Glaubensbekenntnis entfernt und sei sozialdemokratisiert; die andern durchschauen das als gelungenen Trick zur Erweiterung des Images und damit auch der Koalitionsoptionen.

Eine Ansammlung der gängigen Glaubensmuster finden Sie übrigens in einem Beitrag des Herausgebers der Zeit, Michael Naumann vom 11. Oktober mit dem Titel „Ein Jahrzehnt. Oder zwei“ . Sie müssen dieses – gut geschriebene – Dokument des Unwissens nicht unbedingt lesen. Sie sollten sich aber auf jeden Fall das Foto am Beginn des Artikels anschauen. Es zeigt einen Blick ins Willy-Brandt-Haus und auf die Statue Willy Brandts. Die Bildunterschrift lautet: „Wohin mit der SPD? Im Konrad-Adenauer-Haus berät man über Umstrukturierungen der Partei“. Zumindest die Macher der Bildunterschriften bei der Zeit haben verstanden, dass das Hauptelend der SPD ihre Fremdbestimmung ist.

Und jetzt der
Auszug aus „Meinungsmache“, Kapitel 20 „Meinungsmache zur Sicherung von Macht und Einfluss“, Seite 344-351:
(Dieser Text stammt aus dem Manuskript; er kann in kleinen Details vom gedruckten Text abweichen)

Wie man Mehrheiten gewinnt

Angela Merkel und die Union können sicher sein, dass ihre Machterhaltungs- und Machtsicherungsstrategie von den Medien und Meinungsmachern nicht gestört, sondern unterstützt und gefördert wird. Das lässt sich an zwei zentralen strategischen Linien zeigen:

  • Anhand der für Volksparteien wichtigen Frage, ob es gelingt, die nötige Breite der Wähleransprache zu erreichen und abzusichern.
  • Anhand der Frage nach der Erweiterung der Koalitionsoptionen.

Beide Fragen sind miteinander verbunden. Wie diese Ziele zu erreichen sind, lässt sich am besten dann nachvollziehen, wenn wir uns in die Rolle von Strategen der Union versetzen.

Erstens: Neue Wählergruppen erschließen
Als Planer einer Volkspartei weiß man, dass man den für den Führungsanspruch notwendigen Wähleranteil von 40 Prozent plus nur dann erreicht, wenn man ein breites Spektrum anspricht, den Mittelstand und die sich der Wirtschaft nahe Fühlenden genauso wie die Arbeitnehmer und ihre Familien; Menschen, die an traditionellen Familienstrukturen hängen, genauso wie Personen mit einem emanzipatorischen und individualistischen Lebensstil; Menschen, die den technischen Fortschritt hochhalten und alles realisieren wollen, was möglich ist, genauso wie ökologisch engagierte Kreise.

Als Planer von CDU und CSU weiß man, dass die andere Volkspartei, die SPD, dann hervorragende Wahlergebnisse erreicht hat, wenn sie diese Breite der Ansprache beherrschte, so zuletzt 1998, als Schröder und Lafontaine gemeinsam Wahlkampf machten und der eine, Gerhard Schröder, eher die Aufsteiger ansprach, während der andere, Oskar Lafontaine, eher die an sozialer Gerechtigkeit und an ökologischer Erneuerung Interessierten ansprach. Auch Helmut Schmidts äußerst knapper Wahlsieg von 1976, als Helmut Kohl für die Union 48,6 Prozent erreichte, war der Arbeitsteilung mit dem Parteivorsitzenden Willy Brandt zu verdanken. Wenn es diese Arbeitsteilung zwischen Brandt und Schmidt nicht gegeben hätte, dann hätte Helmut Schmidt die Kanzlerschaft schon 1976 an Helmut Kohl verloren. Und das herausragende Ergebnis der SPD von 1972 ist ohne eine breit angelegte Zielgruppenplanung gar nicht denkbar[1]

Auch die CDU und vor allem die CSU haben ihre großen Erfolge nur dann geschafft, wenn sie über den engeren Bereich traditionell wirtschaftsfreundlicher Wählerinnen und Wähler hinaus die Arbeitnehmerschaft bis hin zu gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anzusprechen vermochten. Früher gab es dafür einen starken Arbeitnehmerflügel – lange Zeit versammelt um Hans Katzer, später um Norbert Blüm. Auf dem Leipziger Parteitag im Dezember 2003 jedoch wurde Norbert Blüm ausgepfiffen; Angela Merkel und die CDU legten sich auf einen einseitig wirtschaftsfreundlichen, neoliberalen Kurs fest. Das kam beim CDU-Wirtschaftsflügel gut an, aber es war nach Meinung einiger Kenner der Materie eine der Ursachen dafür, dass CDU und CSU bei der Bundestagswahl 2005 ihr selbstgestecktes Ziel, gemeinsam mit der FDP die neue Regierung zu bilden, nicht erreichten.
In dieser Situation wird man als Planer der CDU/CSU dringend empfehlen, zumindest eine Imageerweiterung vorzunehmen, die sowohl den sozialen als auch den ökologischen Bereich umfassen sollte. Als Stratege wird man auch empfehlen, diese Imageerweiterung an Personen festzumachen und zur Erleichterung der Meinungsbildung Konflikte zwischen einzelnen Personen und Gruppen zuzulassen. Als Zuschauer und Zuhörer kennen wir die Ergebnisse dieser strategischen Planung:

  • Angela Merkel und eine Reihe anderer Unionspolitiker kritisieren laut und mit harten Worten „den Kapitalismus“. Das kommt bei Linken gut an, auch bei solchen innerhalb der Grünen. Taten müssen daraus nicht folgen.
  • Sie beschweren sich lautstark über die „Gier“ der Manager und der Spitzenverdiener. Das hindert sie aber nicht daran, sich gegen die Einführung von allgemein geltenden Mindestlöhnen zu stellen, Hedgefonds weiter steuerbefreit Tür und Tor zu öffnen, großen Vermögen mit einer Erbschaftssteuerreform noch mehr unter die Arme zu greifen und zu Lasten der Steuerzahler die Wettschulden der Banken zu übernehmen.
  • Jürgen Rüttgers, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, profiliert sich als Arbeiterführer, er macht Vorschläge für eine Verlängerung des Arbeitslosengelds. Zwischen Merkel und Rüttgers gibt es Streit, Merkel beklagt sich über Rüttgers. Das läuft zwar der gängigen Meinung zuwider, für den Erfolg einer Volkspartei sei Geschlossenheit das Wichtigste, aber es hilft der Profilierung. Im Konflikt mit Rüttgers genauso wie im Konflikt mit der CSU.
  • Angela Merkel profiliert sich als Klimaschützerin. Sie reist zum Nordpol und empfängt Al Gore. Das kostet nichts. Ansonsten werden Straßen gebaut, Autobahnen privatisiert und erweitert und die Bahn aus der Verpflichtung entlassen, die ökologisch wichtige flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Pkws und die naheliegende und notwendige Kerosinbesteuerung für Flugzeuge gibt es in Deutschland auch nicht.
  • Die Bundeskanzlerin profiliert sich als Menschenrechtlerin, beklagt sich über China, empfängt den Dalai Lama und parliert mit Alice Schwarzer – alles wichtige Signale mit Blick auf bisher der Union wenig geneigte Zielgruppen.

Die Image-Erweiterung der Union seit dem Leipziger Parteitag vom Dezember 2003 ist professionell gemacht und sehr erfolgreich. Es waren zwar auch einige sachliche Korrekturen notwendig wie etwa beim Arbeitslosengeld I, aber diese Korrekturen betrafen nie den Kern der eigenen Position. Trotzdem hat es die Union erreicht, dass gesagt und geglaubt wird, Angela Merkel und ihre Partei hätten sich von Leipzig wegbewegt, der Dresdner Parteitag von 2007 habe die „Rückwende zum Sozialen“ eingeleitet, wie die FAS schreibt.[2] Das geht so weit, dass einige Wissenschaftler und auch Vertreter der Jungen Union warnend von einer Sozialdemokratisierung der Union sprechen. Und Friedrich Merz geißelt den angeblichen Linksruck der Union. [3]

Doch all das ist nicht das Spiegelbild der faktischen Politik, es sind Ergebnisse von Meinungsmache. Die politische Realität ist gekennzeichnet von Mehrwertsteuererhöhung und Unternehmensteuersenkungen, von Privatisierung und Ausverkauf, von Härte gegenüber den Schwächeren, von der Auslieferung unserer Universitäten an die Wirtschaft und von Rettungsschirmen für die Großen der Finanzindustrie. An der Agenda 2010 wird nur verbal gerüttelt. Tatsächlich stehen vermutlich neue Reformen dieser Art ins Haus. Tatsächlich hat die Regierung Merkel nichts getan zur besseren Kontrolle von Hedgefonds und der anderen großen Finanzgruppen. Ganz im Gegenteil: Sie werden weiter gefördert. Man hat den Eindruck, dass die Finanzwirtschaft nicht nur nahe am Ohr des sozialdemokratischen Finanzministers, sondern auch an dem der Bundeskanzlerin ist.

„Ist Leipzig Geschichte?“ fragte die Zeit in einem Bericht über den Dresdner Parteitag.[4] Der Vorsitzende des Wirtschaftsrats der Union, Kurt Lauk, antwortete: „So ein Quatsch!“ Eine Abkehr von Leipzig? „Schauen Sie doch mal in den Leitantrag, den die CDU auf diesem Parteitag verabschiedet hat!“ Der sei ein Spiegelbild der Forderungen des Wirtschaftsrats. Das würde man bei der ganzen Sozialrhetorik bloß nicht so mitbekommen, berichtete die Zeit.

An den Äußerungen und Aktionen eines der Strategen der Union, von Heiner Geißler, werden die Konzeption und der Erfolg der Strategie des breiten Auftritts besonders deutlich: So ist Geißler zum Beispiel 2007 der Organisation attac beigetreten und hat wenig später verlautbart, die Ziele von attac und von Angela Merkel seien identisch. Damit hat er den Aktionsradius der Bundeskanzlerin erweitert und ihr ein Terrain von Personen und Gruppen zugänglich gemacht, das ihr und der Union bisher verschlossen war.

Geißler betreibt diese Strategie zur Image-Erweiterung für seine Partei konsequent und mit bemerkenswerter Phantasie. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung beispielsweise sagte er, Schröder habe mit der Agendapolitik die Seele der SPD verkauft, die Agenda 2010 habe Millionen Menschen enteignet und arm gemacht, und es sei Schröder und nicht Oskar Lafontaine, der dafür gesorgt habe. Der Kapitalismus sei nicht die Wirtschaftsform des Grundgesetzes, meinte Geißler, er könne sich einen humanen Sozialismus vorstellen; seine Parole für die Union wäre „Solidarität statt Kapitalismus“.[5] Nach der Lektüre solcher Sätze wundere ich mich nicht mehr sehr darüber, dass ein so kritischer Zeitgenosse wie Günter Wallraff sagt, er stimme heute in vielen Dingen politisch mit Heiner Geißler überein.

Dass auch Günter Wallraff von Rüttgers „sozialen Vorschlägen“ spricht, zeigt, wie erfolgreich die Imageprägung ist.
Welche Politik tatsächlich realisiert wird, zeigen dagegen die unverblümten Äußerungen von Innenminister Wolfgang Schäuble:

CDU-Präsidiumsmitglied Wolfgang Schäuble sagte, das Thema soziale Gerechtigkeit sei zwar bedeutsam, müsse aber ‚in der globalen Perspektive’ gesehen werden. Der Bundesinnenminister fügte hinzu: ‚Natürlich ist die Spanne zwischen denen, die bei uns nicht ruhig schlafen können, weil sie für ihr ererbtes Millionenvermögen Steuern zahlen müssen, und denen, die mit Hartz IV auskommen sollen, gewaltig. Aber wenn wir uns anschauen, wie die Lebenschancen für Chinesen, für Inder oder für Südamerikaner sind, relativiert sich das.[6]

Geißler ist ein exzellentes Demonstrationsobjekt für die Strategie, eine Volkspartei breiter aufzustellen. Man hat den Eindruck, die Medien und die sonstigen Beobachter vor allem in der Wissenschaft haben ihre Freude an dieser gekonnten Wahlkampfstrategie. Die eigentlichen Größen im Hintergrund, die Vertreter des Wirtschaftsrats der Union und der Wirtschaft insgesamt, wissen sehr genau, dass es in ihrem Interesse ist, wenn die Union ihr Image in Richtung Soziales und Ökologisches erweitert und zugleich mit wenigen Abstrichen jene Politik macht, die in ihrem und insbesondere im Interesse der nationalen und internationalen Finanzwirtschaft ist.

Zweitens: Neue Koalitionsoptionen erschließen
Gelingt diese Strategie zur breiten personellen und programmatischen Aufstellung und die gezielte Ansprache des Multiplikatoren- und Wählerpotentials links von der Union, ist damit zugleich die Grundlage für eine neue Koalitionsstrategie geschaffen, die in Hamburg schon realisiert worden ist: Die Verbreiterung des Images zielt auch darauf, die Bildung von schwarz-grünen Koalitionen zu erleichtern für den Fall, dass es mit der FDP alleine nicht reicht. Um schwarz-grüne Koalitionen zu ermöglichen, müssen Brücken im ökologischen und im sozialen Bereich geschlagen werden. Die Doppelstrategie der Union, einerseits die Sozialdemokratie voll für die Agenda 2010 und die unseligen Reformen haftbar zu machen und andererseits mit Hilfe von Rüttgers, Geißler und der CSU selbst ein soziales Image aufzubauen, dient diesem Zweck.

Für die einst undenkbare Koalition aus Schwarz und Grün haben nicht nur die genannten Personen Vorarbeit geleistet. Andere waren im Hintergrund damit beschäftigt, diese neue Koalitionsoption zu öffnen. Zum Beispiel der frühere Abteilungsleiter beim CDU-Vorstand und Mitarbeiter Geißlers in dessen Zeit als Generalsekretär, Warnfried Dettling, der mit seinen Artikeln – oft in der taz – in das linke und grüne Wählerpotential hineinwirkt. Oder der Politikwissenschaftler Joachim Raschke, der mit mehreren Beiträgen Schwarz-Grün in Hamburg mit vorbereitet hat. Als besonderes Prädikat einer schwarz-grünen Koalition hat Raschke herausgestellt, dass sich die beiden Parteien deutlich unterscheiden. Nach dieser neuen Theorie kommt es also bei Koalitionsbildungen nicht auf möglichst viele Gemeinsamkeiten und Schnittmengen an, sondern man muss sich ergänzen. Wenn man dieses Argument ein paarmal herumdreht, dann wirkt es sogar schlüssig. Jedenfalls nach einem ordentlichen Quantum Meinungsmache.

Ohne vorbereitende Meinungsbildung wäre der Brückenschlag von Hamburg nicht möglich gewesen und wären auch weitere Brückenschläge nicht möglich. Wie groß die Rolle der Meinungsmache im Vorfeld solcher politischen Entwicklungen ist, kommt einem erst dann so richtig zu Bewusstsein, wenn man sich die Gegenseite anschaut: die Optionsverengung auf Seiten der SPD und den Niedergang der SPD und ihres Personals bei Wahlen und Umfragen.


[«1] Eine Analyse dieser Zielgruppenplanung – später „Scheibchenmodell“ genannt – findet sich in Albrecht Müller: Willy wählen ’72, Annweiler 1997, S. 138 ff.

[«2] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.11.2006

[«3] Spiegel-Online vom 23.4.2008

[«4] Die Zeit vom 4.12.2008

[«5] Süddeutsche Zeitung vom 14.7.2008

[«6] PR inside vom 16.7.2008


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