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Titel: Unsere imperiale Lebensweise – Rezension

Datum: 11. Dezember 2017 um 10:00 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Rezensionen, Verkehrspolitik, Wertedebatte
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„Imperiale Lebensweise“ – so nennen die beiden Politologen Ulrich Brand (Professor an der Universität Wien) und Markus Wissen (Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) den für unsere Gesellschaft typischen Lebensstil. Und so heißt auch ihr Buch, das den Untertitel „Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ hat. Udo Brandes hat es für die NachDenkSeiten gelesen.

Mit dem Begriff „Imperiale Lebensweise“ wollen die Autoren sichtbar machen und ins Bewusstsein rufen, dass wir uns unsere Lebensweise nur leisten können, weil wir deren zerstörerische Folgen für Mensch und Natur „externalisieren“. Das heißt: Wir muten sie anderen Ländern und Gesellschaften zu – und können so die desaströsen Folgen dieser Lebensweise ausblenden. Diese imperiale Lebensweise basiere auf Ungleichheit, Macht und Herrschaft sowie mitunter auch auf Gewalt, die sie gleichzeitig auch hervorbringe.

„Der Kerngedanke des Begriffs ist, dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Naturverhältnisse andernorts ermöglicht wird: über den im Prinzip unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen, die natürlichen Ressourcen und die Senken – also jene Ökosysteme, die mehr von einem bestimmten Stoff aufnehmen, als sie selbst an ihre Umwelt abgeben (wie Regenwälder und Ozeane im Fall von CO2) – im globalen Maßstab“ (S. 43).

Wir selbst verursachen die Flüchtlingsbewegungen

Eine Folge der imperialen Lebensweise seien die weltweiten Flüchtlingsbewegungen. Aber genau dieser Aspekt werde systematisch bei der Flüchtlingsdebatte ausgeblendet. So werde oft der Klimawandel als Fluchtursache behandelt. Tatsächlich seien die Zusammenhänge aber anders:

„Wasserkonflikte – in vielen Teilen der Welt scheinbar die zwangsläufige Folge einer im Zuge des Klimawandels zunehmenden Trockenheit – werden als Resultat der Zerstörung kleinbäuerlicher Produktionsweisen verstehbar, wie sie von agrarindustriellen Unternehmen des globalen Nordens im Einklang mit den Interessen lokaler und nationaler Eliten des globalen Südens betrieben wird. Und als eine Ursache der – mangels anerkannter Fluchtgründe oft als ’illegal’ gebrandmarkten – Migration afrikanischer Kleinbauern nach Europa gerät die EU-Agrar- und Außenhandels in den Blick, die mit dem Export hoch subventionierter Agrarprodukte nach Afrika dortige Märkte und Einkommensmöglichkeiten zerstört“ (S. 12).

Das Konzept der imperialen Lebensweise steht in der Tradition von Antonio Gramsci. Denn die Autoren gehen davon aus, dass sich eine von massiven Interessenskonflikten und Widersprüchen durchzogene Gesellschaftsformation wie die kapitalistische nur erhalten kann, wenn sie im Alltagsverstand verankert ist und als quasi „natürlich“ wahrgenommen wird. Wenn wir es also ganz selbstverständlich hinnehmen und erst gar nicht mehr darüber nachdenken, dass wir uns verschiedenste Konsumgüter nur leisten können, weil sie andernorts auf Basis von Ausbeutung und Umweltschäden produziert wurden.

Klassenkampf mit dem SUV

Beispielhaft wird dies an der Automobilität und insbesondere der enormen Verbreitung sogenannter SUVs (Sport Utility Vehicles), dieser Mischung aus Geländewagen und Limousine, untersucht:

„Im Geländewagen- und SUV-Boom manifestieren sich die imperiale Lebensweise und ihre tendenzielle Verallgemeinerung auf eine besonders anschauliche Weise. SUVs sind äußerst ressourcen- und emissionsintensiv. Sie sind schwerer, haben einen höheren Luftwiderstand, sind meist stärker motorisiert – und verbrauchen daher mindestens 25% Treibstoff mehr als konventionelle Fließ- und Stufenheckfahrzeuge. (….) Aufgrund ihrer Größe nehmen SUVs mehr öffentlichen Raum in Anspruch als andere PKW. Und schließlich ist bei einem Unfall mit SUV-Beteiligung das Risiko, getötet oder schwer verletzt zu werden, für die Insassen eines kleineren PKW deutlich höher als für die Insassen des SUV. Auch für Fußgänger ist das Risiko, bei einem Zusammenstoß mit einem SUV schwer oder lebensbedrohlich verletzt zu werden, höher als bei einem Zusammenstoß mit einen kleinerem Auto“ (S. 126).

Trotzdem würden ausgerechnet soziale Klassen mit höherem Einkommen, die sich durch ein vergleichsweise höheres Umweltbewusstsein auszeichnen, SUV fahren. Wie passt das zusammen?

Die Autoren interpretieren dies als Ausdruck von Konkurrenz und Rücksichtslosigkeitsverhalten, das typisch sei für den sozialen Charakter, der im konkurrenzorientierten Kapitalismus produziert werde:

„Der SUV wirkt aufgrund seiner materialen Eigenschaften verstärkend auf jene von zunehmender Konkurrenz und Rücksichtslosigkeit geprägten sozialen Verhältnisse zurück, deren Produkt er ist. Dies tut er, indem er die ihm entsprechende Subjektivität selbst mit hervorbringt“ (S. 129).

Dies veranschaulichen sie sehr schön mit einem Zitat aus der Reportage des Journalisten Jan Stremmel von der Süddeutschen Zeitung, der einen Selbstversuch mit einem SUV machte:

„Nach zwei Tagen hat der Wagen gewonnen. Ich zimmere die A 9 runter, linke Spur, da schert ein silberner Kombi vor mir ein. In den Rückspiegel gucke ich zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Wer 225 Kilometer pro Stunde fährt, muss nicht mit vielen Überraschungen von hinten rechnen. Aber vor mir mit 150 in die Überholspur ziehen? Ich knurre, obwohl ich nie knurre. Ich ziehe den Hebel für die Lichthupe, obwohl ich nie die Lichthupe betätige. Ich bin ein rücksichtsloser Arsch. Das Auto hat gesiegt“ (S. 129-139).

Je schneller desto weniger Zeit

Das Paradoxe an solchen Entwicklungen liege darin, dass die Möglichkeit, Entfernungen schneller zu überbrücken, keineswegs einen Gewinn an Zeit und Lebensqualität bedeuten würde. Dies belegen die Autoren mit einer zwar veralteten Studie von Ivan Illich aus dem Jahre 1975. Aber die dort genannten Relationen dürften nach wie vor zutreffen oder heute sogar noch schlimmer ausfallen:

„Der typische amerikanische Mann wendet 1600 Stunden auf, um sich 7500 Meilen fortzubewegen: Das sind weniger als fünf Meilen pro Stunde. In Ländern, in denen eine Transportindustrie fehlt, schaffen die Menschen dieselbe Geschwindigkeit und bewegen sich dabei, wohin sie wollen – und sie wenden für den Verkehr nicht 28 Prozent, sondern nur 3 bis 8 Prozent ihres gesellschaftlichen Zeitbudgets auf“ (S. 135).

Die Autoren ziehen aus solchen und anderen Beispielen und Daten folgendes Resümee:

„Ab einem bestimmten Punkt lässt sich die zeitraubende Geschwindigkeit nur noch unter Potenzierung der Unfallgefahren erhöhen. Der Wettbewerb nimmt dann andere Formen an: Höher gelegte, panzergleiche Fahrzeuge befriedigen das Sicherheitsbedürfnis ihrer Insassen. Im selben Maße, wie sie spielende Kinder, FußgängerInnen, RadfahrerInnen und die Insassen von Kleinwagen gefährden. Und neben der Höchstgeschwindigkeit wird die technische Ausstattung zur Statusfrage, an der sich entscheidet, wer den Zeitverlust in einem (unfallbedingtem) Stau am komfortabelsten gestalten kann“ (S. 136).

Daran zeige sich ein wichtiges Merkmal der Massenautomobilität: Über sie, die Massenautomobilität, sickerten die kapitalistischen Prinzipien der Konkurrenz und Nutzenmaximierung in die Poren des Alltags ein.

„Der Massenautomobilismus ist die Konkretisierung eines vollständigen Triumphs der bürgerlichen Ideologie auf die Ebene der Alltagspraxis: er begründet und erhält die trügerische Vorstellung, dass sich jedes Individuum auf Kosten aller mehr Geltung verschaffen und bereichern kann“ (S. 136).

Grüner Kapitalismus ist auch keine Lösung

Was also tun? Wie sieht die Alternative zur imperialen Lebensweise aus? Im sogenannten Grünen Kapitalismus sehen die Autoren keine Lösung des Problems:

„Wichtige Annahmen des Leitbildes und der Strategien hin zu einer grünen Ökonomie lauten: Die eigentlichen Innovationen gehen vom ‚Markt’ aus, der eben nur den richtigen Ordnungsrahmen benötigt. Der Staat setzt die Regeln für den als effizient angenommenen Markt und agiert gegen dessen schlimmste Auswüchse oder Krisen, das ‚Marktversagen’. Explizit oder implizit wird dabei davon ausgegangen, dass die für nötig befundene absolute Reduktion des Ressourcenverbrauchs und der Senkenbelastung (Senken sind beipielsweise Regenwälder, die global CO2-Belastungen kompensieren; U.B.) machbar sei, ohne die imperiale Lebensweise, die politische Ökonomie des Kapitalismus und die sie tragenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse infrage zu stellen (S. 149). (….) Fakt aber ist, dass es sich bei der Annahme, unter kapitalistischen Verhältnissen sei eine Entkoppelung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch denkbar, um eine mehr als kühne Hoffnung handelt“ (S. 152).

Ein Beispiel dafür sei die aktuelle Debatte um die ökologische Modernisierung des Autofahrens mit Elektroantrieb:

„Zunächst fällt auf, dass die Debatte über Elektromobilität gleich zwei wichtige Verkürzungen aufweist. Erstens wird Elektromobilität auf Elektroautomobilität reduziert, während etwa die Zurückdrängung des MIV (= Motorisierter Individualverkehr; U.B.) zugunsten von kollektiven Formen der Elektromobilität wie Straßenbahnen oder Elektrobussen, wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zweitens werden zwar die ökologischen Vorteile betont, den der Betrieb von Elektroautos gegenüber dem von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor bietet. Die ökologischen Kosten ihrer Herstellung bleiben jedoch unterbelichtet“ (S. 143).

Diese Schieflage habe bereits die Abwrackprämie gekennzeichnet, mit der die Bundesregierung in der jüngsten Wirtschaftskrise die Autoindustrie stützte.

„Hier ging es darum, ein altes gegen ein verbrauchsärmeres und damit im Betrieb ökoeffizienteres neues Auto einzutauschen. Ökologie und Ökonomie , so wurde suggeriert, würden davon gleichermaßen profitieren. Die Frage, welcher Material- und Energieaufwand dadurch für die Herstellung von Autos betrieben wurde, die eigentlich keiner brauchte, weil die zu ersetzenden es vermutlich zum größten Teil auch noch taten, wurde nicht gestellt“ (S. 143).

Bei einer flächendeckenden Umstellung des Autoverkehrs auf Elektromobilität könne im Übrigen die Verfügbarkeit einiger Metalle wie Platin und Kupfer zum Problem werden. Und beim dafür benötigten Lithium sei das Problem, dass der Lithiumabbau mit gravierenden ökologischen Konsequenzen in den betroffenen Regionen verbunden sei. Eine Mobilitätswende, die vor allem auf die Senkung von CO2-Emissionen abziele, und nicht gleichzeitig auch die stofflichen Dimensionen der Elektromobilität problematisiere, bedeute also, dass sich die überproportionale Inanspruchnahme von Material und Energie seitens weniger Begünstigter fortsetze:

„Die imperiale Lebensweise wird dadurch gerade nicht überwunden, sondern durch eine Veränderung ihrer energetischen und materialbezogenen Grundlage perpetuiert“ (S. 145).

Was also ist die konkrete Schlussfolgerung der Autoren? Was muss grundsätzlich, nicht nur in Bezug auf Automobilität in unserer Gesellschaft verändert werden und wie anders gemacht werden? Und hier liegt meines Erachtens eine Schwäche des Buches: Mir fehlen ganz konkrete, klare Aussagen, was anders gemacht, verändert werden muss. Hier bleiben die Autoren mir zu sehr in abstrakten Beschreibungen wie der folgenden stecken:

„Eine solidarische Lebensweise muss also die grundlegende Verletzlichkeit des menschlichen und außermenschlichen Lebens anerkennen und Formen des Zusammenlebens schaffen, die nicht auf Prekarisierung vieler oder auch nur einiger Menschen und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse beruhen“ (S. 179).

Trotzdem bin ich der Meinung, dass dieses Buch wert ist gelesen zu werden. Es enthält eine Fülle interessanter Informationen, Ideen und Sichtweisen. Allein schon der Begriff der „imperialen Lebensweise“ ist ein interessanter Beitrag zur politischen Debatte, weil er in der Tat sichtbar macht und ins Bewusstsein rückt, dass wir uns nur auf Kosten anderer Gesellschaften und Länder unseren Lebensstil leisten können. Und dass die vielen Flüchtlinge, die jetzt vor Europas Toren stehen und nach Einlass begehren, in direktem Zusammenhang mit unserer imperialen Lebensweise stehen. Dass wir also nicht weitermachen können wie bisher, sondern dass wir grundlegende Fragen stellen müssen. Und zwar auch in Bezug auf Eigentumsverhältnisse und die Profitlogik, die immer mehr gesellschaftliche Bereiche prägt. Deshalb finde ich es schade, dass die Autoren ihre wertvollen Inhalte in einer oft schwerfälligen akademischen Sprache präsentieren. Dem Buch hätte es gut getan, wenn es etwas populärer und unwissenschaftlicher formuliert worden wäre. Denn seine Inhalte sind es wert, ein großes Publikum zu finden.

Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise, Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Kapitalismus; Oekom-Verlag, München 2017, 3. Auflage, 14,95 Euro.

Nachtrag zu meiner Rezension des Buches „Imperiale Lebensweise“ von Ulrich Brand und Markus Wissen
Über meine Rezension kam es redaktionsintern zu einer Diskussion. Dabei musste ich feststellen, dass ich einige Fragen aus der Redaktion nur stockend beantworten konnte, obwohl ich das oben genannte Buch gründlich gelesen habe. Die inhaltlichen Punkte will ich hier jetzt nicht näher ausführen, weil dies zu weit führen würde. Aber mir ist beim Nachdenken darüber klar geworden, warum mir dies so schwer fiel. Der Grund dafür ist etwas, das ich in meiner Rezension schon angesprochen habe, aber noch ziemlich milde formuliert hatte: Eine aufgeblähte, abstrakte und schwafelige Sprache, die es sehr schwierig macht, den Text zu verstehen und zu erfassen. Leider kann man so eine Sprache häufig in Büchern von Soziologen und Politologen finden. Und im Nachhinein denke ich: Das hätte ich noch pointierter in meiner Rezension kritisieren sollen. Denn eine solche Sprache ist eine Zumutung für den Leser und hat mehr mit akademischer Selbstbeweihräucherung als mit wissenschaftlicher Notwendigkeit zu tun. Und sie steht dem Anliegen des Buches, Anstöße für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu liefern, im Wege. Wer etwas bewegen will, der muss sich einfach und klar ausdrücken. Und daran fehlt es mir in dem Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen.

Udo Brandes


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