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Titel: NSU: V-Leute haben „männliche Kinder graumelierten Herren aus höheren Kreisen zugeführt“
Datum: 15. Dezember 2017 um 11:10 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Interviews, Rechte Gefahr, Terrorismus
Verantwortlich: Redaktion
Ist der Verfassungsschutz ein Sicherheitsrisiko? Davon geht der Politikwissenschaftler Hajo Funke aus. In einem zweiteiligen Interview mit den NachDenkSeiten analysiert der Rechtsextremismusforscher die Rolle des Verfassungsschutzes im Fall des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) und äußert sich zu anderen Fällen mit Terrorbezug, wie etwa dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback oder dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Ein Interview von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Herr Funke, Sie haben gerade ein Buch mit dem Titel „Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz“ verfasst. Ein ziemlich provokanter Titel, oder?
Nein, einer zur Sache. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat durch einen massiven Einsatz von V-Leuten sehr viel über die NSU-Täter und ihr Umfeld gewusst. Aber bis heute legt das Bundesamt keine Rechenschaft darüber ab, was es wann gewusst hat und wie es die zuständigen Polizeidienststellen informiert hat. Das gilt, wie ich zeige, auch für den Breitscheid-Attentäter Anis Amri. Das Amt will darüber auch keine Rechenschaft ablegen, sondern sich vorbehalten, nötige Informationen weiterzugeben oder auch nicht.
Ein merkwürdiges Verhalten.
Die Gefahr eines Willkürverhaltens entsteht. Wir stehen vor einer Blackbox. Dies zerstört, wie ich aus Gesprächen mit Zuständigen weiß, das Vertrauen auch der kooperierenden Verfassungsschutzämter und vor allem aber der Polizei und erst recht der Öffentlichkeit. Das Kernproblem des Verfassungsschutzes besteht darin, dass es keiner zureichenden demokratischen Kontrolle unterliegt. Mein Plädoyer in dem Buch ist, nicht nur auf einer vernünftigen Fachaufsicht zu bestehen, sondern auf einer parlamentarisch verabredeten unabhängigen Kontroll-Instanz, die jederzeit gleich einem Gericht Zugang zum Amt hat und es kontrollieren kann.
Ihr Buch handelt zu einem großen Teil vom Fall NSU, aber Sie gehen auch auf andere Terroranschläge und Fälle ein, die sich in der Vergangenheit in der Bundesrepublik zugetragen haben. Gibt es so etwas wie ein wiederkehrendes Muster an Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der Arbeit der Ermittlungsbehörden, wenn es um Terroranschläge und terroristische Gruppierungen geht? Anders gesagt: Immer wieder scheint der Verfassungsschutz, also jene Behörde, die doch eigentlich das Land und die Bürger vor Terror schützen sollte, negativ aufzufallen. Wie sehen Sie das?
Ich bin während meiner Studien zu diesem Komplex erstaunt gewesen, wie sich folgendes Muster gleicht: Verfassungsschützer setzen Verbindungsleute oder Gewährsleute aus den jeweiligen Szenen ein und erklären später, wenn sie überhaupt zu einer Erklärung genötigt werden, dass ihnen der oder jener aus dem Ruder gelaufen sei. Danach sind die Verfassungsschützer bestrebt, entweder diese Person zurückzuziehen oder – viel häufiger – die Aktivitäten dieser Person zu verdecken, auch systematisch zu vertuschen oder im schlimmsten Fall fallen zu lassen.
Bevor wir näher auf den NSU eingehen, lassen Sie uns zuerst die grundlegenden Auffälligkeiten näher betrachten. Wie sehen die „blinde Flecken“ in der Arbeit der Ermittlungsbehörden aus?
„Blinde Flecken“ resultieren meines Erachtens daraus, dass man nicht wirksam offen ermittelt, selbst nicht in einem so schwerwiegenden Fall wie der NSU-Terrorserie. Ich glaube, mit anderen, vor allem auch den Nebenklägern im Münchner Prozess, in dem Buch zeigen zu können, wie wiederholt, ja systematisch von dem Ermittlungsansatz – es handele sich um rechtsterroristische Taten – abgesehen wurde, selbst, als dies „die Spatzen von den Dächern pfiffen“. Da ich vom damaligen Präsidenten des Bundeskriminalamts Ende 2011 gebeten wurde, auf der Jahrestagung des BKA zum Rechtsextremismus vorzutragen, traf ich einen angesehenen Beamten des BKA, den ich auf einer internationalen Konferenz kennengelernt hatte, wieder; er teilte mir mit, er habe jahrelang seinen Kollegen in der Nachbarabteilung zugerufen: „Guckt doch mal nach rechts!“ – und nur ein Grinsen geerntet.
Welche blinden Flecken und Problemstellen sind Ihnen bei Ihrer Recherchearbeit noch aufgefallen?
Noch mehr hat mich überrascht, mit wie viel Vorurteilen und Abwertungen die Opfer und ihre Familienangehörigen nach den Morden und Attentaten behandelt wurden. Offenkundig hat sich durch die Einseitigkeit der Ermittlungen die Abwehr gegenüber der türkischen Minderheit noch verstärkt. Ermittler sprachen von einer Mauer des Schweigens und meinten nicht sich, sondern die deutsch-türkischen Familienmitglieder, die sie nach Beteiligung an Morden, Drogengeschäften und Ähnlichem befragten.
Können Sie die grundlegende Problematik einmal an anderen terroristischen Fällen beispielhaft verdeutlichen? Nehmen wir das Oktoberfest-Attentat.
Wie im Fall des Nagelbombenattentats in der Kölner Keupstraße 2004 ein terroristischer Akt strikt verneint wurde, wurde in Windeseile im Fall des Oktoberfestattentats 1980 eine These in die Öffentlichkeit gebracht: Das war der Einzeltäter Gundolf Köhler. Dies, obwohl unmittelbar danach Zeugen beschrieben, dass im unmittelbaren Vorfeld des Attentats mehrere mit dem angeblichen Einzeltäter im Gespräch miteinander waren und sich gestritten haben. Wichtige Asservate wurden vor der Zeit vernichtet – unter anderem eine der Leiche des angeblichen Einzeltäters nicht zugeordnete Hand. Dies alles wurde so sehr unter den Teppich gekehrt, dass sich die Bundesanwaltschaft noch 35 Jahre danach, also vor wenigen Jahren, genötigt sah, die Ermittlungen wiederaufzunehmen und doch nicht ernsthaft genug voranzutreiben.
Wie sieht es mit dem Fall Buback aus?
Der Mord an Siegfried Buback im April 1977 ist durch die ausgezeichneten Recherchen seines Sohnes Michael Buback, die Prozessbeobachtungen von Thomas Moser und die eindrückliche Rekonstruktion der Rolle von Verena Becker durch Wolfgang Kraushaar noch bis in die jüngste Zeit von hoher öffentlicher Aufmerksamkeit. Dass auch hier die Täter nicht einwandfrei festgestellt worden sind, dürfte, so die These des kundigen Michael Buback, auch damit zu tun haben, dass Verena Becker, eine der mutmaßlichen Tatbeteiligten, geheime Informantin des Verfassungsschutzes war. Die Indizien, die Michael Buback zusammengetragen hat, sprechen eindeutig für ihre Tatbeteiligung. Und doch wurden Hinweise in ihre Richtung nicht angemessen bearbeitet, zum Teil unterdrückt. Michael Buback dürfte Recht haben: „Die Einhaltung von schützenden Zusagen wird als höheres Gut eingestuft als die Klärung von Morden.“ Für ihn, Sohn des ermordeten Siegfried Buback, ist diese Erkenntnis schlicht „bitter“. Und sie belegt, dass es keine restlose Aufklärung im Fall Buback gibt, obwohl man dies beteuert hat.
Und aktuell, Stichwort Amri und der Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz?
Das schlimmste Attentat im Auftrag des IS, das in Deutschland durchgeführt wurde und bei dem zwölf Menschen ermordet wurden, hätte definitiv verhindert werden können, wenn Polizei und nationale und internationale Geheimdienste ihren Job gemacht hätten. Stattdessen wurde Anis Amri im Wortsinn laufen gelassen. Noch einmal belegt dies die am 12. Dezember ausgestrahlte rbb-Dokumentation. Anis Amri war mindestens „Nachrichtenmittler“ für verschiedene Nachrichtendienste und wurde offenkundig zur Ausspähung von IS-Komplexen im In- und Ausland systematisch gebraucht. Angesichts der Systematik der Ermittlungsfehler und grob falscher Einschätzungen seiner Gefahr über einen langen Zeitraum hinweg spricht alles dafür, dass verschiedene Geheimdienste von ihrer rechtsstaatlich nicht legitimen „Kompetenz“ Gebrauch gemacht haben, für sich (und andere) die Ermittlungen zu unterbrechen.
Anders ist das plötzliche Desinteresse – verbunden mit der These, er sei nicht mehr gefährlich – nicht zu verstehen. Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum, in dem verschiedene nationale und internationale (!) Geheimdienste im Fall Amri beteiligt waren, hat dies zugelassen, obwohl es einmal zur Prävention gefährlicher Terror-Taten eingesetzt worden ist. Es ist ein beachtliches und beabsichtigtes Desaster – mit unabsehbaren Folgen für die Legitimität des Rechtsstaats und nicht zuletzt für die Re-Traumatisierung der Angehörigen und Opfer des Breitscheidattentats, das am 19.12.2017 ein Jahr her ist. Was wir hier haben, sind Ermittlungsblockaden während der Vorbereitung des Attentats und Vertuschungen danach – wie im NSU-Komplex, nur nicht über 20 Jahre, sondern innerhalb von zwölf Monaten in x-facher Verdichtung.
Aber wir wollten uns in dem Interview vor allem auf den NSU konzentrieren. Waren Sie eigentlich über die Abgründe in dem Fall überrascht?
In der Tat. Ich war überrascht. Und das über die gesamte Zeitstrecke: Ich habe als einfacher Gast an dem ersten und zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestags teilgenommen und war Sachverständiger in sechs Landtagsausschüssen. Bis heute bestürzt mich das Verhalten des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen, als es in den neunziger Jahren den Spitzen-V-Mann des Landesamts Tino Brandt unterstützt hat und ihm absoluten Quellenschutz garantiert hat, obwohl er teils mithilfe dieses Amts die damals bundesweit gefährlichste Gewaltorganisation des Neonazismus, den Thüringer Heimatschutz, aufgebaut hat. Ungehindert, sodass sich dieser Heimatschutz immer weiter radikalisiert hat, bis sich ein Teil entschlossen hat, als nationalsozialistischer Untergrund eine Kette an Morden zu begehen.
Aber es ist nicht nur das Verhalten des Landesamts für Verfassungsschutz in Thüringen, sondern auch das Verhalten des Bundesamts in der entscheidenden Phase der Ausdehnung des Thüringer Heimatschutzes in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre. Trotz der monatelangen Bitten des BKA, V-Leute nicht weiter zu Brandstiftern werden zu lassen, hatte sich das Bundesamt in der „Operation Rennsteig“ zusammen mit den Thüringern entschlossen, noch mehr und systematisch V-Leute anzuwerben und einzusetzen. Auf der Liste der Anzuwerbenden waren übrigens auch Teile des Trios.
Und nun müssen sich Untersuchungsausschüsse des Komplexes annehmen.
Der vielleicht beste Untersuchungsausschuss, der erste Untersuchungsausschuss in Sachen NSU in Thüringen unter der ausgezeichneten Leitung von Dorothea Marx, hat darüber hinaus herausgefunden, dass der Verdacht auf Sabotage zur Auffindung des NSU-Trios zurecht erhoben wird. Dem Landesamt ist es damals gelungen, alle rechtsstaatlichen Kontrollen zu umgehen. Dies ist einer der Gründe für das ungeheure Ausmaß an neonazistischen Netzwerken und ihrer Gewaltbereitschaft gerade in diesem Land – ähnlich in Sachsen. Es zeigt, dass wenn man diese Personen und Strukturen lässt, sie sich ausdehnen und in ihrer Gewaltbereitschaft entgrenzen. Dies einzuhegen, bedarf sehr viel längerer Zeiträume und größerer Anstrengungen, als es zunächst zuzulassen.
Wie sieht es mit dem zweiten Untersuchungsausschuss in Thüringen aus?
Dieser konzentriert sich auf die Verbindungen der Neonazis mit den Gewaltstrukturen der organisierten Kriminalität. Sie sind in der Drogenkriminalität, aber auch im Menschenhandel und in der Kinderprostitution aktiv (gewesen). Da – wie sich gezeigt hat – Neonazis und V-Leute unter anderem männliche Kinder graumelierten Herren aus höheren Kreisen zugeführt haben, muss sogar von politischen Erpressungsstrukturen in dieser Zeit ausgegangen werden. Tino Brandt ist wegen vielfacher Kinderprostitutions-Kriminalität spät verurteilt worden und gegenwärtig in Haft.
Ich möchte aber nochmal auf den Verfassungsschutz eingehen. Hier fällt besonders das Verhalten des Bundesamts zum Schutz des Spitzen-V-Mannes Ralph Marschner, der über lange Jahre an dem Ort gelebt hat, an dem auch das Trio untergetaucht war: in der größeren Kleinstadt Zwickau. Es gibt glaubwürdige Zeugen aus dem zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestages, die belegen, dass dieser Ralph Marschner mit der gegenwärtig angeklagten Beate Zschäpe über einen längeren Zeitraum ein Kuschel-Verhältnis hatte und sie sich hinter seinem Computer getroffen haben. Ralph Marschner ist nie angemessen vernommen worden. Mehr noch: Man hat nie versucht, ihn aus der Schweiz nach Deutschland zu bringen, um ihn angemessen, auch vor dem Münchener Gericht, zu befragen. Die Bundesanwaltschaft hat es gewagt, dies für nicht erheblich zu halten. Das macht den Eindruck einer Vertuschung der Rolle Ralph Marschners durch die oberste Anklagebehörde der Republik.
Ähnlich der Fall Corelli, der unter nicht zureichend geklärten Bedingungen 2014 an einer unerkannten Diabetes mit weniger als 40 Jahren gestorben ist. Corelli war über 20 Jahre eine Spitzenkraft des Bundesamts. Er war so wichtig und die Vertuschungsvermutung so stark, dass sich der erste Untersuchungsausschuss des Bundestages zum NSU-Komplex entschlossen hat, einen eigenen Sonderermittler, den bekannten Staatsanwalt Jerzy Montag, einzusetzen. Sein Bericht von über 330 Seiten wurde um mehr als 90 % geschwärzt, obwohl er selbst erklärt hat, dass seines Erachtens der gesamte Bericht hätte so veröffentlicht werden können.
Diese Politik der Vertuschung wurde nur durch die Entscheidung in Hessen überboten, einen Bericht über den Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz in Hessen Andreas Temme für 120 Jahre weder der Fachöffentlichkeit noch der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Andreas Temme war zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafé in Kassel anwesend.
Lesetipp: Hajo Funke. Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU: das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss. VSA Verlag. Dezember 2017.
Hier geht es weiter zum zweiten Teil des Interviews hier lesen.
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