Titel: Sich erneuern in der Opposition oder in der Regierung? Anmerkungen zum Sonderparteitag der SPD und der Rolle des Juso-Vorsitzenden.
Mein Vorurteil zur Rolle von Kevin Kühnert war positiv. Kommentare verschiedener Absender zur Rede Kühnerts waren das ebenfalls. Beispielhaft im Morningbriefing des Handelsblatts. Ich wollte das genau wissen und habe mir, wie erwähnt positiv eingestimmt, die Rede angehört. (Übrigens auch jene der schreienden Andrea Nahles, die darob schon zur künftigen SPD-Chefin hochstilisiert wird.) Was hat denn der Juso-Vorsitzende beim Sonderparteitag gesagt? War darunter Bedeutsames? War darunter Wegweisendes für die von ihm angestrebte Oppositionsrolle? Wenn Sie Zeit und Lust haben, dann prüfen Sie das mal selbst. Albrecht Müller.
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In Stichworten will ich wiedergeben, was er gesagt hat, und was aus meiner Sicht gefehlt hat:
- Die SPD habe schon schwierigere Zeiten gemeistert. Also es gehe nicht um das Ende der Geschichte.
- Es gehe nicht um die Ergebnisse der Sondierungsgespräche und um die Frage, ob darin genügend Substanz enthalten sei, also nicht um die Seite XY und um die „Spiegelstriche“ da und dort. Es sei Substanz im Papier. Die SPD-Verhandler hätten gut verhandelt.
- Aber die Gemeinsamkeiten seien nach zwölf Jahren Merkel aufgebraucht.
- Es gehe um eine Vertrauenskrise. Die verschiedenen Kehrtwenden hätten Vertrauen gekostet.
- Auch Vertrauen untereinander, d. h. zwischen den Sozialdemokraten. Es gebe da ein „wir“ und „die anderen“ in der Partei.
- Die Sozialdemokraten machten sich klein, so der Juso-Vorsitzende, dadurch, wie sie in der Regierung auftreten. Wie die Pressesprecher der Bundesregierung.
- Außerdem empört den Juso-Vorsitzenden, wie die Union mit „uns umgeht“. Die Union schreibe seit Jahren bei „uns“ an.
- Außerdem würden die Sozialdemokraten in ihren Programmen immer schon den Kompromiss mit der Union vorwegnehmen
- Es dürfe nicht so weitergehen. Die SPD-Führung könne auch nicht verkünden, sie habe ein hervorragendes Verhandlungsergebnis bei den Sondierungsgesprächen erreicht, und es dann selbst zerpflücken.
- Es komme jetzt auf Erneuerung und auf einen Vertrauensbeweis an, und nicht auf die Spiegelstriche.
- Erneuerung ist nach Meinung des Juso-Vorsitzenden offenbar nur in der Opposition möglich.
Kritische Anmerkungen zu dieser Rede:
- Meines Erachtens hat die SPD noch nie so schwierige Zeiten gehabt. Wenn sie weiter so wenig durchschlagende Inhalte hat wie bisher in den letzten Jahren, wenn sie sich inhaltlich nicht deutlicher profiliert und unterscheidet von der Union, dann werden die Zeiten noch schwieriger und dann geht es mit ihr wie mit anderen europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten weiter bergab.
- Der Juso-Vorsitzende hat in seiner Rede nichts zur inhaltlichen Profilierung beigetragen. Im Gegenteil, mit einem ausdrücklichen Lob für das Sondierungsergebnis und mit dem Herunterspielen der Bedeutung der inhaltlichen Positionen mittels seiner Anmerkungen über Spiegelstriche im Sondierungspapier hat Kevin Kühnert jenen einen Bärendienst erwiesen, die sich um mehr Inhalte bemühen. Zum Beispiel der Versuch der NachDenkSeiten, im Großen und im Kleinen aufzuführen, was die nächste Regierung leisten müsste, und was beim Sondierungsergebnis fehlt.
- Kein Wort zum fehlenden Programmelement, an die alte Entspannungspolitik anzuschließen und sich mit Russland zu verständigen.
- Kein Wort zur Rüstung.
- Kein Wort zum imperialen Verhalten der USA und den daraus schon in den nächsten vier Jahren folgenden Problemen unseres Landes.
- Kein Wort zu den Freihandelsabkommen CETA und TTIP.
- Kein Wort dazu, dass die SPD endlich ein Wort des Bedauerns über die Agenda 2010 finden müsste und diese Fehler grundlegend korrigieren müsste.
- Kein Wort zum Skandal der Einkommens- und Vermögensverteilung und den daraus konkret folgenden Vorstellungen zur Steuerpolitik und zum Kampf gegen die Steueroasen.
- Kein kritisches Wort zu den rentenpolitischen Vorstellungen im Sondierungspapier und bei Andrea Nahles.
- Kein Wort, allenfalls eine Andeutung, zur innerparteilichen Machtkonzentration auf die Seeheimer. Mit dieser bedrohlichen Verschiebung wird man nicht fertig, wenn man als betroffener Juso-Vorsitzender nur Andeutungen macht.
Der Juso-Vorsitzende hat sich auch nicht ernsthaft mit der Frage beschäftigt, ob die Erneuerung der SPD in der Regierung oder in der Opposition besser gelingen könnte. Auf diese Frage wenigstens hätte er eine Antwort geben müssen. Dass dies in der Opposition besser gelinge, ist doch zunächst einmal nur eine nicht begründete Behauptung.
Damit will ich nicht für die Regierungsbeteiligung um jeden Preis werben. Ganz und gar nicht. Es kommt darauf an, was man dort durchzusetzen gewillt ist. Und das ist eben mangelhaft und diesen Mangel hat der Juso-Vorsitzende nicht aufgespießt.
Sich erneuern in der Opposition oder sich erneuern in der Regierung?
Darum wird gestritten. In beiden Situationen wird die Erneuerung nicht möglich sein, wenn man keine Vorstellungen davon hat oder zumindest entwickelt, was man anders machen will. Siehe oben.
Da ich alt genug bin, habe ich schon miterlebt, wie die SPD in einer großen Koalition Wichtiges durchgesetzt hat, auch im Konflikt mit dem größeren Partner CDU/CSU. Weil das offensichtlich nicht bekannt ist und weil man heute so tut, als wäre in einer Regierung diese Art Profilierung nicht möglich, möchte ich an sieben solcher Profilierungsakte, die mir spontan einfallen, erinnern:
- Die SPD hat 1968 in der Großen Koalition die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter durchgesetzt.
- Und sie hat zusammen mit der CDU/CSU die Umsatzsteuer zu Gunsten einer Regelung verändert, die die Konzentration der Wirtschaft in großen Unternehmen wenigstens nicht mehr förderte: den Ersatz der Allphasenumsatzsteuer durch die Mehrwertsteuer.
- Die SPD hat unter der Führung des damaligen Bundesaußenministers und Parteivorsitzenden Brandt mit der Ostpolitik begonnen, diese in Reykjavik bei unseren westlichen Partnern abgesichert und dann im Kabinett Kiesinger (CDU) umsetzen wollen. Darüber geriet sie wegen der von der Union befürchteten Anerkennung der DDR in einen Riesenstreit mit der CDU/CSU. Das ging unter dem Stichwort „Kambodschieren“ in die Geschichte ein. Die SPD hat in der damaligen Großen Koalition alles vorbereitet, um dann in der Regierung ab 1969 sofort mit der sogenannten Vertragspolitik zu beginnen, den Moskauer Vertrag, den Warschauer Vertrag, den Prager Vertrag usw. abzuschließen.
- Die SPD hat in der Großen Koalition unter der Federführung von Bundeswirtschaftsminister Professor Dr. Karl Schiller (SPD) zunächst mit dem Bundesfinanzminister Strauß (CSU) gemeinsam und dann im Konflikt mit ihm eine offensive expansive Beschäftigungspolitik durchgesetzt. Das war das Gegenteil der Schwarzen Null von heute.
- Die SPD hat dann beginnend 1968 und auf den Punkt gebracht im Jahr 1969 einen Riesenkonflikt mit der Union vom Zaun gebrochen. Sie hat die Aufwertung der D-Mark beantragt und dann nach gewonnener Wahl durchgesetzt. Die Parallele zu heute liegt auf der Straße. Auch damals gab es in Deutschland Exportüberschüsse. Aber diese Exportüberschüsse wurden zumindest vom SPD-Partner nicht über den grünen Klee gelobt, sondern zum Anlass genommen, eine Aufwertung der D-Mark durchzusetzen und die Exportüberschüsse abzubauen. Heute wäre unter anderen währungspolitischen Regelungen das Minimum die Durchsetzung einer expansiven Lohnpolitik. Damit auch andere Volkswirtschaften Europas atmen können. Es ist also eine vom Ansatz her große Parallele. Nichts davon steht im Sondierungspapier. Nichts davon in der Rede des Juso-Vorsitzenden.
- Die SPD hat damals zunächst mit Hans-Jürgen Wischnewski und dann profilierter mit dem Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler mit einer deutlich fortschrittlicheren Entwicklungspolitik begonnen. Da haben die CDU/CSU-Politiker auch mit den Augen gerollt. Aber es wurde gemacht.
- Und dann, ganz wichtig: der sozialdemokratische Justizminister Gustav Heinemann hat mit modernen liberalen Reformen begonnen, mit einem Ehe-und Familienrecht, das den Konservativen in der Union ganz und gar nicht passte.
Es stimmt also nicht, dass man in einer Großen Koalition keine progressive Politik machen könnte. Man muss es allerdings wollen. Und man muss die Vorstellung von der Gestaltung unserer Gesellschaft entwickeln und darf diese nicht aufgeben. Das, der Verzicht auf die Gestaltung unserer Gesellschaft, ist das eigentliche Defizit der SPD. Ich empfehle dem Juso-Vorsitzenden, einen der ersten Beiträge auf den NachDenkSeiten überhaupt aufzusuchen. Dort wurde am 1. Dezember 2003 auf einen Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 27. Mai 2002 verlinkt. Überschrift und Einführungszeile lauten so:
„Sozialdemokraten haben sich als gestaltende Kraft verabschiedet
Es ist höchste Zeit, dass die Linke in Europa endlich wieder eine klare Orientierung bietet. Von Albrecht Müller, Frankfurter Rundschau.“
Das ist vom Mai 2002 und immer noch lesenswert. Der Text bezieht sich nicht nur auf die SPD, sondern auch auf die anderen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in Europa. Schon die damals führenden Sozialdemokraten und Sozialisten haben solche Weckrufe übersehen bzw. übergangen, weil sie nicht mehr überzeugt sind von ihren Werten und Grundpositionen. Weil innerhalb dieser Parteien Kräfte die Macht übernommen haben, die mit den eigentlichen Werten einer linken Volkspartei nicht mehr viel am Hut haben.
Das sind die Probleme und dieses Leiden hat leider auch der Juso-Vorsitzende nicht erkannt, jedenfalls nicht angesprochen. Und deshalb ist seine Einschätzung von der Lage der SPD viel zu optimistisch.