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Titel: Koalitionsvertrag: Kein Aufbruch, keine Dynamik, kein Zusammenhalt, sondern Merkantilismus. Von Heiner Flassbeck.

Datum: 14. Februar 2018 um 9:06 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Bundesregierung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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„Der Koalitionsvertrag besteht aus vielen Worten, besitzt aber wenig Inhalt. Er hält genau das nicht, was er verspricht, sondern ist ein Programm zur verschärften Fortsetzung des deutschen Merkantilismus.“ – Dieser Hinweis auf den merkantilistischen Charakter der Wirtschaftspolitik der wahrscheinlichen Koalition ist ausgesprochen wichtig. Es folgt der Text des Beitrags von Heiner Flassbeck in Makroskop. Danke für die Überlassung. Albrecht Müller.

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD beeindruckt schon durch sein schieres Volumen (hier kann man ihn anschauen). Bei fast zweihundert Seiten kann man sicher sein, dass sich viele SPD-Mitglieder sagen, wo so viel Arbeit unserer besten Leute drin steckt, das kann ja nicht alles falsch sein. Liest man dann noch die wohlklingende Präambel sorgfältig, ist man eigentlich fest davon überzeugt, dass es sich bei dem Vertrag um ein Werk handelt, bei dem die sozialdemokratische Handschrift offensichtlich und stark ist.

Auch der schöne und nicht einmal falsche Satz, den derzeit wirklich jeder sozialdemokratische Mandatsträger in jedes verfügbare Mikrophon sagt, dass es nämlich gelungen sei, an ganz vielen Stellen die konkrete Lage der Menschen in Deutschland zu verbessern, dürfte seine Wirkung nicht verfehlen. Folglich werden die Mitglieder der SPD in den nächsten Tagen der großen Koalition zustimmen, wenn es nur gelingt, die Berliner Chaostage schnell vergessen zu machen. Doch ein Urteil über den Koalitionsvertrag, das man auf den Satz von den vielen kleinen Verbesserungen stützt, ist am Ende dennoch ein krasses Fehlurteil.

In der Tat geht es in Deutschland und Europa, wie die Überschriften des Vertrages es richtig ausdrücken, um Aufbruch, um Dynamik und um Zusammenhalt. Doch bei allen drei Sachverhalten bietet der Vertrag weniger als Nichts. Liest man dann noch etwas genauer, erkennt man schnell, dass der Vertrag den Geist des Ewiggestrigen atmet. Insbesondere beim Zusammenhalt und bei Europa, wo sich die Sozialdemokraten Aufbruch und Erneuerung besonders dick auf die Fahnen geschrieben haben, kann man nicht umhin, den Vertrag als Mogelpackung zu bezeichnen.

Warum ist er so dick?

Zunächst muss man feststellen, dass die Dicke dieses Vertrages kein Ausweis von Güte und Gründlichkeit, sondern von schierer Phantasielosigkeit ist. Ein solch dickes Werk entsteht nämlich dadurch, dass die amtierende Regierung alle Ressorts (und in den Ressorts alle Referate) bittet, auf der Basis der bisherigen Arbeit Fortschreibungen für die nächsten vier Jahre zu machen, die, wo es angebracht ist, auch die Wahlprogramme der an der Regierung zu beteiligenden Parteien berücksichtigen. Daraufhin setzen sich unzählige Beamte in unzähligen Referaten hin und schreiben das auf, was sie angesichts der politischen Lage in ihrem jeweiligen Bereich für sinnvoll und möglich halten. Daraus entsteht dann ein dickes Konvolut, das die Parteien wieder auseinanderpflücken und in Sachbereiche einteilen, bevor sie sich daran machen, die Sätze anzuschauen und noch einmal zu überprüfen, was zu ihrer Programmatik passt und was nicht.

Schon dieses Verfahren bringt genau das Gegenteil von Aufbruch zustande, weil es ja explizit „piecemeal social engineering“ (K. R. Popper) ist, also das Vermeiden eines großen Wurfs zugunsten der Fortschreibung des Bisherigen. Wer wirklich Aufbruch und Dynamik will, hätte all die hunderte von Winzigkeiten, die in dem Vertrag drin stehen, zugunsten einer Idee oder einer politischen Vision geopfert, die sich auf wenigen Seiten aufschreiben lässt.

So aber lernt der erstaunte Leser, dass man „bundeseinheitliche Regelungen für eine Zertifizierung von 
Jagdmunition mit optimaler Tötungswirkung bei gleichzeitiger Bleiminimierung“ und einen Schießübungsnachweis für die Jäger- und Falknerausbildung sowie -prüfung schaffen“ will. Wie schön! Auch dass „Einbrüche in Tierställe als Straftatbestand“ effektiv zu ahnden sind, war bisher nicht auf unserer politischen Agenda. Wer das alles nicht wissen will, für den genügt es, sich mit den wenigen programmatischen Sätzen zu begnügen, die in der Präambel und in der Einführung in die Europaproblematik stehen.

Hehre Ziele …

Dort aber findet man auf den ersten Blick beeindruckende Sätze wie die folgenden:

Unser Ziel ist ein nachhaltiges und inklusives Wachstum, dessen Erträge allen zugutekommen. Wir wollen die kreativen Potenziale in Deutschland mobilisieren und die Chancen der Digitalisierung nutzen. Deutschland braucht wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt,
an dem alle teilhaben. 


Wir wollen, dass der Wohlstand bei allen Menschen ankommt. Das Wahlergebnis hat 
gezeigt, dass viele Menschen unzufrieden und verunsichert sind. Daraus ziehen wir mit dem vorliegenden Koalitionsvertrag und seiner Politik die entsprechenden 
Schlüsse. Wir wollen sichern, was gut ist, aber gleichzeitig den Mut zur politischen Debatte, zu Erneuerung und für Veränderung beweisen. 


Die Soziale Marktwirtschaft, die auf Unternehmensverantwortung, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und einer fairen Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands beruht, braucht eine Renaissance, gerade in Zeiten der Digitalisierung.


Man fragt sich nur, warum die neue GroKo an dieser zentralen Stelle kein Wort über die heute bestehende Ungleichheit verliert, und wie sie für die Zukunft die Teilhabe aller Menschen sicherstellen will, erfährt man auch nicht. Wer jedoch bei großer akuter Ungleichheit so tut, als ginge es nur darum, die Ungleichheit nicht größer werden zu lassen, wendet den gleichen Taschenspielertrick an, den man dauernd von deutschen Mainstreamökonomen vorgeführt bekommt (vgl. meine Kritik daran hier und hier).

…. aber keine Taten

Statt ehrlicherweise zu fragen, was die Umverteilung der vergangenen Jahre gebracht oder aber nicht gebracht hat (Investitionstätigkeit der Unternehmen ist hier das entscheidende Stichwort), beteuert man, für die Zukunft alles besser machen zu wollen und weitere Ungleichheit nicht mehr zulassen zu wollen. Auf diese Weise kann man sich vollständig vor der Rückverteilung drücken, die angesichts der funktionslosen Umverteilung der vergangenen 20 Jahre unbedingt notwendig wäre (siehe hier einen Beitrag dazu). Die SPD macht sich dadurch in der gleichen Weise wie große Teile des deutschen Journalismus zu einem Nebelwerfer des Neoliberalismus.

Dazu passt auch, dass man die entscheidende Fehlentwicklung, die unsere heutige Marktwirtschaft von der berühmten Sozialen Marktwirtschaft der ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik fundamental unterscheidet, nicht zur Kenntnis nimmt bzw. nehmen will. Man kann schlechthin nicht ernsthaft von einer Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft reden, wenn man verschweigt, dass heute die Unternehmen eine fundamental andere Rolle spielen als zu Zeiten des sogenannten Wirtschaftswunders. Heute sind die Unternehmen nicht nur die Gewinner der Umverteilung der vergangenen Jahrzehnte, sondern sie sind Netto-Sparer geworden. Sie sind damit zu einem Sektor der Volkswirtschaft geworden, der nicht wie in der Vergangenheit hilft, das entscheidende Problem jeder Wirtschaft zu lösen, nämlich die Anregung der Investitionstätigkeit trotz des bremsenden Sparens. Nein, die Unternehmen insgesamt vergrößern das Sparproblem, womit unmittelbar klar ist, dass sie die Umverteilung zu ihren Gunsten nicht verdient haben.

Wer in dieser Situation, wie das die neue GroKo vor hat, strikt an der schwarzen Null festhält, also an einem sparenden Staat, dem bleibt logischerweise nur eine einzige Möglichkeit, das Sparproblem zu lösen. Man muss, um eine geflügeltes Wort aus der SPD zu benutzen, Exportüberschüsse produzieren bis es quietscht.

Merkantilismus als Programm

Und in der Tat, wenn etwas diesen Koalitionsvertrag auszeichnet, dann ist es das Bekenntnis zur Fortsetzung des deutschen Merkantilismus ohne Rücksicht auf Verluste. Das klingt dann so:

„Auch in Zukunft wollen wir unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern. Deutschland braucht ein weltweit wettbewerbsfähiges Steuer- und Abgabensystem. Offene Märkte und freier und fairer Handel sind Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung, Protektionismus lehnen wir ab. Wir setzen uns im Rahmen der Welthandelsorganisation für ein regelbasiertes, multilaterales Handelssystem ein.“ 


Oder so:

„Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit der EU und ihre Wachstumskräfte im Kontext der Globalisierung stärken, um zukunftsgerechte Arbeitsplätze in der EU zu sichern und neue zu schaffen: Das ist die Basis unseres künftigen Wohlstands.“

Wachstum und Beschäftigung gibt es in der Welt der Großkoalitionäre nur über die Handelsschiene im Gefolge einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Das ist Merkantilismus pur (vgl. dazu den Beitrag hier und das treffende Zitat des obersten Merkantilisten von 1664). So wundert es nicht, dass im Vertrag die Suche für das Wort „Wettbewerbsfähigkeit“ sage und schreibe 25 Ergebnisse erbringt. Deutschland betreibt Protektionismus in Form von Exportförderung durch Lohndumping und behauptet dreist, Protektionismus abzulehnen.

Dass man das merkantilistische deutsche Rezept auf ganz Europa übertragen will, macht es ja nicht besser, sondern ist Ausdruck der intellektuellen Unfähigkeit der gesamten politischen Spitze in Berlin, zu begreifen, dass europäischer Merkantilismus keinen Gegenpart in der Welt findet und die USA darauf – zu Recht – mit massiver Begrenzung des Handels reagieren würden.

Das heißt im Ergebnis nichts anderes, als dass Deutschland einerseits mit diesem europäischen Merkantilismus die eigentlich notwendige Dynamik der Binnennachfrage abwürgen wird und, trotz seiner langatmigen Bekenntnisse zu Europa, an der Politik des Exports von Arbeitslosigkeit in die europäischen Nachbarstaaten und den Rest der Welt festhalten will. Bezeichnend dafür ist, dass man über einhundert Mal fündig wird, wenn man das Wort „Europa“ sucht, aber kein einziges Mal bei „Europäische Währungsunion“ oder „EWU“; kein einziges Mal findet man auch das Wort „Ungleichgewicht“ oder „Handelsungleichgewicht“, kein einziges Mal „Leistungsbilanzüberschüsse“.

Deutschland gegen Lohndumping der anderen!

Das alles könnte man noch als die übliche deutsche Handelsideologie abtun, aber dann kommt eine Aussage, die in aller Klarheit zeigt, wie skrupellos und vollkommen kaltblütig hier rein deutsche Unternehmenspolitik exekutiert wird:

„Wir wollen einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln. Wer konsequent gegen Lohndumping und soziale Ungleichheiten in wirtschaftlich schwächeren Ländern in Europa kämpft, sichert auch den Sozialstaat und die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland.“

Das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. Deutschland, der größte Lohndumper des Jahrhunderts, maßt sich an, gegen soziale Ungleichheit in wirtschaftlich schwächeren Ländern und deren „Lohndumping“ vorzugehen. Und das, um den Sozialstaat in Deutschland zu sichern! Wohlgemerkt, Lohndumping in ärmeren Ländern heißt nicht, dass in diesen Ländern wie in Deutschland die Löhne hinter der Produktivität zurückbleiben, sondern nur, dass die Löhne niedrig sind wegen der dort nun einmal niedrigen Produktivität. Diese Sätze findet übrigens offenbar auch der deutsche Gewerkschaftsbund gut, dessen Chef den SPD-Mitgliedern öffentlich Zustimmung empfohlen hat.

Dieser Vertrag richtet Schaden an. Selbst wenn er mit vielen kleinen Maßnahmen die Lage der Menschen in Deutschland verbessert, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in Europa in großem Maße Schaden anrichten wird, dessen politische Auswirkungen früher oder später auf Deutschland zurückfallen. Die SPD hat bisher schon fast jede Glaubwürdigkeit in Sachen Ungleichheit, sozialen Zusammenhalt und bei der Wirtschaftspolitik eingebüßt. Wenn sie diesen Vertrag unterschreibt, wird sich ihr Abwärtstrend fortsetzen und bei den nächsten Wahlen wird die Fünf-Prozent-Hürde in Sichtweite kommen.


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